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Dichtung und Nation

(1914, vor dem Krieg)

In der großen deutschen Gesamtausgabe von Gogols Werken erscheinen jetzt auch die Briefe Gogols. Diese Briefe sind etwas ganz Besonderes; man kann sie nicht mit den Briefen anderer Dichter vergleichen, denn sie handeln nicht von den persönlichen Angelegenheiten des Dichters, sondern sind eigentlich Aufsätze über verschiedene Angelegenheiten des russischen Volkes, die nur das von anderen Aufsätzen unterscheidet, daß sie nicht ursprünglich für den Druck bestimmt waren, sondern an einzelne Personen als Briefe gerichtet sind.

Wenn man als Deutscher die höchst merkwürdigen Blätter liest, so beschleicht Einen doch ein eigentümliches Gefühl.

Gogol gehört zu den Dichtern, die eine ganz bestimmte Begabung haben: er verstand die Armseligkeit und Gemeinheit der Durchschnittsmenschen in unübertrefflicher Weise darzustellen; nach der volkstümlichen Auffassung ist er denn ja auch ein Satiriker. Bei jedem anderen Volk würde gerade eine solche Begabung zunächst den dichterischen, dann den menschlichen Charakter des Mannes bestimmen, der Mann würde nur ein Anhängsel von ihm sein; es gibt kaum eine andere Art von Begabung, welche so den Menschen beherrscht. Nun ist Gogol aber ein leidenschaftlicher Sucher des Metaphysischen geworden und hat seine Begabung vergewaltigt, statt sich von ihr vergewaltigen zu lassen. Es ist ja bekannt, daß die komische Begabung in gewissen Fällen die Menschen zu schwermütigen Gedankengängen treibt; aber die Entwicklung Gogols, der zu einem tief innerlich erfaßten Christentum kam, ist doch sonst nicht erlebt; nur von weitem kann man an unseren Wilhelm Busch denken, der seine Kunst aufgab und sich mit seinem Gemüt in die Schopenhauersche Philosophie versenkte: denn Gogol wurde nicht ein schwermütiger Brüter, sondern ein tätiger Arbeiter.

Das bedeutende russische Schrifttum von Puschkin bis zu Tolstoi wird ja bei uns täglich mehr verstanden; vielleicht sind die Deutschen dasjenige Volk, das noch am ersten von den andern Völkern Verständnis für sie hat. Was aber auch uns so schwer an ihr zu verstehen ist, das ist der Punkt, in dem eigentlich ihre tiefste Bedeutung ruht: diese russischen Dichter finden noch eine einheitliche Nation vor und können der Ausdruck ihrer Nation sein. Das ist auch die Erklärung der Erscheinung Gogol: als er gegen sich und seine Begabung wütete, wurde er nicht ein verzweifelter Einsiedler, sondern er fand eine würdige Aufgabe – wie er sie erfüllte, ist ja hier gleichgültig – in seinem Volk.

Wir heutigen Nationen wissen nicht mehr, was Volkszusammenhang und einheitliches völkisches Leben ist. Vielleicht hat der Eine oder Andere von uns das Glück, in einer entlegenen Gegend aufzuwachsen, wo noch wirkliches Volk lebt; der kann dann wenigstens eine dunkle Ahnung davon haben, was es bedeuten muß, wenn über ein ungeheures Gebiet durch viele, viele Millionen Menschen dasselbe Gefühl, derselbe Wille geht; unter unseren bedeutenden Dichtern gibt es keinen, auf den diese Ahnung gewirkt hätte; von den mehr oder weniger dilettantischen Heimatkünstlern und von den Unterhaltungsschriftstellern, die ihre Stoffe aus dem sogenannten Volksleben nehmen, ist natürlich nicht zu reden. Es handelt sich ja überhaupt nicht um das Stoffliche, sondern um das Gefühl.

