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Die Religion des Philisters

(1912)

Man soll den gesunden Menschenverstand nicht unterschätzen. Er ist durchaus notwendig und kommt nicht so häufig vor, wie man gewöhnlich annimmt. Die heutigen Lebensverhältnisse, welche die Menschen voneinander absondern und in Bedingungen leben lassen, welche von den letzten materiellen Gründen des Lebens allzu weit entfernt sind, beanlagen offenbar zu einer gewissen Albernheit, der eine Verbesserung durch den platten Wirklichkeitssinn immer guttun wird. Die Engländer, welche am längsten in diesen Zuständen der neuzeitlichen Zivilisation gelebt und das künstlichste Gesellschaftsgebäude in ihr errichtet haben, brauchen diese Verbesserung offenbar besonders notwendig. Was man seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in England geistreich zu nennen pflegt, ist weiter nichts als ein Aufruhr des gesunden Menschenverstandes gegen die Narrheiten unnatürlicher und verlogener Lebensformen; er ist sicher sehr nützlich und sehr gut innerhalb seines Kreises; aber ebenso schädlich wie eine Unterschätzung der Plattheit ist ihre Überschätzung, die man ihr besonders bei uns in Deutschland zuteil werden läßt, wenn sie sich als »Esprit« verkleidet.

Da der liederliche Philister geistig wohl immer tiefer stehen wird als der ehrenhafte, so kann man die Natur des englischen Esprit besser bei Wilde durchschauen als bei Shaw. Der Vorgang ist etwa so: in einer Gesellschaft, wo die alte Jungfer den Ton angibt, wird man immer die Verwandtschaft überschätzen; die alte Jungfer kann sich seelisch nur als Tante betätigen; diese Betätigung ist in der Natur nicht vorgesehen, führt deshalb unbedingt zu Albernheiten; der verständige Mensch wird die Scherereien beklagen, welche ihm diese überflüssige Liebe verursacht, und versuchen, sich ihr möglichst geräuschlos zu entziehen. Diese Gesinnung, welche man ja billigen wird, aber doch nicht für überwältigend tief oder neu halten kann, erscheint bei Wilde in einer Fassung, daß der bewundernde Deutsche sich einbildet, das Unerhörteste an Weisheit zu erfahren, was es gibt; Wilde sagt etwa: »Verwandte sind unbequeme Menschen, sie bekümmern sich immer um Dinge, welche sie nichts angehen.«

Solange die Plattheit in dieser Weise gesellschaftliche Albernheiten verbessert, können wir sie ja ruhig aus England einführen; aber es droht heute von diesem Punkt aus eine Gefahr, die man noch rechtzeitig ankündigen muß.

Der englische Esprit wirft sich nämlich seit einiger Zeit auf die Religion.

Es braucht ja nicht jeder Religion zu haben; wenige sind auserwählt; es brauchen auch nicht alle Völker religiöse Veranlagung zu besitzen. Die Engländer mit ihrem gänzlichen Mangel an jenseitigem Sinn haben es ja doch für ihre Verhältnisse ganz weit gebracht, sie waren bis vor kurzem ganz zufrieden, so zufrieden, daß sie den oft so wenig scharfsichtigen Deutschen auch hier weismachen konnten, daß sie es weitergebracht haben als wir.

Eine Sehnsucht nach Religion geht heute durch die gesamte Kulturmenschheit; woher sie stammt, was sie bedeutet, das wird uns wohl ewig unklar bleiben; in diesen Dingen ruhen die letzten Geheimnisse des Lebens der Menschheit, des Aufgehens und Niedergehens der Völker und Gesittungen. Gewiß ist das geistige Leben im heutigen Deutschland auf einem recht traurigen Tiefstand angelangt; aber dennoch, wer auf die kleinen Zeichen achtet, der kann sich der Ansicht nicht verschließen, daß gerade bei uns neue religiöse Kräfte aus den Tiefen des Volkslebens ans Tageslicht steigen wollen, und daß die Nation, welche seit dem Mittelalter die tiefsten religiösen Männer erzeugt hat, der Welt wieder ein neues religiöses Leben schenken kann.

