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Nach Rom –?

Von Iven Kruse.

Ich hatte ihn liebgewonnen, den kleinen zehnjährigen Hinrich – oder Hinne, wie er gewöhnlich genannt wurde.

Er war der König aller Gänse des kleinen weltverlorenen, auf dem mittelholsteinischen Geestrücken liegenden Dorfes, in dem ich einmal einige Sommerwochen verbrachte – Fredenkamp heißt es, und ein Feld des Friedens ist es in der Tat. Die Sage freilich verlegt ein Schlachtfeld hierher auf den weitgestreckten Heideplan; in der Nähe das Moor heißt noch heute »Fiensmoor«, Feindesmoor. In die Wasserlöcher dieses Torfmoors soll irgendein König oder Herzog aus grauer Vorzeit seine Feinde hineingedrängt haben, »dat se all elendig, versapen sunt«, wie es in einer alten Chronik heißt ... und dann schloß er unter freiem Himmel bei dem Dörflein Frieden mit seinem Widersacher und nannte die Stätte Fredenkamp ... und hierauf ritten beide auf ihren ungeschlachten Holstenhengsten nach entgegengesetzten Seiten davon wie gesättigte Wölfe. »Gott mit ju und kamt ni wedder!« mögen die armen Bauern gedacht haben, deren magere Felder von den Übermütigen zerstampft waren, diese Felder, deren harte, sandige Schollen sie mit unbesieglicher Hartnäckigkeit um und um kehrten ... Schwerlich ist hier der tiefe, unverbrüchliche, ach so wohltuende Friede seitdem wieder gestört worden ... Übrigens wird die Sage wohl im Recht sein. Denn im Moor erzählte mir ein Torfbäcker, der mit den nackten, haarigen Füßen den Torfschlamm geschmeidig trat, den ein Genosse aus der Grube nebenan ihm herausschaufelte, daß dieser ihm vor einigen Jahren einen langen Knochen zugeworfen habe. Ihn aufsammelnd und betrachtend hätt' er entsetzt ausgerufen: »Gott bewahr' uns, Klaas, du smittst mi jo Minschenknaken hin!« Es war ein menschliches Schienbein. »In't Moor hölt sowat sik lang; dor is dat ümmer kold« ... Hierauf hätten sie die Grube wieder zugeworfen. »Sowat will sin Roh hebben.« Später sei noch ein Professor aus Kiel gekommen und habe nachgraben wollen; doch habe man die Stelle nicht wiederfinden können. »Un dat is ok man good; sowat schall man in Freden laten.«

– Jetzt war nur Hinne hier König. Der wirkliche König war weit weg ... Wilhelm ... in Berlin im Preußenland. Übrigens hing im Dorfkrug, »Zum hungrigen Wulff« genannt, sein Bild. Ein blaugrüner Haselstecken war Hinnes Zepter; ein hoher, spitzer Hut, den er mit seinen gewandten braunen Fingern selbst aus den beim Austrieb der Gänse in den Moorwegen zusammengerafften Binsen flocht, seine Krone.

Auch einen Thron hatte er.

Oben auf der Höhe, wo die drei im heißen, flimmernden Sonnenlicht gelbglitzernden sandigen Wege sich schnitten, war ein dreiarmiger, verwitterter Wegweiser aufgerichtet, auf dem die regenverwaschenen Namen dreier weltverlorener Geestdörfer standen. Um seinen Fuß waren bis hoch hinauf Steine aufgeschichtet, welche die Bauern von ihren mageren Feldern aufgelesen und hier, wo sie ja niemandem im Wege waren und keinen Schaden anrichten konnten, hergeschüttet hatten. Auch scharfkantige Flintsteine waren darunter. Dieser kümmerliche Wegweiser war Hinnes Thron; die rundum liegenden Steine dienten ihm als Stufen, mit deren Hilfe er sich gewandt auf die drei Querbretter zu schwingen vermochte. Von hier aus konnte er fast den ganzen Bereich der Dorfgemarkung übersehen.

Er saß gern da oben, während seine schnatternden Untertanen – fürwahr, er hatte es fast ebenso schwer wie der Selbstherrscher aller Reußen – sich rupfend an den niedrigen, mit Hasel- und Dorngebüsch bewachsenen Zäunen, die die Wege einfaßten, zerstreuten.

