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Der Prozeß Jörgensen.

Von Asta Heiberg.

Im Jahre 1860 tagten in Flensburg die Stände.

Es gingen sehr viele Petitionen ein, die sich alle über die Willkürherrschaft der Beamten beschwerten und um Abhilfe baten. Zwei dieser Bittschriften baten nicht, sondern verlangten ihr Recht. Die eine sagte zum Schluß, wenn die Verhältnisse des Volkes zur Regierung so bleiben würden, dann sei zu befürchten, daß sich die blutigen Tage von 1848 wiederholten. Beide Petitionen erschienen im »Altonaer Merkur«, einer regierungsfreundlichen Zeitung, zur Kenntnis aller, die sie lesen wollten und wurden dadurch allgemein bekannt. Die letzte nannte man des Schlußsatzes wegen die blutige. Der Buchdrucker Pfingsten in Itzehoe vereinigte sie in einer Broschüre, um sie buchhändlerisch zu verwerten. Er fragte unsere Buchhandlung, ob er zu gleichem Zweck Exemplare schicken solle. Unser Geschäftsführer stimmte zu, indem er kein Bedenken trug, das zu tun, was die übrigen Buchhandlungen für erlaubt hielten. Ich glaube kaum, daß er meinen Mann um Rat fragte, schon deshalb nicht, weil mein Mann sich nicht um das Geschäft bekümmerte, und weil er der Sache keine Wichtigkeit zuschrieb.

Anders dachte der Polizeimeister. Herr Jörgensen, traurigsten Angedenkens, war ein fanatischer Däne und übertrieben religiös. Am Abend hielt er Betstunden und fand sich mit seinem Gott zurecht über das, was am Tage sein Gewissen beschwerte. Jörgensen war auch ehrgeizig, ihn verlangte nach einer Tat, die seiner Regierung zeigte, was er zu leisten vermochte, die bewies, daß die Stellung in dem elenden Schleswig seiner unwürdig sei, weil er zu Höherem veranlagt wäre.

Hier bot sich eine Gelegenheit, hier konnte er sich mit Ruhm bedecken.

Doktor Heiberg hatte für seine politischen Sünden Amnestie erhalten, die aber hinfällig wurde, wenn eine neue Schuld hinzutrat. Die lag hier vor. Jörgensen konnte dem politischen Verbrecher durch geschicktes Ausforschen eines Vergehens beschuldigen, das den Doktor Heiberg in das Zuchthaus brachte. Daß dies seine Absicht war, hat er häufig geäußert, und er soll auch hinzugefügt haben, »er würde das erreichen, wenn nur das infame Weib nicht neben ihm stünde.« Jörgensen wußte genau, daß Heiberg an der Verbreitung der Flugschrift so unschuldig war wie er selbst, aber die Buchhandlung gehörte Heiberg, er war für sie verantwortlich. Jörgensen erschien nun an einem Nachmittag in der Dämmerung und legte Beschlag auf die verbotene Schrift (kein Mensch hatte bisher gehört, daß sie verboten war), suchte auch eifrig nach ähnlichen Schriften, fand jedoch keine. Er schloß das Geschäft bis zur Erledigung des Prozesses, den er gegen den Doktor erheben zu wollen erklärte. Mein Mann war geholt worden und kam später mit Jörgensen hinauf zu mir. Er fragte, ob ich verbotene Schriften in Verwahrung habe. Er hätte mich so gern auch hier als die Gefährtin meines Mannes angesehen. Ich erwiderte sehr ruhig, daß ich nicht wisse, was der Herr Polizeimeister darunter verstehe, er möge nachsehen, ob derartiges in meinen Räumen sich befinde. Er suchte nicht. Leider hatte ich mir damals noch nicht klar gemacht, daß eine derartige Frage nur gestellt werden konnte, wenn ein Verdacht gegen mich vorlag; sonst hätte ich ihn ersucht, mich nicht zu belästigen. Meinem Manne sagte er: »Sie stehen in Ihrem Hause unter polizeilicher Aufsicht und dürfen nicht über die Grenze der Stadt hinaus, weder zu Fuß noch sonst. Morgen werde ich in Ihrer Arbeitsstube alle Schriften und Briefe auf ihren Inhalt prüfen.«

Jörgensen ging.

