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Helgoland.

Von M. J. Schleiden.

 

Grün ist das Land, rot ist der Strand,
weiß ist der Sand; das sind die Farben von Helgoland.

 

So lautet der Spruch, der die Farben der Helgoländer Flagge erklärt. Der Fremde, der im schaukelnden Nachen vom Dampfschiffe, das ihn von Hamburg hergebracht, zum schmalen Vorlande am Fuße des Felsens fährt, liest diesen Spruch an dem Spiegel mancher vor Anker liegenden Boote, zwischen denen sein Fahrzeug hindurchgleitet.

Wir landen, und die Gruppen der neugierigen Einwohner und Fremden umringen uns. Die frischen und blühenden Gesichter der Weiber und Mädchen verraten den belebenden Einfluß der Seeluft, und auf dein Antlitz der stämmigen, muskelkräftigen Männer hat mancher Sturm seine Spuren eingegraben. Als Typus der norddeutschen Seeleute und Küstenbewohner erschien uns ein Mann, weniger durch seine Größe, denn er ist nur von mittlerer Statur und noch dazu durch das Alter gebeugt, als vielmehr durch das fast in jugendlichem Feuer strahlende Auge, durch die Kraft seiner Bewegungen, die mit dem schneeweißen Haupthaar und den tiefgefurchten, wettergebräunten Zügen, die von mehr als einem Seeroman Kunde geben, in Widerspruch zu geraten scheinen. Jens Petersen, von seinen Gefährten bezeichnend genug der alte Grau genannt, ist eine Persönlichkeit, die unwiderstehlich den Menschenkenner fesselt, und wir bedenken uns nicht einen Augenblick, ihn zum Führer bei unsern Streifwegen durch die Insel und auf dem Meere zu erwählen. Er kann als Muster gelten für diesen kleinen ostfriesischen Menschenstamm, der, auf so einem Felsen wie auf einem mitten im Meere versteinerten Schiffe lebend, in und auf dem Wasser alles sieht und findet, was zu seiner Existenz erforderlich ist, bei welchem Pindars vielfach mißbrauchter Spruch: »das Vornehmste aber ist das Wasser«, in jedem Momente des Daseins zur vollen und unmittelbarsten Wahrheit wird. Die Nächte nicht abgerechnet, hat unser »Grau mehr als zwei Drittel seines Lebens in offenem Boote auf dem Wasser verbracht; das Heulen des Sturms, das Überstürzen der gepeitschten Wogen hat keinen Einfluß mehr auf seine gestählten Nerven. Während wir dem raschen Alten mühsam folgend die fast 300 Stufen hohe Treppe zum Felsen hinansteigen, erzählt er von mancher Gewitternacht, manchem Schiffbruch; wir sehen ihn kämpfen mit den sich türmenden Wogen, um einem entmasteten, hilflos auf dem Wasser treibenden Fahrzeuge Rettung zu bringen. Mit Begeisterung erzählt er von den Glanzzeiten Helgolands während der Kontinentalsperre (wo die Franzosen allen Handel mit England verboten hatten und von Helgoland aus ein freilich einträglicher aber sittenverderbender Schmuggelhandel getrieben wurde), wo die übermütigen Kaufmannsdiener die Fischerbuben nach Speziestalern und Goldstücken tauchen ließen. Mit schlauer Heimlichkeit schildert er uns seine abenteuerlichen Fahrten aus jener Zeit, wo er mit einem offenen Boote die Nordsee kreuzend geheime Depeschen an die holländische Küste brachte und den Augen und Kugeln der französischen Grenzsoldaten entwischte.

Unter solchen Gesprächen erreichen wir die Höhe; ein Pfad von fünf Minuten, wegen der dürftigen Kultur von den Badegästen scherzend die Kartoffelallee (denn andere Baumalleen gibt es hier nicht) genannt, führt uns auf den höchsten Punkt der Insel, das Belvedere, und hier breitet sich ringsumher das grenzenlose Meer aus, ein erhabener Anblick! Unsere Gesellschaft hat sich indessen vermehrt. Einige Damen, ein paar Naturforscher und Ärzte und einige englische Kapitäne haben sich uns angeschlossen. Das Gespräch wird mannigfaltiger und belebter. Der Anblick, der vom Belvedere aus sich darbietet, ist ebenso eigentümlich als großartig. Vor uns liegt die. obere Fläche des 200 Fuß hohen Felsens, links das kleine Städtchen mit dem niedrigen Kirchturm, rechts der massive Leuchtturm und etwas hinter ihm der alte, einer Bergruine gleichende Feuerturm. Zu allen Tageszeiten, besonders während eines Sturmes, stehen hier und an dem Geländer die rüstigen Helgoländer, von allen Seiten das Meer nach den sie rührenden Ereignissen durchspähend, während die Weiber alle andern Arbeiten, selbst das Tragen schwerer Lasten auf der Treppe nach dem Oberlande verrichten. Nirgends unterbricht dort ein Baum die Rundsicht; der mächtige Sturmwind, vor dem sich hier die kräftigsten Lotsen beugen, indem sie nur auf allen Vieren fortzukriechen vermögen, läßt keinen Busch über die Höhe der Gartenzäune hervorwachsen. Die Insel selbst, in ihrer größten Länge kaum 2000 Schritte lang, bietet keine Fernsicht dar; alles liegt in der durchsichtigen Seeluft mit reinen, deutlichen Umrissen vor uns. Rechts springt der westliche Rand in schmalen Felsenrippen, in gigantischen Bogen und grotesken Höhlen oder in einzelnen, säulenartigen Klippen rötlichen Gesteins in das grünliche Meer vor. Wie der scharfe Kiel eines Schiffes stellt sich die Südspitze den Strömungen des Wassers von der Elbe und Weser entgegen. Links birgt der östliche Rand das schmale, mit etlichen dreißig Häusern besetzte, aus Sand und Gerölle zusammengefügte Vor- oder Unterland. Weiter ins Meer hinaus glänzen hier in silberfarbenem Lichte die Hügel der von Helgoland durch einen tiefen Meeresarm getrennten Sanddüne mit ihren Badekarren. Das alles ist umgeben von dem unbegrenzten Spiegel der See und dem reinen Horizonte. –

