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Das Geschichtslose

(1913)

Die heutige Menschheit lebt in der Vorstellung einer allgemeinen Entwicklung, von der sie annimmt, daß sie immer vom Niedern zum Höhern geht; auf Grund dieser Vorstellung reiht sie die ihr wichtigen Erscheinungen, die in den verschiedenen Zeiten ein verschiedenes Gesicht hatten, in einem Zusammenhang auf und erhält dadurch eine Geschichte dieser Erscheinungen. Für diese Geschichte sucht sie dann Gesetze, die in ihr wirksam sein müssen.

Diese geschichtliche Betrachtung hat nun ihre sehr großen Bedenken, sobald sie auf die höchsten Dinge der Menschheit angewendet wird, denn es entsteht dann leicht eine Überschätzung des Teiles der Erscheinungen, der sich in den Zeiten ändert, und eine Unterschätzung, ja ein Übersehen des Unveränderlichen, des jenseits aller Geschichte Liegenden, das denn doch das eigentlich Wichtige ist.

Man spricht zum Beispiel von einer Religionsgeschichte und ordnet da, so gut es gehen will, die verschiedenen geschichtlichen Religionen nacheinander. Wenn man dann aber die selbständig Frommen aller Zeiten liest, so findet man, daß sie durch alle Jahrtausende und alle Nationen und Rassen hindurch immer dasselbe gesagt haben, und erst die Männer zweiter Hand, vor allem die Stifter der Religionen und Kirchen, bringen die Unterschiede. Die Menschen erster Hand sind wohl meistens dem Handeln und Wirken abgeneigt, so urteilen sie denn auch wenig; aber man kann fast immer bei ihnen spüren, daß sie Gegner der andern sind, daß sie das geschichtliche Gewand für eine Verfälschung des reinen Körpers halten. In sehr tiefer Weise hat ein persischer Dichter das dargestellt:

»Wenn Absolutes wird zum Einzelleben,
Mußt Namen du, wie Ich und Du, ihm geben.
Für Accidens mußt Du und Ich du halten,
Das Absolut' erhält durch sie Gestalten.
Die Geister stammen aus einem Licht, sind Brüder,
Dies eine Licht, verschieden strahlen sie's wider.
Der eine ein Spiegel ist, das Licht das Antlitz,
Der andere die Latern' ist, Gott der Lichtblitz.
So Höll' als Paradies dem Menschen nah' ist,
Als Scheidwand zwischen beiden Du und Ich ist.
Jedwedes Staubkorn deckt ein leichter Schleier,
Hebst du es auf, spricht ein geheimes Feuer.
Hebst auf den Schleier du von allen Dingen,
Muß Tod dies Religionen allen bringen.
Nur Ich und Du die Sekten all erzeugen,
Dies Ich und Du ist nur dem Teilsinn eigen.
Wenn Ich und Du und Einzelsein verschwinden,
Dann wird Moschee und Kirch' nicht mehr dich binden.«

Mir scheint, daß der letzte Grund für die religiösen Leiden unserer Zeit der ist, daß das geschichtliche Gewand unserer Religion uns nicht mehr paßt, und daß wir einerseits zuviel haben, was wir heute wissenschaftliche Wahrheitsliebe nennen, um es etwa in der Art des Meisters Eckehart oder Jakob Böhmes für uns zurechtzumachen, und andrerseits es auch nicht fortwerfen wollen, weil wir doch auch fest überzeugt sind, ein solches Gewand müsse sein.

Eine ähnliche Lage ist in der Kunst.

Wie es in Wirklichkeit keine Religionsgeschichte gibt, so gibt es in Wirklichkeit auch keine Kunstgeschichte.

Wir haben heute einen sehr viel größeren Wissensstoff zur Verfügung als je eine frühere Zeit, wenn wir das Kunstwollen der Menschheit betrachten. Je größer aber der Stoff wird, je mehr wir uns dadurch von den zufälligen paar Jahrhunderten freimachen können, innerhalb deren wir uns bewegen, desto klarer wird uns – um meine Meinung ganz deutlich zu machen, will ich sie übertrieben ausdrücken mit einem Vergleich: gewisse Kunstschauungen sind an sich vorhanden wie gewisse mathematische Sätze; auf unerklärliche Weise kommt plötzlich in die Menschheit der Drang, eine dieser Kunstschauungen zu formen; nach einigen wenigen Versuchen gelingt es ihr, wie man auch den mathematischen Satz nach Suchen findet; sobald diese Schauung geformt ist, kündet sich das Streben nach einer neuen an, die mit der alten nichts mehr zu tun hat, indessen Nachahmer jene geformte Schauung mehr oder weniger seelenlos für äußere Bedürfnisse noch kürzere oder längere Zeit nachahmen mögen. Wenn man sich schroff ausdrücken wollte, so könnte man sagen: eine Geschichte der Kunst ist nur möglich als eine Geschichte des Verfalls der Künste; der Weg nach oben ist oft so kurz, daß man ihn unter Umständen gar nicht mehr sieht: woher kommt etwa mit einem Male Giotto? Der Weg nach unten ist oft recht lang, und in der Tat ist es ja auch dieser Weg, der den meisten in die Augen fällt. Aber was nach dem Höhepunkt kommt, das hat eigentlich mit der wirklichen Kunst gar nichts mehr zu tun, das ist denn Bedarf und Gewerbe.