Mein Mann war in einer furchtbaren Aufregung. Mutig hätte er für seine Überzeugung einen schnellen Tod ertragen, für eine lange Untersuchung und Verhöre hatte er keine Nerven. Der Kaufmann Verseck hatte die sogenannte blutige Petition eingereicht, Heiberg hatte sie geschrieben und von Verseck die Zusage erhalten, daß er den Verfasser nicht nennen werde.

Ich ging noch am Abend auf Heibergs Wunsch zu Verseck und fand auch ihn in Sorge und Angst. Er sagte mir: »Nichts kann mich bewegen, den Doktor zu nennen; sagen Sie ihm das zu seiner Beruhigung.«

Wir verbrachten eine schlimme Nacht und standen früh auf.

Heiberg vernichtete Privatbriefe und meinte, daß die Zeit zum Aufräumen zu kurz sei. Da kam mir ein Gedanke, infolgedessen ich sagte: »Heiberg, er hat kein Recht, dein Privatzimmer zu durchsuchen, noch steht nur die Buchhandlung unter der Anklage, die gegen dich muß noch begründet werden.« »Ja, da hast du recht!« entgegnete er erleichtert. »Setze einen Protest auf, den du ihm vorlegen kannst,« riet ich ferner. Auch dieser Vorschlag hatte seine Billigung, und er begann zu schreiben, legte aber bald die Feder wieder hin und bat: »Schreibe du, ich kann nicht, ich bin so matt und meine Gedanken verwirren sich.« Ich tat nach seinem Wunsch, obgleich ich wußte, daß mir die Formkenntnis fehlte; das wurde mir bei dem Schreiben so erkennbar, daß ich den Advokaten Goos um seinen sofortigen Besuch bitten ließ. Er kam auch sogleich, hörte meine Bitte, wurde aber bleich und immer stiller, sagte dann, daß es ihm sehr schmerzlich sei, diesen Dienst dem Doktor abschlagen zu müssen, da er Pflichten gegen seine Familie habe und nichts tun dürfe, was ihm seine Bestallung rauben könne.

Als er fort war, ging ich zu dem Obersachwalter Hanke.

Dieser energische, tüchtige Mann und Rechtsgelehrte würdigte meine Angst und Sorge, las meinen Protest mit mitleidigem Lächeln, legte seine große Hand mit väterlichem Wohlwollen auf meine Schulter und sagte: »Für eine Frauenarbeit ist das Ding wahrlich nicht übel, aber sie taugt doch nichts.« Dann schrieb er den Protest, den mein Mann dem Polizeimeister überreichte. Jörgensen las das Schriftstück mit Aufmerksamkeit und Ärger. Sein Gesicht rötete sich vor Zorn, aber er beherrschte sich. Dann sagte er, obschon mein Mann energisch protestierte: »So werde ich jetzt die Stube mit meinem Amtssiegel schließen und die Revision später vornehmen.« Wir räumten vorher aus, was mein Mann notwendig brauchte, darauf verschloß Jörgensen mit Hilfe eines Polizisten die Türen, legte über den Drücker ein Band und befestigte dieses mit dem Amtssiegel an dem Türrahmen. Ich richtete eine Dachstube so behaglich wie möglich ein, und Heiberg zog sich geistig und körperlich erregt zurück.

