Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zur Entwicklung des Romans

(1913)

Unser Roman hat sich bekanntlich gebildet aus den Prosaauflösungen alter Ritterepen, die man zutreffend als Versromane bezeichnet hat. Diese alten Versromane waren bereits Gebilde zweiter Hand; sie waren entstanden durch mehr oder weniger äußerliche Zusammenstellung von einzelnen Erzählungen, die entweder schon vorher als Balladen ein selbständiges künstlerisches Leben geführt oder als Märchen und Sagen von Mund zu Mund gegangen waren, oder in Nachbildung solcher vorhandenen Geschichten gemacht wurden. Als Beispiel mag man den besonders gut gebauten Roman von Tristan und Isolde annehmen. Man unterscheidet noch genau die einzelnen unzusammenhängenden, einander zuweilen widersprechenden Balladen über die Liebesabenteuer, in denen Tristan, Isolde und Marke ihre Rollen spielen; man sieht, wie manches nicht ganz organisch verbunden ist, das vielleicht ursprünglich einen anderen Helden betraf, vielleicht einen anderen Helden mit zufällig demselben Namen: die Geschichte, wie Tristan zu Marke kommt, die Geschichte mit Morholt von Island u. a. Der erste Erzähler Beroul schmiedet aus den einzelnen Teilen als Dichter sein Werk, spätere Dichter überarbeiten es, endlich kommt die Prosafassung. Es handelt sich im Grunde um eine Aufeinanderfolge von dichterisch merkwürdigen Erzählungen, in denen von der verschollenen alten Form der Ballade noch so viel dramatisches Leben ist, daß neben der lyrischen Anteilnahme am Einzelvorgang noch eine Gesamtspannung stärkerer oder geringerer Art übrigbleibt.

Dieses dichterische Gebilde zweiter Hand sucht sich nun zu einer dichterischen

Form zu entwickeln. Das kann es aber nur, wenn eine Zeit kommt, die dafür günstige Bedingungen in der allgemeinen Betrachtung der Welt schafft.

Wie der Prosaroman mit dem Bürgertum ursprünglich entstanden ist, mit dem Leser auf seiner stillen Stube und der Buchdruckerkunst, so findet er auch für seine Weiterbildung zur Kunstform die geistigen Voraussetzungen in der Weltauffassung des entwickelten Bürgertums.

Die ritterliche Gesellschaft war eine nach ihrer Natur unorganische Gesellschaft; sie umfaßte nur die zwei höheren Stände und beachtete nicht die anderen, die für das Dasein der höheren Stände ja doch nötig waren; sie wußte nicht, daß ein Volk eine Einheit bildet, in welcher der Bettler mit dem König durch die engsten Bande verknüpft ist. Die bürgerliche Gesellschaft hatte von Natur die Neigung, das gesamte Volk zu umfassen; denn alle Bestrebungen nach Ausschließlichkeit einer herrschenden Schicht mußten daran scheitern, daß das Bürgertum sich nicht als Kaste abgrenzen kann. Es entwickelt sich eine neue Wissenschaft, die Soziologie, zunächst noch formlos und ohne Zucht, und ebenso zunächst noch formlos und ohne Zucht kündet sich der neue Roman an, in dem man nicht eine Form sucht, sondern etwas Inhaltliches.

Balzac ist der erste bewußte Vertreter des neuen Romans, der erste auch, der die enge Verbindung des Romans mit der Soziologie sucht und sein Dichten als eine Art Wissenschaftsbetrieb auffaßt. Man muß ja wohl, wenn man die Dinge klarmachen will, den volkstümlichen Gegensatz von Form und Inhalt beibehalten. Die Geschichte des neuen Romans wäre dann also aufzufassen als das Suchen der neuen Inhalte nach der ihnen angemessenen Form. Die neuen Inhalte aber, das sind nicht etwa nur neue Tatsachen: es ist eine neue Empfindung, ein neues Weltgefühl; die Menschen fühlen ihre Abhängigkeit voneinander, von den Verhältnissen, von der Vergangenheit, von der Natur; die Dichter sehen nicht mehr einzelne selbständige Herrennaturen, die rein aus sich heraus wirken, sondern sie sehen ein ungeheures Netz, in dem alles verknotet ist; Menschen und Dinge; sie sehen nicht mehr logische Ursächlichkeit, sondern psychologische, zuletzt physiologische.