Bis zu einem gewissen Grade wird dieser Zustand von der Geschichtschreibung anerkannt durch die Abteilung in Stile und Schulen; aber man sollte sich sagen, daß zwischen diesen sogenannten Stilen und Schulen nicht geschichtliche Zusammenhänge wichtig sind – die man ja denn freilich immer aufweisen kann, weil eben die Vorgänge neben- und nacheinander stattfanden –, sondern daß ein ganz neues Kunstwollen aus der Tiefe des menschlichen Gemütes aufgetaucht ist.

Man könnte die Religion vielleicht bezeichnen als das Ruhen der Seele in Gott; ihr ist Mitteilung nicht eigentliches Bedürfnis, in ihr ist auch keine Mannigfaltigkeit: es genügt, wenn die Seele den Unwert des Äußerlichen, der Erscheinung, erkannt hat und sich nun zurückzieht auf sich selbst und dadurch eins wird mit dem Unerkennbaren. Kunst aber ist Unruhe, Tätigkeit, die höchste und angespannteste Tätigkeit: das Wirken einer Seele auf andere Seelen. Alles Wirken aber geht im Äußerlichen vor sich und muß äußerliche Mittel gebrauchen, deshalb ist eines der wichtigsten Mittel der Künstler die Nachbildung der Wirklichkeit; sie ist ein so wichtiges Mittel, daß sie ihnen als Zweck erscheinen mag, denn es ist ja nicht nötig, daß ihnen bewußt ist, was sie eigentlich wollen: die anderen Menschen beherrschen.

Nach welcher Richtung diese Herrschaft gehen soll, welcher Art die Seele ist, welche herrschen will, das bestimmt nun die Kunstschauung – so müßten wir sagen, wenn wir vom tatsächlich Vorhandenen ausgingen; eine Kunstschauung wird, wie durch eine Art von Besessenheit, plötzlich ohne allen sichtbaren Grund von Menschen erstrebt, welche dann nach einer bestimmten Richtung die Menschen formen wird, wenn sie erst gestaltet ist – so müssen wir sagen, wenn wir uns den eigentlichen Vorgang klarmachen wollen, bei dem wir ja doch eben nicht wissen, ob die Schauung dieser Menschen zu einer Gestaltung kommen wird. Es ist auch eine Folge der Geschichtlichkeit, daß ein so großes Gewicht auf die Persönlichkeit der Künstler gelegt wird, während doch bei ihrer Leistung nur das wichtig ist, was jenseits ihres Persönlichen liegt. Die alte Vorstellung, daß ein Gott den Künstler ergreift, wider seinen Willen vielleicht ergreift, drückt in sagenmäßiger Ausdrucksweise das Richtige aus.

Frühere Zeiten standen der Kunst rein zweckgebunden gegenüber: sie fragten, was dieses oder jenes Kunstwerk als solches nutze, und wenn sie keine Beziehung zu einem alten Werk hatten, so zerstörten sie es mitleidlos. Unsere geschichtlich empfindende Zeit hält ein solches Vorgehen für barbarisch und hebt sorgfältig alles auf, was von alter Kunst übrig ist, ja, was nur eben noch nach Kunst aussehen dürfte. Die Museen und Museumsgelehrten vermehren sich in unheimlicher Weise, und nach ein paar Jahrhunderten müßte, wenn das so fortgeht, jedes 67 zweite Haus ein Museum und jeder dritte Mensch ein Museumsbeamter sein. Die Ursache ist, daß durch die geschichtliche Betrachtung die Kunstwerke Gegenstände der Wissenschaft geworden sind; für die wissenschaftliche Erkenntnis aber gibt es keine Wertunterschiede, durch die Wissenschaft wird die Kunst aus dem Kreis des Willens entfernt, in den sie durch ihre Natur hineingehört. Ein solches Verhältnis aber ist, weil es unnatürlich ist, für die Kunst viel schädlicher als das alte barbarische; auf die Dauer muß die Kunst unter diesen Bedingungen absterben, denn was man gegenüber der alten Kunst empfindet, das empfindet man auch gegenüber der Kunst der lebenden Manschen. Die Kunst will erschüttern, erheben, fortreißen, will die Menschen anders machen, will töten und aufwecken: aber wenn ein Mann heute eine Dichtung drucken läßt oder ein Bild malt, so wird untersucht, in welche Sparte man – noch nicht einmal das Werk, nein, den Mann selber einordnen kann; ist das geschehen, so hängt man das Bild neben anderen Bildern im Museum auf und läßt die jungen Leute in den germanistischen Seminaren Arbeiten über die Quellen des Dichters machen; der Künstler steht verwundert da und denkt sich, daß er die Sache doch eigentlich anders gemeint hat; aber darauf kommt es ja nicht an.

Während man so die Kunst in die Wissenschaft einkapselt und dadurch ihr den Einfluß auf die Menschen nimmt, entwickelt sich unter den führerlosen Menschen eine neue Barbarei, die gebildete Barbarei. Diese besteht darin, daß nichts Gutes mehr zerschlagen, sondern alles Schlechte aufgehoben wird, bis man das Gute nicht mehr sehen kann, daß die großen Gefühle verlorengehen und nur noch der Tagesbedarf von Gefühlen übrigbleibt.


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