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Der Sinn der Revolution

(1919)

Wodurch ist letzten Grundes unsre frühere Ordnung zusammengebrochen? Die Männer, welche leiteten, wußten nicht, daß sie Menschen zu führen hatten und deshalb alles so einrichten mußten, daß die Selbsttätigkeit der Menschen erweckt wurde; sie stellten sich ihre Arbeit so vor, daß sie eine große Fabrik verwalteten mit einer Reihenfolge von ineinandergreifenden Maschinen, welche gehorsam jedem Antrieb folgten, der ihnen gegeben wurde. Unser politisches Leben war völlig mechanisiert.

Die Mechanisierung des politischen wie des gesamten Lebens beschränkt sich ja nicht auf Deutschland, sie ist allgemein in der Welt der bürgerlichen Gesellschaft. Daß sie bei uns im Politischen so unheilvoll weit getrieben werden konnte, daß die Andern hier nicht so weit mechanisiert waren wie wir, das kam durch einen unsrer Vorzüge. Das deutsche Volk ist ordnungsliebend und weiß, daß nur durch Aufgehen des Einzelnen im Allgemeinen die Ordnung der Gesellschaft aufrechterhalten werden kann, es ist pflichttreu. Bei dem Franzosen ist die politische Mechanisierung einfach aus dem Grunde nicht so weit zu treiben, weil er nachlässig ist und sich nicht unterordnen mag; bei dem Angelsachsen, weil er seine Persönlichkeit immer für viel wichtiger hält als die Gesamtheit.

Durch die Revolution kommt ja jetzt eine Menschenklasse hoch, welche die verhängnisvolle deutsche Tugend nicht mehr besitzt. Wenn die Kohlenarbeiter streiken, um höhere Löhne zu erhalten, Löhne, welche verständigerweise nie bezahlt werden können, weil jede Arbeit denn doch einen begrenzten Wert hat – in einem Augenblick, wo jede Kohle nötig ist, um ihre Brüder und Söhne aus dem Osten zurückzubefördern, damit sie dort nicht das Schicksal der napoleonischen Armee erleiden: da wird man wohl annehmen können, daß heute wieder eine Veränderung im deutschen Volkscharakter vor sich geht, wie sie schon so oft vor sich gegangen ist. Ob, was kommt, wertvoller ist als das Alte; ob eine vielleicht – vielleicht – sich ergebende größere politische 16Z Begabung – politische Begabung im Rahmen der heutigen Zustände, die ja doch nicht ewig sind – aufwiegen kann, was wir an Sittlichkeit verlieren, das mögen Andere beurteilen; wobei man ruhig zugeben mag, daß jene Sittlichkeit vor dem Kriege durchaus schattenhafter Natur geworden war.

Wir wollen festhalten: Was uns ins Unglück gebracht hat, das war die Mechanisierung unseres politischen Lebens. Die Revolution hat unsere früheren Zustände beseitigt, so glauben wir, wir brauchen ja nicht alle ihre Wirkungen aufzuzählen, jeder Zeitungsleser kennt sie, und nun erwarten wir neue Zustände. Wir wollen nicht ungerecht sein und von heute auf morgen nun eine neue Gesellschaft verlangen. Aber wir müssen doch schon sehen, wohin die Entwicklung gehen kann, und das muß doch etwas Anderes sein, als das, woran wir eben gescheitert sind. Wenn wir uns nüchtern fragen, was denn nun in dem bisherigen Wirrwarr eigentlich tatsächlich geschehen ist, das Schlüsse auf die Zukunft zuläßt, dann werden wir finden: eine weitergehende Mechanisierung; die Diktatur des Proletariats ist nichts weiter als die Fortsetzung der Diktatur der Bourgeoisie, und sie wird voraussichtlich nichts erreichen, als die Bestrebungen der bürgerlichen Gesellschaft bis zur offenbaren Sinnlosigkeit zu führen.

Wir wollen ein Beispiel anführen.