Vielfache Sagen über die frühere Größe Helgolands und dessen Zusammenhang mit dem Festlande boten mannigfaltige Unterhaltung, wenn die großen Fluten, welche die Insel gebildet und verkleinert haben sollen, auch vielleicht einer vorgeschichtlichen Zeit angehören, da die Kritik von den Berichten der Chroniken manche nicht unbegründet scheinende Ausstellungen macht.

Unter diesen Gesprächen war allmählich die Dämmerung hereingebrochen, und die Gesellschaft plaudernd vorgeschritten bis zum alten Feuerturm und schaute hinaus auf das noch immer spiegelglatte Meer. »Ach, der herrliche Stern, der dort aufgeht!« rief eine der jungen Damen und wies nach Süden. – »Das ist kein Stern,« belehrte der alte Grau, »sondern der 18 Seemeilen entfernte Leuchtturm auf der hamburgischen Insel Neuwerk, der soeben angezündet wird. Nicht immer ist er zu sehen. Jetzt ist jene Gegend so still und klar, daß man deutlich im Scheine der Laterne den Rauch des eben vorbeifahrenden Huller Dampfboots erkennen kann; etwas links von jener Stelle, wo jetzt der Rauch aufwirbelt, zieht sich die häßliche Sandbank, der schreckliche Vogelsand hin, die in ihrem flüssigen Sande schon Tausende von Fahrzeugen mit ihren wackern Mannschaften verschlungen hat.« Der Alte schwieg einige Sekunden im Nachsinnen verloren, dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: »Nie werde ich die schreckliche Nacht vom letzten August des Jahres 1829 vergessen. Am Nachmittage hatte sich ein Sturm aus Nordwesten erhoben, so wild und furchtbar, wie ich noch keinen hier erlebte. Die größten Felsblöcke am Vorlande tanzten mit den Wellen wie Korkstücke und knirschten aneinander, als sollten sie zu Staub zermalmt werden. Die ganze See schien zu kochen, man sah keine Fläche, keine Welle, nichts als umhergejagten Schaum; die Brandung brüllte zwischen dem Neusteg und Mönch und in dem alten Mörmersgatt und tobte zwischen diesen Klippen, daß der Gischt uns hier oben am Leuchtturm durchnäßte. Da standen wir, Männer und Weiber, und schauten dort hinaus nach dem Meere, wo sich ein verlorenes Fahrzeug sehen ließ, das schwer mit dem Sturm kämpfte. Immer mehr wich es trotz der ausgespannten Segel nach Osten ab und war schon bei Neuwerk vorbeigetrieben, nahe dem Vogelsand. Da stürzte mit fliegenden Haaren ein Weib zwischen uns und schrie: ›Rettet meinen Mann, euern Freund! Kennt ihr denn die Dorothea nicht mehr?‹ – Und so war's, das Auge der Liebe hatte schärfer gesehen als wir alten Seehunde: die Dorothea, von Bremen kommend, geführt von unserm besten Burschen Jakob Jaspersen. Das Weib jammerte, rang die Hände, flehte um Rettung; wir mußten uns abwenden. Ach, sie wußte so gut wie wir, daß bei dem Wetter kein gewöhnliches Fischerboot See halten konnte, und kein anderes lag im Hafen. – Immer näher kam der schreckliche Augenblick; die Dorothea konnte nur noch wenig Kabellängen vom Vogelsand entfernt sein, da stand das Fahrzeug still, die Segel fielen! Der kühne Führer hatte mitten in der Brandung Anker geworfen; wenn dieser faßte und hielt, so war das Schiff gerettet. Mit atemloser Erwartung blickten hundert Augen auf jenen Fleck. Das Weib hielt sich an mich und klapperte hörbar mit den Zähnen. – Und wir sahen, wie das Schiff langsam vom Anker wegtrieb. – Mit gellendem Schrei sank die Frau zusammen. – Da hatte plötzlich Jaspersen wieder alle Segel aufgespannt und begann aufs neue den hoffnungslosen Kampf gegen den Orkan, bis die Nacht ihn uns verbarg. – Keiner von uns ging schlafen, keiner verließ den Platz, immer noch stierten wir hinaus und harrten mit dumpfem Entsetzen des Tages; neben uns weinte leise das unglückliche Weib. – Gegen Morgen legte sich der Sturm, der Tag begann zu grauen und – kaum eine halbe Seemeile vor uns lag die Dorothea, mit vollen Segeln auf den Hafen zusteuernd. Jauchzend eilten wir zum Strand, und eine Viertelstunde später umarmte Jaspersen sein Weib, aber die blühende Frau glich einer Matrone. Die furchtbare Angst der einzigen Nacht hatte tiefe Furchen in ihr Antlitz gegraben, ihre Wangen und ihr Haar wie bei der unglücklichen Königin Maria Antoinette von Frankreich gebleicht. – Ja, ja! die See ist eine gefährliche Freundin, und wehe dem, der nicht die Kraft hat, ihr todesmutig ins Angesicht zu sehen!«

Wir schwiegen lange, dann schüttelten wir dem Alten still die Hand, und bald empfing uns alle die bunt gemalte Täfelung in dem reinlichen und behaglichen Zimmer unserer biedern Wirte.

(Geschrieben vor reichlich 50 Jahren.)


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