Es kommt hier nicht darauf an, ob diese Weltauffassung richtig ist oder nicht; sie ist vorhanden und für den größten Teil der heutigen Menschheit herrschend geworden. Es scheint, daß eine neue Betrachtung der Dinge sich anbahnt, die einem neuen Drang der Menschheit entspricht, die auch die bürgerliche Gesellschaft verneint und in ihrer beginnenden Auflösung die Grundlagen einer neuen Bildung ahnt. Der Mensch will wieder frei werden, und Dichter wie Tolstoi, Dostojewski, Ibsen suchen hier jeder in seiner Art, sich selbst unklar und oft über ihre notwendige Unklarheit, ihren selbstverständlichen Gegensatz zu der herrschenden bürgerlichen Gesellschaft verzweifelt. Mir scheint, daß das, was hier erstrebt wurde, sich einmal in einem neuen Drama ausdrücken wird. Aber von diesem, dem Neuen, wollen wir nicht sprechen: wir wollen der Entwicklung des Andern folgen.

Man weiß, wie Zola bewußter noch als Balzac und deshalb dichterisch unzulänglicher das Ziel des »wissenschaftlichen Romans« verfolgt hat. Man weiß auch, woran er scheiterte. Er wollte die gesamte Gesellschaft in einer Reihe von Romanen darstellen, indem er ein großes Epos schuf, dessen einzelne Episoden die verschiedenen Romanbände waren. Aber der Stoff ist zu umfangreich, als daß ihn ein Dichter dichterisch beherrschen könnte, nämlich alles in sich selber lebendig haben und aus seinem eigenen Innern herausstellen. Er kann nur äußerlich beobachten und Dinge erzählen, die er mit den Augen gesehen hat; aus dem Dichter ist ein Berichterstatter geworden. So hat Zola die Idee des bürgerlichen Romans zu ihrer eigenen Verneinung geführt, soweit es eine nicht künstlerische, sondern inhaltliche Idee war.

Aber wie nun, wenn es der Dichtung gelänge, aus dem Inhalt eine Form zu entwickeln?

Es ist soeben in deutscher Übersetzung der Roman eines bei uns bis jetzt noch unbekannten polnischen Dichters erschienen: »Die polnischen Bauern« von W. S. Reymont. Mich wird gewiß niemand im Verdacht haben, daß ich eine Vorliebe für die Art Reymonts habe; denn ich gehe in meinen eigenen Arbeiten von ganz anderen Vorbedingungen zu ganz anderen Zielen. Desto gewichtiger muß es sein, wenn ich erzählen kann, daß ich von diesem neuen Dichter den allerstärksten Eindruck gehabt habe, daß ich oft beim Lesen zu mir selber sagen mußte wie glücklich wäre ich, wenn ich in meiner Art so Schönes und Vollkommenes schaffen könnte wie dieser Mann in seiner! Das Einordnen der Künstler ist ja eine große Torheit; man muß es tun, um der Allgemeinheit irgendeine Vorstellung von dem Wert eines Mannes zu geben. Nun, dieser Reymont hat die Beschaffenheit der bedeutenden Dichter des vorigen Geschlechts, neben die wir Heutigen, wenn wir etwa Pontoppidan ausnehmen, ja niemand zu setzen haben.

Wie die Einleitung des Buches berichtet, ist der Dichter als Sohn eines dem Bauernstand entstammenden Dorforganisten in der Welt aufgewachsen, die er darstellt: nicht als bloßer Zuschauer, sondern als ein in ihrer Mitte Lebender. Dadurch hat er das gesamte Leben des Dorfes als dichterisches Eigentum erhalten. Selbst ein Jeremias Gotthelf erscheint neben ihm als ein Außenstehender und bloßer Beobachter. Gleichzeitig ist aber in ihm auch Instinkt geworden die bürgerliche soziologische Betrachtungsweise von Menschen und Dingen, die gegenseitige Abhängigkeit, das Fluten der Erscheinungen in allgemeinen Beziehungen, die Auflösung der scharfen Umrisse der Charaktere in Wirkung und Gegenwirkung, kurz alles, was in der Erzählung dem aus gleichen Ursachen entstandenen neuen Wollen der Maler entspricht. Er hatte das Glück, daß diese seine Welt, die in ihm lebte, in sich fast abgeschlossen war, daß nur wenige Fäden nach außen liefen.