Es ist etwas sehr Merkwürdiges um das Russentum. Die Russen haben wohl noch bis vor kurzem immer ausländische Baumeister gehabt und doch einen eigentümlichen russischen Baustil geschaffen, der sich aus dem byzantinischen Stil weiterentwickelt hat. So sind auch ihre großen Dichter nicht im geringsten Männer aus dem Volk, sondern Männer aus dem Adel und mindestens aus der gebildeten Gesellschaft, die doch, wie sie selber klagen, von der Nation ganz losgelöst ist, bis vor kurzem sogar noch nicht einmal die russische Sprache ordentlich sprach, sondern das Französische vorzog. Dennoch hingen diese Männer fest mit der Nation zusammen. Es wird einmal eine Anekdote von Tolstoi berichtet: ein Moskauer Droschkenkutscher habe ihm erzählt, daß er »Kindheit, Knabenalter und Jünglingsjahre« von ihm gelesen habe; Tolstoi habe ihm erwidert, daß sei ein schlechtes Buch, er solle lieber seine Volkserzählungen lesen. Das erschien ihm also nicht merkwürdig, daß der Mann jenes Werk gelesen hatte: wie würde es uns auffallen, wenn ein Berliner Droschkenkutscher mit Goethes Wahrheit und Dichtung bekannt wäre! Denken wir an einen Hebbel, welcher der Sohn eines Dorfmaurers war; wie unendlich entfernt ist der vom Volk!

Unser deutsches Schrifttum ist aus einer bestimmten Klasse hervorgegangen, aus dem gebildeten Mittelstand, und hat von Anfang an bis in die neueste Zeit eine enge Verbindung mit dem Gelehrtentum gehabt. Die Klage ist ja leicht ausgestoßen, daß unsere Bildung die Nation zerrissen habe; aber ein Puschkin, Gogol, Dostojewski, Tolstoi haben doch eine Bildung gehabt, die der Nation eher noch fremdartiger war wie die Bildung der deutschen Gelehrten; denn die Gelehrten sind doch oft genug aus dem unteren Volk emporgestiegen. Die Sache ist umgekehrt: die deutsche Nation hat zu wenig Kraft gehabt, ihre bedeutenden Geister aus ihrer Vereinzelung zu zwingen, sie hat zu wenig Anteilnahme gehabt an dem, was sie schufen. Ist denn nicht schließlich Goethe ebenso deutsch, wie Dostojewski russisch ist? Oder sollte es denn am Stoff liegen, daß ein deutscher Fabrikarbeiter nicht die Iphigenie, aber ein russischer die Brüder Karamasow liest? Wenn wir Hans Sachs aufschlagen, so sehen wir doch, daß es eine Zeit gab, wo die antiken Stoffe auch dem Volk vertraut waren; und man kann wirklich sicher sein, daß das Stoffliche nie einen bedeutenden Einfluß auf diese Verhältnisse ausübt; es wird ohne weiteres aufgenommen, wenn die Nation nur überhaupt ihre Dichter aufnehmen will. Man kommt zu keinem anderen Schluß: die russischen Dichter sind mit ihrer Nation verbunden und fühlen das; die deutschen sind es nicht; und der Grund liegt im Willen der Nationen.

Suchen wir andere Vergleiche. In England sprachen noch die Dichter der Elisabethanischen Zeit zum ganzen Volk; die Dichter aus der Zeit der Königin Anna sind nie volkstümlich geworden. Die großen spanischen Dichter waren volkstümlich bis zu solchem Grade, daß man Lope sogar als Volksdichter bezeichnet hat. Was aber noch merkwürdiger ist: die Dichtung des Mittelalters war in ganz Europa offenbar volkstümlich geworden; ob sofort oder erst nach einiger Zeit, ist wohl schwer zu sagen; jedenfalls hat sie sehr lange im eigentlichen Volk gelebt; und dabei war sie in ihren Stoffen und Gefühlen ritterlich. Hier müssen irgendwelche allgemeine Ursachen vorliegen.

Man wird sagen: die heutige Gesellschaft ist abgestufter als die ältere. Shakespeare, die große spanische Literatur trafen in ihren Zeiten noch eine weniger abgestufte Gesellschaft als Fielding und Goethe; und auch heute ist die russische Gesellschaft in sich so wenig unterschieden, wie es etwa zu Lopes Zeit die spanische, zu Shakespeares Zeit die englische war.