Die Beschlagnahme der Flugschrift wurde nicht nur in der Buchhandlung vorgenommen, sondern auch in den Häusern wurde nach den versandten Exemplaren gesucht. Es fand sich nur eines bei dem Knopfmacher Gerke. Gerke war ein ruhiger, harmloser Mensch und ein eifriger Jäger wie Jörgensen, mit dem er oft zum Pürschen ging. Dadurch hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis herausgebildet. Jörgensen stellte einen Verhaftungsbefehl aus und ließ den Gefangenen nach dem Gefängnis bringen, und weil die Räume besetzt waren, erhielt Gerke eine Stube, in welcher Högert, der seine Frau tötete, und dafür auf der Freiheit hingerichtet wurde, gesessen hatte. Er bat um seine Pfeife und Tabak, um seine Morgenschuhe, und vor allem um Arbeit, erhielt aber nichts. Das veranlaßte mehrere Bürger, den Polizeimeister darauf aufmerksam zu machen, daß die Familie zur Schwermut geneigt sei. Die Mutter und ein Verwandter hatten sich erhängt. Trotzdem ward dem Gefangenen keine Erleichterung gewährt. Dann meldete der Gefangenwärter Philipsen, daß Gerkes Wesen sehr auffällig sei; er fürchte, Gerke werde sich ein Leid antun; auch dies blieb unbeachtet, zwei Tage darauf war Gerke eine Leiche; er hatte sich erhängt. Diese Botschaft hörte Jörgensen mit Entsetzen, er fühlte sich schuldig wie ein Mörder; und die ihn gewarnt hatten, konnten gegen ihn zeugen, die Masse gegen ihn aufreizen; er bekam Furcht, die ihn zu den unsinnigsten Maßregeln antrieb. Gerkes Ende hat auch später sein Gewissen bedrückt.

Die Leiche wurde in das Haus des Vaters gebracht. Der Gesangverein wollte sie mit Musik zur letzten Ruhestätte geleiten, seine vielen Freunde ihn dahin begleiten. Jörgensen verbot die Feierlichkeit wie die Begleitung; er requirierte fünfzig Gendarmen, teilweise beritten, forderte von dem Kommandanten zwei Kompagnien Soldaten mit geladenem Gewehr zur Unterdrückung des zu erwartenden Aufruhrs. Der Kommandant sagte ihm: »Sie erhalten von mir nicht einen Mann. Der Aufruhr, von dem Sie sprechen, spukt in Ihrem Gehirn oder wird durch Sie hervorgerufen, der geringste Umstand, der Steinwurf eines dummen Jungen, kann einen Zusammenstoß bewirken, dann haben wir Straßenkampf und Blutvergießen durch Ihre Maßregeln.« Jörgensen telegraphierte nach Kopenhagen, und der Kommandant erhielt Befehl, zwei Kompagnien zu stellen, diese wurden am Begräbnistage neben den Kirchhof und in die angrenzende Allee beordert.

Die Gendarmen waren im Lollfuß, den der Zug passieren mußte, verteilt. Es durften nicht zwei Menschen nebeneinander erscheinen, keiner vor seiner Haustür stehen. Das Wetter war rauh, naß und kalt, acht Bürger trugen den Sarg; der alte gebeugte Vater und dessen Schwestersohn folgten, sonst keiner. Jörgensen lief, begleitet von seinem Jagdhunde, wie von Furien gehetzt durch die Straßen; er verlor im eiligen Lauf am Kirchhof seine Gummischuhe; die Straßenjugend, die sich auf einer Planke postiert hatte, schrie Hurra und dann –: »Ein Hund darf folgen aber wir nicht.« –

Adolf Meyn aus Leipzig, unser Gehilfe, wurde verhaftet, er wußte nicht, wodurch er dies veranlaßt hatte. Ich denke, Jörgensen wollte doch einen Beweis haben, daß ein Aufruhr zu erwarten sei. Drei Tage war Meyn in Philipsens Obhut; eine junge Dame, die seine Neigung erwiderte, versorgte ihn durch Herrn Philipsens Hilfe mit Trost (weder der Körper noch die Seele litten Mangel). Mit gemischten Gefühlen, Empörung, Spott und der Furcht, daß etwas Schlimmeres passieren könnte, verfolgten wir die Ereignisse des Tages. Als das Begräbnis vorüber war und die Gendarmen bis in die Nacht als Staffage zur Unterdrückung der Revolution dienten, überwog der Spott den Ingrimm.