Der Achtstundentag wird angeordnet. Voraussetzung für die Anordnung ist der Satz: Arbeiter gleich Arbeiter, wie für Ludendorff Voraussetzung war: Soldat gleich Soldat. Aber offenbar ist die Ludendorffsche Voraussetzung nicht so unrichtig wie die andere, denn der Soldat ist immerhin wenigstens noch eine in der Wirklichkeit sich aufhaltende Tatsache, den Arbeiter aber gibt es überhaupt nur auf dem Papier, in der Wirklichkeit gibt es nur den Spinner und Heizer, den Ziegelstreicher und Schneider, den Müllkutscher und Tischler. Das Wesen der Mechanisierung besteht darin, daß man die Wirklichkeit verläßt und eine Abziehung schafft; also hier den Begriff »Arbeiter«. In der Abziehung sind alle Katzen grau. Nc«an stellt im Dunkeln eine Anzahl Katzen in einer Reihe auf wie die Soldaten; dann dreht man das Licht an, indem man sich in die Wirklichkeit zurückbegibt, hier durch die Anordnung des Achtstundentages; und so hat man schwarze und weiße, rote und gefleckte, langhaarige und kurzhaarige Katzen, Katzen und Kater nebeneinander stehen; wer die Anordnung nicht schön findet, dem antwortet man einfach: im Dunkeln sind sie alle grau.

War das nicht die Verfahrungsweise des alten Beamtentums, des Beamtentums, unter welcher das Volk geseufzt hat, des Beamtentums, dessen Macht nun endlich gebrochen ist, des Beamtentums, an dessen Stelle die Diktatur des Proletariats getreten ist? Sollte man nicht denken, daß der Arbeiter wissen muß, daß es den Arbeiter gar nicht gibt, daß man solche Anordnungen wie den Achtstundentag nicht unterschiedslos erlassen kann, sondern daß man bei jedem Gewerbe untersuchen muß - angenommen, man macht die Abziehung auf die Dauer des Arbeitstages – wie lang kann der Arbeitstag sein, wie lang muß er sein, kann man ihn überhaupt vereinheitlichen?

Der Einheitsarbeitstag ist offenbar eines der Kampfmittel des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Als solches hat er seinen ungemein großen Wert: in einer Gesellschaftsordnung, die auf der Abziehung aufgebaut ist, daß die menschliche Arbeitskraft lediglich ein Mittel der Warenerzeugung ist. Rein gedanklich, wie das nicht anders möglich ist in einer solchen Gesellschaftsordnung, machen die Träger der Arbeitskraft geltend, daß die Arbeitskraft unlöslich mit der menschlichen Persönlichkeit verbunden ist und daß diese noch anderen Gesetzen unterliegt als denen der kapitalistischen Warenerzeugung. Aber wenn das Proletariat die Diktatur ausübt, dann verneint es doch gerade die kapitalistische Art der Warenerzeugung! Die Diktatur des Proletariats muß doch also auch die Mechanisierung verneinen! Sie muß mit andern Worten doch wieder den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, den wirklichen Menschen, nicht eine Abziehung!

Für einen Spinner in einer mechanischen Spinnerei sind auch acht Stunden ein viel zu langer Arbeitstag; wenn einer Müllkutscher wird, dann kann er ganz gut zwölf Stunden arbeiten, ohne Schaden zu leiden. Wenn der Bauernknecht im Winter seine Pferde geputzt hat, dann hat er im wesentlichen seine Arbeit getan; wenn er bei der Ernte nur acht Stunden arbeiten wollte, dann könnten die Leute in der Stadt verhungern. Das sind die selbstverständlichsten Dinge von der Welt, sie erscheinen den Menschen gewöhnlich nur dadurch schwierig, weil ihre persönlichen Vorteile sich mit ihnen verknüpfen und die Vorteile den Menschen immer das Wichtigste scheinen.