Unserer kirchlichen Religiosität hat das englische Beispiel genug geschadet; die kirchliche Religiosität bedeutet ja nicht viel im Verhältnis zur eigentlichen Religion, und wo in diesen Dingen überhaupt Schaden gestiftet werden kann, da ist eben etwas nicht in Ordnung; immerhin, bei der Auslandsvergötterung der Deutschen wäre es gut, wenn man die heutige englische Espritreligion rechtzeitig erkennen wollte als das, was sie ist: als ein braves und ehrliches Philistertum, das keine Ahnung davon hat – eben als Philistertum –, daß vor, hinter, neben, über und unter den Philistern noch Welten sind, daß der Philister nicht das Maß der Dinge ist, auch nicht der Zweck der Schöpfung, und daß Religion etwas ist, das der Philister nie haben kann.

Shaw ist bekannt als ein Mann, welcher geistreiche Unterhaltungsstücke schreibt, die dem Durchschnittsmenschen sehr skeptisch scheinen, und der sich mit hoffentlich verständigen sozialpolitischen Dingen in Tat und Gedanken beschäftigt. Er hat nun eine Rede über die Religion gehalten, in der er etwa sagt: »Ich bin ein anständiger Mensch. Jeder anständige Mensch ist ein anständiger Mensch. Man kann ein anständiger Mansch sein, wenn man Atheist ist, und man kann es sein, wenn man Christ ist« (man ahnt bei uns kaum, welchen geistigen Tiefstand diese englischen Worte Atheist und Christ ankünden). »Anständigkeit ist nämlich gleich Religion. Die meisten heutigen Christen haben gar keine Religion. Religion hat, wer sich als das Werkzeug irgendeines Zweckes im Weltall erkennt, nämlich der Entwicklung von Ordnung, Kraft und Leben. Das Wunder der Schöpfung dauert immer noch an. 11m sich zu erfüllen, braucht die schaffende Macht Augen, Hände und Hirne. Das sind wir. Durch uns tut sie ihr Werk. Wer dies begreift, hat Religion. Der Zweck des Lebens ist, dem Zweck des Weltalls zu dienen. Immer höher sich entwickelnd muß der Mansch zum Übermenschen werden, dieser zum Überübermenschen und so weiter. Die Entwicklung muß auf ihrem unendlichen Weg einmal ein Wesen schaffen, das stark und weise sein wird, fähig, das ganze Weltall zu begreifen und seinen Willen auszuführen, mit anderen Worten: einen allmächtigen und allgütigen Gott.«

In der Rede sind zwei Gedankengänge zu unterscheiden:

Erstens die Gleichsetzung von Religion und Anständigkeit: »Jeder Gentleman hat Religion. Er hält daran fest, daß es gewisse Dinge gibt, die er tun, und andere, die er lassen muß, ganz unbekümmert um die Folgen für ihn. Einen solchen Mann kann man einen frommen Mann nennen oder auch einen Gentleman. Ein Gentleman ist ein Mann, der für sich ein anständiges Leben verlangt, worin er seine Fähigkeiten entfalten kann, der dafür bereit ist, alles, was er kann, für sein Land zu tun, und der den Gedanken verachtet, für das, was er tut, bezahlt zu werden.«

Zweitens die Gleichsetzung von Religion und Empfindung seines Selbst als Werkzeuges für einen Zweck im Weltall, der scheinbar das Schaffen eines Gottes aus der höher zu entwickelnden Menschheit sein soll.