Den bezeigte von dem Tage an das Militär Jörgensen gegenüber bei jeder Gelegenheit. Die Offiziere verließen das Lokal, wenn er eintrat; ich glaube zu erinnern, daß sie seinen Gruß nicht erwiderten; dagegen grüßten mich von da an die Offiziere; ich betrachtete es nicht als eine Auszeichnung, ich wußte, sie wollten Jörgensen damit sagen, daß auch sie sein Verhalten gegen uns nicht billigten. Das alles reizte den Aufgeregten noch mehr zur Tätigkeit, er mußte in der Sache Heiberg Erfolg haben! Ein Ohrenzeuge erzählte mir, er habe zu seiner Frau gesagt: »Ich werde verrückt, (jeg maa blive gal) ich muß verrückt werden. Gerke und Heiberg lassen mir keine Ruhe«. Er hatte erfahren, daß der Kaufmann Verseck die Petition eingereicht hatte. Verseck erhielt den Befehl, vor dem Magistrat zu erscheinen; es wurde von ihm verlangt, daß er jeden Satz in der Petition motiviere, das konnte er nicht; er war ein guter Patriot aber nicht politisch genug durchgebildet, er erkannte jetzt, als der Inhalt zergliedert wurde, daß die Schrift, die er ohne das volle Verständnis gelesen hatte, von einem Übelwollenden ausgenutzt werden konnte. Er gestand, nicht der Verfasser zu sein. Auf die Aufforderung, diesen zu nennen, erklärte er sehr bestimmt, das verweigern zu müssen, er wolle den Mann nicht in Gefahr bringen. Jörgensen wußte instinktartig, daß Heiberg die Petition geschrieben hatte; darauf beruhte die Verfolgung. Durch Versecks Benehmen wurde sein Verdacht bestätigt, er gewann an Erfolg, wenn Verseck gestehen würde; er ließ ihn verhaften und in das Gefängnis auf dem Rathause bringen.

Der bekannte, allgemein verehrte Doktor Suadicani war damals unser Hausarzt und hat sich in der ganzen Zeit, – es war ein volles Jahr, – als ein treuer Freund bewiesen. Er besuchte uns an dem Tage nach Versecks Verhaftung und sagte in seiner lebhaften Art: »Ich fürchte, es gibt wieder ein Unglück; Verseck ist Hypochonder, die Gefangenschaft kann ihn dahin bringen, daß auch er sich das Leben nimmt.« Dieser Ausspruch versetzte mich in eine furchtbare Aufregung. Wenn das Schreckliche geschah, mußte es jetzt wie eine Schuld auf uns lasten. Heiberg hatte meinem Gefühl nach die Pflicht, sich als den Verfasser zu nennen; er und nicht ein anderer mußte für den Inhalt verantwortlich gemacht werden.

Meinem Manne verschwieg ich meine Ansicht, wie ich überhaupt während der ganzen Zeit alles Aufregende von ihm fernhielt. Ich ging zu Hanke und bat um seine Meinung. Er widerlegte meine Ansicht, nannte es töricht und unverantwortlich, wenn ich Doktor Heiberg veranlassen wollte, sich noch mehr in Gefahr zu bringen; der säße schon schlimm genug darin. Er fügte dann noch hinzu, daß er auf Versecks Wunsch die Petition gelesen und einige Stellen verändert hätte. Danach sei es nicht mehr Heibergs Arbeit, er sei nicht mehr verantwortlich, weil ein Wort den Sinn schon verändern könne. Mit Verseck sei es auch nicht so arg, man werde sich mit ihm in Verbindung setzen können und Verhaltungsmaßregeln geben. Dies geschah auch, mancher Brief ist durch Philipsen dem Gefangenen überliefert; er erwies sich in den Verhören so vorsichtig und korrekt, daß Jörgensen ihn mit Erstaunen und Ärger entlassen mußte.