Er war nicht gerade hübsch, der kleine Hinne; im Gegenteil, er sah fast aus wie ein Räuberhauptmann in spe. Er trug eine Jacke und Beinkleider aus grobem, blauen Linnen mit großen, rissigen Hornknöpfen; die Hosen waren fast immer aufgekrellt und ließen bis zum Knie die braunen, stämmigen Beine mit den nicht allzu reinlichen – mein Gott, er trabte ja den ganzen langen Sommertag damit im Staub der Heidewege umher! – Füßen frei; unter seiner Binsenkrone quoll sein gelbliches, struppiges Haar hervor, das wohl nur alle Sonntage mit dem Kamm in Berührung kam, und das im Nacken von der prallen Heidesonne ganz weiß gebleicht war; sein mageres Gesichtchen war braun verbrannt und mit großen, bläßlichen Sommersprossen dicht übersät; von den Backenknochen hoben sich weißlich schimmernde Härchen ab, in denen sich der feine, von seinen eigenen und den vielen Gänsefüßen aufgewirbelte Staub festsetzte ... Aber er hatte so hübsche, ahnungsvolle Augen, die, wenn er oben auf seinem Throne saß, gar zu gern in die Ferne sahen – in die wunderreiche Ferne: verlangend, durstig, sehnsuchtsvoll ...

Stundenlang konnte er auf den morschen Querbrettern sitzen, mit den braunen Füßen schlenkernd, mit den weißen, kräftigen Zähnen lustig in die dicken Knacken Schwarzbrot beißend, die ihm von einem Bauern als Mittagsmahl mitgegeben waren, die Augen im heißen Sonnengefunkel über den blühenden Heideplan wandern lassend – bis an den fernsten Rand, wo weiße, goldbesonnte Wolken in sommerlicher Trägheit lagerten. Und wie leicht baut sich die Knabenphantasie aus weißen Wolken weiße, herrliche Paläste! Um ihn herum aber war das schlummertrunkene und doch ewig rege Sommerleben der Heide. Die Luft war erfüllt von dem süßen, bienenlockenden Geruch des Buchweizens, des Heidekorns, der in seiner Blütezeit weite Strecken mit zartem, hellrosigem Schimmer überkleidet. Lerchenstimmen klangen jubelnd, taufrisch aus dem zartblauen Luftgewebe herab, im Sonnenschein schwärmten zahllose Mücken, mit ihrer zarten Netzflügelmusik die Stille erfüllend, blitzende Fliegen und honigbeschwerte Bienen schossen summend durch die sonnige, warme Luft, in den Brombeer- und Haselbüschen zirpten die Grillen eintönig, unverrückt, wie Ton gewordene Sonnenstrahlen, und wie holde Sommerträume flatterten über die Siesta haltende Heide weiße und blaue und rote Falter dahin, unablässig umeinander herumgaukelnd, aber dann und wann sich an die großen tellerartigen, weißrosigen Blüten der wuchernden Brombeersträucher hängend, wie ermüdet ihre entzückend feingefärbten Fittiche faltend. Dazwischen kam ab und zu das träge Gleiten einer Schlange, die sich im rieselnden Sande der an der Sonnenseite gelegenen Wälle in ihrer ganzen Länge ausgestreckt hatte und sich an der Sonnenwärme gütlich tat.

Und plötzlich merkte dann der träumende Junge, wenn seine Augen und seine Gedanken aus der Ferne heimkehrten, daß seine Untertanen über den Zaun geklettert waren und sich in einem Buchweizenfelde gütlich taten. Hastig – ein ingrimmiges »Verdammi!« ausstoßend – kletterte er dann von seinem Thron herab, nahm aus dem Wegsande den ihm entglittenen Stecken – sein Zepter – auf und setzte sich in Trab, um die Rebellen zum Gehorsam zurückzurufen. In einer Wolke weißen Staubes kugelte er dahin, den Weg entlang, grobe Scheltworte mit seiner hellen Stimme ausrufend.

Bei meinen Streifzügen durch Moor und Heide traf ich den kleinen Gänsekönig oft auf seinem Thron, und bald hatte sich eine Art Freundschaft zwischen uns gebildet.

Einmal fragte er mich, wie es in einer Stadt aussähe.

Ich bemühte mich, ihm davon ein Bild zu geben.