Aber gesellschaftliche Abstufung ist ein recht unbestimmter Begriff. Sollte ein Matrose, der den Hamlet ansah, einem damaligen Minister nähergestanden haben als ein heutiger Fabrikarbeiter einem Minister von heute? Die Kluft war doch viel größer; heute kann aus einem Arbeiter ein Minister werden. Der Moskauer Droschkenkutscher

ist gesellschaftlich vom Grafen Tolstoi unendlich viel weiter entfernt als ein Berliner Kutscher von einem entsprechenden Mann; denn wenn seine Freunde ihn in den Reichstag wählen, dann steht er ihm als Gleicher gegenüber. Es gibt heute keine unüberbrückbaren gesellschaftlichen Klüfte mehr, denn selbst die Bildung ist heute für den Geringsten erreichbar, wenn er will, wie viele Beispiele zeigen.

Die Gründe müssen viel tiefer liegen: wenn man sie fände, so würde man auf die Grundfragen unserer fragwürdigen neuzeitlichen Kultur kommen. Die großen russischen Dichter finden noch eine einheitliche Nation vor: weshalb? Weshalb fanden sie noch Shakespeare und Lope vor? Weshalb find diese Männer noch der Ausdruck ihrer Nation gewesen, und wie kommt es, daß unsere großen Dichter, obwohl sie offenbar doch ganz deutsch sind, nicht der Ausdruck ihrer Nation sind?

In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war bei uns im ganzen Volk eine Zeitlang eine tiefgehende Begeisterung für Schiller. Der Grund war, daß man ihn damals für einen Dichter der Freiheit hielt und Dinge erstrebte, von denen man annahm, daß auch Schiller sie erstrebt habe. Hier muß der Grund liegen: wenn eine Nation einen einheitlichen Willen hat, dann nimmt sie als Ganzes den Dichter an, welcher diesen Willen ausdrückt. Nicht eine stärkere gesellschaftliche Abstufung liegt bei den heutigen Völkern vor, sondern ein Auseinandergehen der Willensrichtungen bei den einzelnen Klassen.

Zu allen Zeiten hat es Klassen gegeben, und zu allen Zeiten war eine von diesen Klassen die herrschende. Bis auf die Neuzeit aber, wo das Bürgertum sich als herrschende Klasse behauptete, hat die übrige Gesellschaft immer treuherzig die Gefühle und Willensrichtungen der herrschenden Klasse angenommen. Ein mittelalterlicher Handwerksgeselle war gewiß kein Ritter; aber er las Ritterbücher, und wenn er dichterisch begabt war, dann dichtete er in der Art der Ritter; unser Volkslied hat seinen hauptsächlichen Ursprung in der Minnedichtung. Wie immer in solchen Verhältnissen entsteht Wechselwirkung; die Gefühle der unteren Klassen wirken auch umgekehrt auf die der oberen und kommen irgendwie so gleichfalls zum Ausdruck in der Dichtung. Erst unter der Herrschaft des Bürgertums finden wir die Erscheinung, daß die unteren Schichten der Gesellschaft die Gefühle und Willensrichtung der herrschenden Klasse nicht mehr teilen. Es ist sehr bezeichnend: seit undenklichen Zeiten haben die Menschen Geschichte geschrieben; erst in der bürgerlichen Gesellschaft aber entwickelt sich die Klassenkampflehre als Erklärung der geschichtlichen Vorgänge; uns heute ist diese Lehre verständlich, einem Mann zur Zeit Lopes wäre sie noch nicht verständlich gewesen, den Russen zur Zeit ihrer großen Literatur leuchtete sie auch noch nicht ein, man darf dabei nicht an die wenigen gesellschaftlichen Umstürzler denken, die ja immer klagen, daß das Volk nicht hinter ihnen steht.

Inzwischen müssen die europäischen Völker sich klarmachen, daß sie heute in einem geschichtlichen Ausnahmedasein sich befinden. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird die Weiterentwicklung die Kluft wieder schließen, die sich in ihnen aufgetan hat, und neue Völkereinheiten an Stelle der zerrissenen Kultur von heute werden sich bilden.


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