Eine Hoffnung blieb dem Polizeimeister noch: die Stube meines Mannes. In ihr lagen Briefe und Schriften, die ihn der Amnestierechte berauben könnten. Er kam häufiger zu uns. Heiberg wurde heruntergerufen, um von Jörgensen zu hören, daß seine Angelegenheit viel schneller erledigt würde, wenn er, Jörgensen, durch die Einsicht seiner Papiere sich überzeuge, daß er nicht mehr Politik treibe. Ich wunderte mich jedesmal, daß Jörgensen den Versuch machte, meinen Mann zu überlisten, ihn in die Falle zu locken. Heiberg wurde immer heftig, erklärte, seine Weigerung beruhe auf seinem Recht, von dem er kein Jota aufgebe. Wenn ich sah, daß die beiden auf den Siedepunkt gelangten, sagte ich sehr bestimmt: »Lieber Heiberg, rege dich nicht auf, der Herr Polizeimeister hat gar nicht das Recht, dich in deiner Privatwohnung zu belästigen, gehe in dein Zimmer und beruhige dich.«

Die beiden gingen dann, der eine nach oben, der andere die Treppe hinunter. Jörgensen begegnete dabei einmal unserem Geschäftsführer Brandis und sagte ihm: »Es ist merkwürdig, daß die Menschen hier so aufgeregt sind. Und es hilft dem Doktor doch nichts; ich bringe ihn in das Zuchthaus, verlassen Sie sich darauf.« Diese naive Auffassung überraschte mich nicht. Der Mann war nicht ganz zurechnungsfähig, wenn er sich wunderte, daß wir uns nicht mit Gleichmut unsere Existenz und Freiheit bedrohen lassen wollten. Unser Haushalt mußte fortgeführt werden, wir konnten die Herren im Geschäft und den Hausdiener nicht entlassen, weil wir wie unser Verteidiger ein nahes Ende erwarteten.

Der bekannte Rechtsanwalt und Politiker Lehmann hatte seinen Beistand angeboten; er ist häufig in dieser Angelegenheit bei uns gewesen und war ein liebenswürdiger Mann. Es gelang ihm, für uns ein günstiges Urteil zu erhalten.

Das Appellationsgericht in Flensburg entschied für uns, es liege nichts vor, was eine Schließung des Geschäfts begründe. Jörgensen wurde beauftragt, die Buchhandlung zu öffnen. Das tat er als Polizeimeister, und als Bürgermeister (er war beides) schloß er wieder zu. Solchen himmelschreienden Willkürlichkeiten waren wir von seiten dieses fanatischen Geßlers preisgegeben. Jörgensen sprach jetzt von einer Haft im Gefängnis auf dem Rathause. Doktor Suadicani widersetzte sich und erklärte den Gesundheitszustand derart, daß die Beraubung der Freiheit und der häuslichen Pflege meines Mannes Tod herbeiführen könne. Trotzdem sprach Jörgensen in einer Magistratssitzung die Absicht aus, den Doktor zu verhaften. Da erhob sich der Stadtsekretär Rohwedder und verweigerte seine Zustimmung, er sei Studiengenosse des Doktors und wisse, daß er immer nervös und kränklich gewesen sei, einer Verhaftung fehle jegliche Begründung und könne einen Justizmord zur Folge haben. Die übrigen Beisitzenden, dadurch ermutigt, stimmten wie der Stadtsekretär. Zwei Tage darauf war Rohwedder in den Ruhestand versetzt. Herr Rathgen, ein sehr befähigter Beamter, er ist jetzt in Berlin, erhielt seine Stelle.

Das sich wiederholende Verlangen von Jörgensen, die Schriftstücke in Heibergs Stube zu prüfen, erhöhte ihre Gefährlichkeit dermaßen, daß verschiedene Bürger sich erboten, bei Nacht das Zimmer zu räumen. Das Unternehmen war gefährlich, wer ein Amtssiegel verletzte, wurde mit dem Zuchthause bestraft. Unsere Freunde meinten, sie wollten mit Hilfe einer Leiter durch ein Fenster hineinsteigen; wir lehnten die Hilfe ab, es war zu gefährlich für den Unternehmer, vor allem die Art der Ausführung. Nachbarn konnten die Leiter wie den Einsteigenden bemerken.