Anfangs leuchteten seine Augen bei meinen Worten auf, dann schienen sie sich zu verschleiern.

»Möchtest du wohl dort sein?« schloß ich meine Schilderung.

Ein leises, scheues, verlangendes »Ja«.

»Und weshalb, mein Junge?«

»Ick möch geern rik wesen und dat goot hebben.« –

Wenige Tage darauf rief er mir zu:

»Rom is wol wit vun hier?«

»Rom? Aber wie kommst du denn darauf?« rief ich ganz erstaunt.

»O, de Lehrer vertell uns darvan in de School, as wi Geographie harrn. Is dat würkli wahr, dat in Rom ni eemal richtigen Winter is? Un sünd de Hüser dor all ut Marmor bu't? Ik meen so 'n Marmor, as worut de lütten Krüzen op unsern Karkhof makt sind ... Un 'n grote Kark is dor, sä he: de harr so 'n hogen Toorn, dat unse Kark dor tweemal upenanner in stahn kunn ... Awer dat kann jo wol meist ni angahn; ick kann dat ni rech glöwen; unse Karktoorn is doch all so hoch; wenn een dor 'rup kikt, ward 'n jo all ganz swimeli in 'n Kopp. Un sehn hedd he dat jo ock ni ... Und denn sünd dor 'n Barg Denkmal'n, sä he, un Springbrunn'ns, – un in de Goorns schüllt Palmen stahn, de ümmer grön sünd ... Is dat all richti so? ...«

»Ja, Hinne, das ist ganz richtig.«

Er schwieg einen Augenblick mit grüblerischem Ausdruck im Gesicht, nicht ganz überzeugt, wie es schien. Dann fing er wieder an:

»Na, – awer wenn dor Palmen sünd, denn is Rom wol heel wit weg?«

»O ja, Rom ist sehr weit weg.«

»Hunnert Milen wit?«

»O, wohl über hundert Meilen noch, mein Junge.«

»Un na wat för 'n Gegend hin liggt dat?«

»Nach Süden hin.«

Und ich wies ihm die Himmelsrichtung mit dem Finger.

»Dorhin geit jo de Weg na Kraienkamp,« murmelte er, wie mit sich selber redend; »un denn kümmt Ellerhoop un denn Grevenkrog; – Grevenkrog is 'n Mil wit; denn kümmt Bullerbrook ... Denn müß man wol twee Wäken gähn?« setzte er wieder, zu mir gewendet, hinzu.

»Ja – vielleicht noch länger, Hinne. Willst du denn wirklich dahin?«

»Ja – « sagte er ernsthaft. »Wenn ick grot bün,« fügte er zögernd hinzu. »Denn bün ick jo min egen Herr – .«

Und er sah nach Süden hin, und aus dem flockig weißen Gewölk entstand vor seinen Augen die glänzende Siebenhügelstadt mit ihren weißblinkenden Marmorpalästen.

Einige Tage später – an einem Julimittag – hatte ich mich am Abhang eines Hünengrabes, das einen schmalen Schattenstreifen warf, in das feine, langhalmige, bräunliche Gras geworfen. Das Grab hieß der Köhnshügel, der Königshügel. Oben sollte nämlich einer der Sagenkönige gehalten haben auf seinem Roß, um die Schlacht zu leiten ... Jetzt blühten nur blaue Glocken auf dem Hügel und holzige Hartheustengel mit prächtig gelben Blüten, die in der Sonne gleißten, – unwillkürlich mußte ich an rinnendes Gold im Schmelztiegel denken.

Denn es schwamm Feuer durch die Luft; helle, flackernde, weiße Flämmchen zuckten unablässig sich kreuzend und durcheinanderschießend, am glühenden Himmel hin und her. Von Zeit zu Zeit schien er zu erbeben, und dann tropften gleichsam silberne Fünkchen auf die Erde herab. Die Luft zitterte vor Hitze.

Entsetzt warf ich meine Mittagszigarre weg und legte meinen Kopf zurück in das kühle Gras, die Augen starr und gedankenlos in die Weite gerichtet. Die Felder schienen wie ausgestorben, aber allmählich belebten sie sich; schwarze, sich rasch bewegende Pünktchen schossen in ihnen umher.

Das waren Menschen; die Bauern waren bei der Einheimsung des Erntesegens.