Die merkwürdige Widersprüchlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft macht sich auch in der bürgerlichen Kunst bemerkbar: diejenigen Dichter, die den klarsten Blick über sie haben und begrifflich ihr Getriebe kennen, vermögen nicht, sie darzustellen; denn sie ist durch ihre Vielfältigkeit undarstellbar, und dadurch gelingt ihnen der neue Roman nicht. Nun kommt ein Mann, der nur eine eigentlich vorbürgerliche Gesellschaftsordnung kennt, und indem er diese dichterisch darstellt, befriedigt er einen künstlerischen Trieb der bürgerlichen Gesellschaft. Aber freilich, bei den Ritterromanen war der Vorgang ja ähnlich: nicht die wirkliche feudale Gesellschaft wird in ihnen dargestellt, sondern ein aus Teilen der mißverstandenen vorfeudalen Zeit sich entwickelndes Wunschbild der feudalen Gesellschaft.

Es ist schon gesagt, daß in dem Roman Reymonts der Inhalt Form geworden ist. Die Geschichte des Romans scheint ja völlig wirr zu sein, es wird nach dieser Richtung Form gesucht und nach jener; so ist es denn schwer, etwas Festes da mit wenigen Worten zu bezeichnen. Form in der Kunst ist auch immer etwas Neues, das aus sich selbst verstanden werden muß, nicht durch allgemeine Regeln oder durch Ähnlichkeit mit anderen Formen; sie ist ja doch das Wesen der Kunst selber. Deshalb soll versucht werden, den allgemeinen Kunstwillen aufzuzeigen, der hier zum Ausdruck drangt.

Man denke an einen breiten, ruhig fließenden Strom, der bestimmt ist durch den allgemeinen Fall des Geländes, die Beschaffenheit des Grundes, der Ufer, durch die Wassermenge, die aus dem Stromgebiet zur Verfügung steht. Eine Unruhe kommt in dieses ruhige Fließen, runde Felsen ragen plötzlich aus dem Grund, das Wasser bricht sich, Strudel entstehen, Schaum sprüht, die allgemeine Bewegung wird schneller. Dann wird wieder alles ruhig, still wie vorher gleiten die ungeheuren Wassermassen in ihren Ufern dahin. Wer würde auf den Gedanken kommen, daß ein Atom des Wassers, eine einzelne Welle einen besonderen Willen, ein eigenes Ziel haben könnte? Alles bewegt sich mit Allem, durch Alles; auch jene plötzliche Unruhe war nichts Eigenes und Neues, sie war ebenso notwendig bestimmt, vorgeschrieben und unabänderlich. Man erzählt, daß ein solcher großer Strom in der Einsamkeit des Waldes auf den Anwohner, der lange Stunden auf das Ziehen und Treiben der Wasser sieht, einen unheimlichen, verwirrenden Einfluß haben soll, daß alle seine Gefühle sich ändern, daß er mit unter den Zwang dieses ewig rinnenden und gleitenden Wassers gerät.

Das ist der Kunstwille, der hinter diesem Roman steht, ein Wille, zu dem der slawische Mensch, die slawische Landschaft ja eine Veranlagung zu haben scheinen. Wie war es nur möglich, daß ein cholerisch-sanguinisches Temperament wie Balzac sich an die Darstellung eines solchen Flusses machen konnte; er erzählt uns ja auch lauter Romantik: die Romantik des gesellschaftlichen Strebers, des Geizhalses, der liebenden Frau, immer nur Romantik, Leidenschaft, die aus dem Innern der Menschen kommt und aus dem bürgerlichen Leben eine Reihe von Ausbrüchen schafft, aus dem Strom eine Reihe von Wasserfällen.

Nur das schwermütige Temperament eines Slawen ist einer solchen Aufgabe gewachsen.

Wie fürchterlich, wie entsetzlich ist dieses Weltbild! Welche hoffnungslose Schwermut setzt es voraus! Wie? Ist das die Welt, dieser träge, lehmige, sich wälzende Strom, sind das die Menschen, diese auftauchenden, niedergehenden, gleichmäßigen Wellen? Aber wie? Wenn wir das wunderbare Werk lesen, wenn wir geduldig Stunde für Stunde die Wogen vorbeiziehen sehen, dann kommt das über uns, was die Kunst schafft, wir erleben die Schönheit. Was ist denn das, was erzählt wird? Schmutzige polnische Bauern, rohe Trinkgelage, Schimpfworte, Kot der Dorfstraße, das Kläffen der Dorfhunde, tierische Sinnlichkeit, Habgier, Selbstsucht, Beschränktheit, Ungeziefer – von solchen Dingen wird allein erzählt, und doch ist das Ganze von einer wunderbaren Schönheit, es ist von der Schönheit des vollendeten Kunstwerkes, bei dem man das Stoffliche längst vergessen, den unmittelbaren Empfindungseindruck allmählich überwunden hat und nur noch die reine Heiterkeit der freien und leicht in der Luft schwebenden Kunst fühlt.


 << zurück weiter >>