Ich holte mir wieder Ratschläge bei meinem Freund Salomon. Er sagte sehr bestimmt: »Gefährlich erscheinende Papiere müssen entfernt werden, das müssen Sie tun, man darf nicht andere in Gefahr bringen, wenn man selbst handeln kann. Die Sache ist auch nicht so schwierig, wie Sie glauben; die Schrauben an dem Türgriff werden entfernt, der Drücker wird abgenommen, das Band fällt ab und hängt an dem Türrahmen. Ein Dietrich öffnet das Schloß. Wenn Sie geräumt haben, wird der vorige Zustand wieder hergestellt und hinterläßt keine Spur, die Verdacht erregen kann.« Diese Auffassung war neu und praktisch, ich entschloß mich zur Ausführung. Ich gewann den Schlosser Müller, den Verlobten meines Mädchens; wir gelobten uns gegenseitige Verschwiegenheit und benutzten eine nicht zu dunkle Nacht zur Ausführung. Ich zog drei Paar Strümpfe über die Füße, damit mein Hin- und Hergehen nicht gehört werde. Erst nahm ich von dem langen Schreibtische die Papiere, dann selbige aus den Aktenschränken und aus dem Sekretär. Ich holte alles heraus, brachte es in einen dunklen Raum, wo meine Lampe keinen Schein nach außen warf. Briefe und Handschriften mit Heibergs Handschrift packte ich in einen Sack, legte dann das übrige vorsichtig einzeln auf den Platz, von dem ich es genommen hatte, zurück. Die Arbeit dauerte mehrere Stunden, Müller besorgte die Tür und ich die Säcke. Am frühen Morgen kam unser Schlachter, Herr Lietz, der sich hier und später als ein Freund bewiesen hat, mit seinem Wagen, lud die zwei großen Säcke auf und verwahrte sie für uns in einem Raum seines Hauses.

Ich schlief wenig in der Nacht, mich fror, ich hatte in dem schrecklichen Jahre immer kalte Hände und Füße, keine Bekleidung vermochte die Kälte, die durch Angst und Sorge entstand, zu beseitigen. Müller hatte mir gesagt, daß es vorkomme, daß der Schlüssel ein künstlich geöffnetes Schloß nicht öffne; ich möge für den Fall zu ihm schicken, das habe keine Bedeutung. So sagte er, und ich dachte, wenn der Schlüssel versagt, wird Jörgensen Verdacht schöpfen, der kleinste Umstand kann verraten, was geschehen ist, und dann kann er mich fassen, wie er es so gern tun wird. Die erwähnte Möglichkeit lag jetzt vor; denn Jörgensen sollte für einen Klienten Akten aus meines Mannes Zimmer herausnehmen. Ich verriet Heiberg meine Angst nicht, darauf sagte er: »Ich fürchte, daß Jörgensen bemerken wird, daß du die Papiere vom Schreibtisch genommen hast. Seit sieben Monaten liegt der Staub umher; es werden da freie Stellen sein, wo das Papier entfernt ist, das wird er sehen.« »Wohl möglich, lieber Heiberg, quäle mich aber, ich bitte dich, nicht mit neuen Befürchtungen, ich kann nicht mehr vertragen, meine Kräfte versagen mir, und ich brauche sie so notwendig.« Ich ging in die Küche, sorgte für den Mittagstisch und für den Abend, die Ablenkung tat mir gut, sie stärkte mich für die Aktion, die ich so sehr fürchtete und doch herbeisehnte als Erlösung.