Was Shaw mit dem Ersten meint, das ist noch nicht einmal das Sittliche, das ist das einfach Moralische, das mit der Religion nicht das Geringste zu tun hat. Man vergleiche seine Beschreibung mit dem Pharisäer, dessen Urbild uns das Neue Testament so schön schildert, und man wird finden, daß sie paßt, wenn man von kleinen nationalen Unterschieden absieht. Die Pharisäer waren ja doch keine schlechten Menschen; sie waren eben nur die anständigen und ehrsamen Philister ihrer Zeit, gegen die Christus ja auch nichts weiter sagt als das Eine, daß der Philister nun einmal keine Religion hat, indem er sich einbildet, seine kleinliche Moral sei Religion, genau ebenso wie Shaw. Ein Freund erzählte mir einmal, er habe einer Heilsarmeeversammlung beigewohnt, und nach Schluß, spät in der Nacht, sei er mit seinem Banknachbarn, einem früheren Offizier, durch die Straßen gegangen und habe alles mit ihm besprochen. Zuletzt, als sie sich trennten, indem der Andere sich auf den letzten Nachtomnibus schwang, habe der ihm zugerufen: »Ich werde zu Gott beten, daß er Sie in furchtbare Sünden fallen läßt, damit Sie zum Glauben an ihn kommen. Sie sind zu moralisch.« Dieser Mann, der trotz seiner Bildung das Geschwätz der Heilsarmeeversammlungen anhörte, wußte, was Religion ist, mein Freund ahnte es wenigstens; Shaw ist aber so entfernt von ihr, wie es ein Pharisäer nur sein kann.

Das Zweite hat schon eine gewisse Beziehung zur Religion, aber so wie Shaw es empfindet, ist es auch nur ehrbares Bürgertum mit neuzeitlicher Bildung und Idealismus – für einen Menschen, der nur einigen Geschmack hat, so ziemlich das Greulichste, das er sich denken kann.

Man kann sich vielleicht so ausdrücken, daß das, was das gequälte Herz von Gott erfleht, ein Zweck des Lebens in dieser scheinbaren allgemeinen Sinnlosigkeit ist. Aber der Fromme – der eben ein Skeptiker ist und ein weiser Mann – läßt diesen Zweck dann ganz in Gott ruhen, er ist nicht so unbescheiden, daß er ihn schwarz auf weiß haben will: das ist ja eben seine Religion, daß er die Zuversicht der Zweckmäßigkeit seines Lebens bekommt, auch ohne verstandesmäßige Aufklärungen, durch ein Gnadengeschenk, eine Empfindung, ein Einswerden mit Gott, die Wiedergeburt oder wie man nun sonst diesen Zustand nennen möge. Der vorwitzige Shaw aber kennt aus der Wissenschaft – wenn in diesem Fall auch nicht gerade aus der allerneuesten, sondern aus der von gestern – seinen Zweck ganz genau und deutlich, in einer Art von volkstümlichem Darwinismus, nach welcher sich der Mensch Mühe zu geben hat, allmählich zu Gott zu werden, wie seine braven Vorfahren sich zu ihrer Zeit bemüht haben, es aus der Urzelle bis zum Menschen zu bringen.

Diese kindliche Zuversicht ist wohl das Allerentgegengesetzteste der Religion, wie der Gentleman der größte Gegensatz gegen den Frommen ist: aber sie ist der treffendste Seelenausdruck des freudigen Philisters,der sich ja von dem Bewußtsein, wie herrlich weit er es bis jetzt gebracht, erholt in der Hoffnung, wie herrlich weit er es noch bringen wird.

Die ganz einfachen Gemüter halten Shaw für eine Art Hanswurst (vielleicht haben sie in ihrem dunklen Drange nicht so ganz unrecht); Feingeistigere glauben, daß er ein gefährlicher Denker ist, und die ganz Feingeistigen finden ihn einen edlen Weisen. Es wäre wunderbar, wenn die Anerkennung, welche in diesen Urteilen liegt, Herrn Shaw nicht noch weiter treiben würde auf seiner Bahn zum Übermenschen, denn eins ist jedenfalls sicher: was ihn bewegt, das ist eine übermenschliche Eitelkeit.


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