Mich durchzuckte es wie ein Schauer: in dieser Glut arbeiten zu müssen – hart und schwer arbeiten!

Und dann reckte ich mich behaglich.

Trotz der regen Geschäftigkeit, die ringsum lebendig war, kam es mir doch vor, als träume alles und ich selbst träume mit ...

Wohl eine Stunde mochte ich so, gedankenlos hinträumend wohligmatt im Grase gelegen haben, da –

Ein Schrei durchzitterte die Stille, ein heller, langandauernder, wie in einem Winseln ersterbender Schrei.

Ich erhob mich. Und dann sah ich auf den der Landstraße am nächsten liegenden Feldern die Leute ihre Arbeit langsam verlassen und auf den Weg stürzen.

Von unbestimmter Angst erfaßt, folgte ich ihnen.

Schon aus der Ferne sah ich, daß sich ein Haufen ganz verstörter Schnitter um den Wegweiser scharte, der – das Herz krampfte sich mir zusammen – nur noch zwei Arme hatte.

Sie flüsterten nur leise untereinander, kurze, abgebrochene Worte – und dann wandten sie die arbeitsroten Gesichter mit dem peinlich entsetzensvollen Ausdruck wieder auf den Steinhaufen.

Und auf diesem lag mein armer Hinne mit zerschmettertem Kopfe; das morsche Brett hatte ihn wohl nicht mehr tragen können, und er war beim Fall mit der Schläfe auf einen scharfen Flintstein aufgeschlagen. Der Tod mußte alsbald eingetreten sein.

Vor ihm aber stand ein alter Arbeiter, der Tagelöhner Johann Raben, Hinnes grauhaariger Vater.

Er war mit bei der Ernte beschäftigt gewesen.

In seinem verwitterten, starkbehaarten Gesicht lag ein wunderlicher Ausdruck des Entsetzens und der Spannung, gerade als ob er hoffe, sein Söhnchen werde sich im nächsten Augenblick erheben und ihn anlachen: »Vadder, dat weer jo man Spaoß!« Seine groben Hände hatte er krampfhaft geballt; der Körper des robusten Mannes zitterte, – aber kein Jammerwort, keine Klage, nur einen aus tiefstem Herzen kommenden Seufzer entriß ihm der Schmerz.

Sie sind so hart – diese Menschen im Norden ...

Dann plötzlich brachen ihm die bebenden Knie; der starke Mann sank an der Leiche seines Kindes zusammen wie eine vom Blitz gefällte Eiche. Mit gefalteten Händen blieb er liegen, die Augen unverwandt in das erstarrte Gesichtchen gerichtet, – dann nach langer Pause hob er die große gebräunte zitternde Hand und strich leise, sanft die Haare aus der bleichen Stirn des Knaben ...

»Min lütt Hinne ...,« murmelte er. Wie unsäglich weich das klang!

Sie sind so weich – diese Menschen im Norden ...

Die Leute ringsumher hatten diesem ins tiefste Herz greifenden Auftritt stumm zugeschaut und wandten sich jetzt erschüttert ab. Die Weiber und Mädchen schluchzten.

Der Alte sah sich verwirrt um mit den nassen, grauen Augen in dem gramverstörten Gesicht, daß die Leute sich erschreckt langsam zurückzogen. Die meisten gingen aufs Feld zurück. Was hatten sie noch hier zu tun? Allen war das Zweifellose des Todes klar.

Dann nahm Johann Raben sein totes Kind – langsam, sanft, wie um es nicht aus süßem Schlummer aufzuschrecken – auf seine Arme und ging langsam dem Dorfe zu.

Er hatte keine Tränen, aber von Zeit zu Zeit durchrann ihn ein Zittern, wie ein innerliches Weinen.

Und von Zeit zu Zeit murmelte er mit leiser, unsäglich zärtlicher Stimme: »Min arm' ol lütt Hinne.«

Hinterdrein aber lief ahnungslos ein kaum fünfjähriges Kind, von den Eltern wohl während der Arbeitszeit mit aufs Feld hinausgenommen, weil es im Hause unbeaufsichtigt geblieben wäre, und hatte die im Wege gefundene Binsenmütze des toten Knaben auf sein Flachsköpfchen gesetzt.

Aus: Iven Kruse, Schwarzbrotesser. Holsteinische Geschichten und Gestalten.
(Berlin, Franz Wunder).


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