Die schlimmste Gewißheit ist leichter zu ertragen als die Ungewißheit des Kommenden. Jörgensen ließ sagen, er könne die Akten heute nicht heraussuchen, er sei verhindert. Ich begreife heute nicht, daß ich diese und ähnliche Tage habe überkommen können. Am nächsten Nachmittage war ich bei meinem Manne, er lag auf dem Sofa, ich saß am Fenster und las vor, da sah ich Jörgensen auf unser Haus zugehen, dann hörte ich unten ein Geräusch, Heiberg bemerkte es auch und fragte: »Wer mag da sein?« »Sicher nichts, das dich beunruhigen kann,« brachte ich mühsam über die Lippen, mein Herz pochte bis zum Zerspringen, mir versagte der Atem, dann hörten wir nichts mehr. Nach einer kleinen Weile brachte das Mädchen die Akten, und nun hörten wir deutlich das Schließen der Tür. Wir reichten uns tiefbewegt die Hände und tauschten glückselige Worte, dann bat ich Heiberg, zu entschuldigen, daß ich ihn verlasse, ich müsse mich durch einen Spaziergang erfrischen. Ich pflege hinauszugehen, wenn ich mich bedrückt fühle. Von jeher und noch heute atme ich auf in der Natur, sie gibt mir Mut und Kraft, das Schwere zu ertragen, und mit Dank das Gute zu erkennen; sie zeigt mir die Weisheit und Güte des Gottes, den ich anbete; in ihr sehe ich, daß alles, selbst das Kleinste, in dem Haushalt der Natur nützlich ist, seine Bestimmung hat, und daß auch ich die Aufgabe habe, den Platz auszufüllen, auf dem ich stehe.

Die Absicht, Heiberg in Haft zu bringen, beruhte naturgemäß auf der Hoffnung, daß der Gefangene, mürbe gemacht, etwas gestehen werde, was die Amnestie aufhob. Dann konnte Jörgensen den Prozeß gegen ihn einleiten, das Ziel seines Strebens erreichen. Es gab jetzt nur noch ein Mittel, um die Haft, die von den zuständigen Seiten abgelehnt worden war, zu bewirken.

In der Stube lagen politische Briefe und Schriften, die mußte er haben! Ob er durch andere die Vollmacht erhielt oder sich diese selbst ausstellte, haben wir nicht erfahren, aber er kam und erklärte, daß er die Revision vornehmen werde. Die Magistratsherren begleiteten ihn mit neun Polizisten. Diese stellten sich vor die verschiedenen Türen des Hauses. Herr Rathgen war dem Polizeimeister bei der Durchsuchung behilflich. Die anderen Herren sahen stumm und ängstlich, wie ein Paket nach dem anderen beiseite gelegt wurde. Jörgensen handelte mit Umsicht und Ruhe, die sich aber in Erregung verwandelte, als er nicht fand, was er hoffte. Der Sekretär mit Schubladen und geheimen Fächern ward entleert, und als auch dies Nachspüren erfolglos war, sprach er mit vor Zorn bebender Stimme: »Die Stube werde nicht wieder versiegelt, sie stände dem Doktor Heiberg zur Verfügung.« Dann stürmte er die Treppe hinab und über die Straße zu seinem Vertrauten, dem Physikus Hauschild. Die Polizisten entfernten sich, ebenso die Magistratsherren. Der Senator Hensen aus dem Friedrichsberg schwenkte im Abgehen seinen Hut und rief laut und fröhlich: »Wäre ich reich, dann schenkte ich heute den Armen tausend Mark; sie haben nichts bei unserem Doktor gefunden!« Über die Straße tönte eine zornige Stimme. Der Tag war heiß, die Fenster waren überall geöffnet, und so hörte man deutlich, wie Jörgensen seine Wut austobte. Diese Niederlage war ihm rätselhaft. Warum hatte denn Heiberg so hartnäckig die Durchsicht seiner Papiere verweigert? Die Akten, der Wust von Makulatur, konnten ihm nicht schaden, da steckte etwas im Verborgenen. Wenn Herr Jörgensen und seine Freunde noch leben und zufällig von diesem Bericht hören Jörgensen ist hochbetagt 1910 in Kopenhagen gestorben., dann wird ihnen das Rätsel gelöst; sie erfahren, was ich tat und tun mußte gegen empörende Willkür, für die Ehre meines Mannes und unsere Existenz. Seitdem sind dreiunddreißig Jahre verflossen, mein Vergehen, wenn es so genannt werden kann, ist verjährt, ich kann jetzt darüber sprechen.

Aus: Asta Heiberg, Erinnerungen aus meinem Leben.
(Berlin, Carl Heymann.)


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