Der Achtstundentag ist als Beispiel herausgegriffen, es hätte auch irgendein anderes Beispiel gewählt werden können, das vielleicht nur nicht so deutlich gewesen wäre. Was erklärt werden sollte, ist: die Revolution ist, bis jetzt wenigstens, überhaupt keine Revolution, denn es ist, bis jetzt wenigstens, in ihr noch nicht der einzige Gedanke aufgetaucht, welcher etwas grundsätzlich Neues bringen würde gegenüber dem Bisherigen; der Gedanke nämlich: die bisherige Gesellschaftsordnung dachte immer nur an die Dinge, an die Verhältnisse, im besten Fall an Abziehungen, welche man unter den Begriff Mensch unterordnen konnte. Dadurch aber wurde der wirkliche Mensch vernichtet, nämlich der einzelne Mensch. Ein jeder Mensch ist ein eigenartiges Wesen; selbst der letzte Müllkutscher ist nur einmal in der Welt; und in diesem Umstand liegt seine Würde, liegt seine Berechtigung, Rücksichten auf sich zu verlangen. In diesem Umstand aber allein. Alles andere ist einfältige Empfindelei. Wer über das Los des Arbeiters klagt, der sehe sich den Stier vor dem Pfluge an, das Pferd vor dem Lastwagen. Welches höhere Recht hat der Mensch als Stier und Pferd? Nur das eine, welches sich aus dem Umstande ergibt, daß jeder Mensch ein nur einmalig vorhandenes Wesen ist; um es mit dem richtigen Wort zu nennen: eine Seele hat.

In umstürzlerischen Zeiten spricht man viel von den Rechten der Menschen. Umstürze werden immer von Minderheiten gemacht, und die verlangten Rechte pflegen denn zu bedeuten, was eine solche Minderheit sich auf Kosten der Andern wünscht. In Zeiten der Gegenbewegung ist viel die Rede von den Pflichten. Auch die Gegenbewegung wird von einer Minderheit gemacht, und die Pflichten, von welchen die Rede ist, bedeuten Annehmlichkeiten für diese Minderheit, gleichfalls auf Kosten der Andern. Für das Spiel der Umstellungen und Abwandlungen, als welche sich die Geschichte der Menschheit darstellt, sind die Kämpfe der Umstürze und Gegenbewegungen mit ihren sittlichen Einbildungen ja notwendig; was wirklich wichtig für die Menschen ist, das geschieht in ganz andern Kreisen als in denen, wo die politischen Veränderungen vor sich gehen. Ein konservativer Herr erregte vor einiger Zeit einiges Aufsehen, es war ihm durch die Umwälzung klargeworden, daß Kaiser Wilhelm und Herr Liebknecht verwandte Naturen sind; ohne die Umwälzung hätte er das vielleicht nicht begriffen. Vielleicht wird sich im heutigen Rußland ja auch mancher fragen, welcher Unterschied eigentlich zwischen Pobjedonoszew und Lenin besteht, oder zwischen der außerordentlichen Abteilung und der dritten Abteilung. Wenn die Menschen einen wirklichen Umsturz machen wollen, dann müssen sie sich in Kreise begeben, zu denen weder Wilhelm noch Liebknecht, weder Pobjedonoszew noch Lenin Zutritt hat.

Wie war denn in Wirklichkeit der Vorgang der Revolution? Ein kleiner Haufe Kinder spielte, und dadurch brach der Staat zusammen. Haben die spielenden Kinder den Staat gestürzt? Er brach zusammen, weil er unsittlich war: nicht unsittlich im bürgerlichen Sinn, wie heute von den Umstürzlern oft behauptet wird; denn die Männer, welche uns ins Unglück gebracht haben, glaubten ihre Pflicht zu tun; er war unsittlich, weil er nicht auf den lebendigen Kräften der Menschen ruhte. Diese lebendigen Kräfte hat bis heute die Revolution auch noch nicht gefunden, sie ist nichts als die Fortsetzung der früheren Zustände.

Der Mensch ist von Gott auf die Erde gesetzt, um seine Seele weiterzubilden. Das ist die Aufgabe jedes Einzelnen, die nur den Einzelnen angeht, nur vom Einzelnen gelöst werden kann. Der Satz ist nicht zu beweisen, denn er ist eine Wirklichkeit, er steht in eines jeden Menschen Gewissen geschrieben. Es gibt keine politischen Rechte als die: daß dem Einzelnen diese Arbeit möglich bleibt; und keine politischen Pflichten als die: daß der Einzelne dafür sorgt nach seinem Vermögen, daß Zustände sind, in denen dieses Recht besteht.


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