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Septemberfahrt.

Von Adolf Köster.

Wir haben eine Septemberfahrt gemacht. Nach Schleswig zu. Aber vom Meer her. Es war keine Herbstfahrt. Nimmermehr. Die Wälder standen in schwerem Grün, und die Sonne ging klar auf und unter. Aber es war auch keine Sommerfahrt, sorglos wie Hundstagsferien. Vielmehr lag etwas Drohendes oder Trauriges in dem Ganzen. Es war alles zu klar. So wie gesättigte Säuren klar sind, dicht vor dem kritischen Punkt, wo sie kristallisieren.

Einige mögen dies Zwischenland, dies Septemberland nicht. Andere gerade. Zum Beispiel einer, den wir alle sehr gern hatten, liebte den September gerade aus diesem Grunde. Er starb mit 23 Jahren. Zufällig im September.

Heute ist es schon vorbei. Heute ist er schon da, der Herbst. Auf der Elbe lagen Nebel, und die Sonne ging in Schleiern auf. Aber neulich auf der Schlei war es noch nicht so. Es waren vielleicht die letzten Sommertage. Oder schon die ersten vom Herbst. Man kommt ganz durchhin. Denn irgendwo und -wann muß er doch anfangen. Pastor Lachmann würde so sagen: Es gibt Dinge, die sind nur dadurch da, daß sie noch nicht da sind. Denn wenn sie da sind, dann sind sie schon nicht mehr.

Kiel ist ein wenig schmutzig. Ich freue mich immer, wenn ich auf dem Dampfer bin. Denn draußen auf der Föhrde wird es alsterhaft schön. Aber die Stadt selbst ist häßliche Halbkultur. So wie Dortmund und Essen.

Schade, daß das Schönste von Kiel so wenig offen liegt: die Werften. Es ist zu eng da. Man hat keine Distanz. Wenn ich hier in Blankenese auf der Brücke stehe, sehe ich das eiserne Riesenspinnweb der Vulkanwerft mit bloßem Auge. Und wie prächtig liegt Blohm & Voß da, von Wiezels Hotel aus. Dabei ist aber die Frage, ob beide mit dem Glashaus wetteifern können, das ich in Kiel sah. Nämlich dort ist der Eisenpalast verdeckt mit hunderttausend Glasscheiben. Sieht natürlich nun ganz anders aus. Märchenhaft nicht. Aber die neue Michaeliskirche ist gar nichts dagegen. Wer einmal durch das schimmernde Eisenfachwerk der neuen Vulkanwerft hinauf in den blauen Himmel geblickt, wer gesehen hat, wie bei Nacht die roten Flammenschatten von innen riesenhaft gegen die gläsernen Wände des Kieler Palastes schlagen (das kleine graue Kieler Schloß wirkt lächerlich daneben), der weiß: es ist nicht eine Renaissance, in der wir leben, es ist etwas gänzlich Neues, gänzlich Neuerworbenes, das uns steuert.

Wir fuhren mit einem Schiff, über dessen eigentliche Größe ich während der ganzen Reise nicht klar werden konnte. Nämlich als Knabe war ich schon mit ihm gefahren, als die alte »Groß« noch lebte und wir sie jährlich heimsuchten in dem langen Strohhaus an der Schlei, mit dem tiefen Garten, von dem aus man gleich in das Hüholz steigt. Und das Schiff war riesengroß in meiner Erinnerung verblieben. Ich war platt, als ich es nun am Kai liegen sah. »Wie ein Stader Dampfer« – sagte ich. Während der Fahrt aber wurde es zusehends größer. Endlich einigten wir uns: es sollte sein wie ein Altonaer Fischdampfer.

Warum das Seewasser wohl mehr schäumt als das Elbwasser? Wie wir langsam rückwärts aus den vielen Schiffen drehten, schwammen wir in einem schimmernd weißen, dichten Gischt. Und wie lange hält er sich! Und wieviel munterer quirlt die Schraube in diesem reinen Grün als in dem Schmutz, der zwischen Steinwärder und St. Pauli schwimmt und der bei Blankenese noch lange nicht alle ist!

Es war Nachmittag. Was zuerst kam, hat man noch alles gut in Erinnerung. Jeder, der nach Korsör fährt, kennt das Bülker Feuer. Aber dann geht die Hauptstraße gerade aus oder rechts ab. Wir aber biegen in leiser Drehung links hinüber. Nicht zu weit. Denn auch Eckernförde lassen wir liegen. Quer über die Bucht gleiten wir, eine Stunde, zwei Stunden. Wie in einer großen sonnigen Glocke stehen wir. Kaum verrät im Westen die unruhige Linie des Horizonts das Land. Das Schiff ist doch groß. Unten das Vordeck, blank und spitz. Hinten, bis wo die Fahne weht, auch ein ziemliches Stück. Und das Oberdeck, wo wir stehen, ist nicht gerade winzig.

Aber nun sieh doch diesen Horizont im Osten an. Diesen schneidend scharfen Riß, der quer durch das Ganze geht. Wie glasklar die Luft ist! Wenn wir nun wieder nach Rio führen wie damals, dann würden wir ihn morgen und übermorgen schon gar nicht mehr sehen. Aber heute ist er uns noch neu, ganz neu, er schmerzt fast.

Ja, er schmerzt. So klar ist es aber auch im Sommer nicht. So klar stehen die Segel nur im Herbst. Es ist noch kein Herbst freilich. Sieh doch nur, wie der schwedische Schoner so weiß und still vorübergleitet.

Die Schlei ist kein Fluß. Für eine Bucht ist sie zu lang und schmal. Sie ist ein Fjord ohne Berge. Früher sagte ich Schlei, als ob ich Gießen sagte oder Dortmund. Nach unserer Septemberfahrt gehört sie zu meinen schönsten Entdeckungen.

Ganz leise und klug zeigt sie sich nach und nach. Vorn bei Schleimünde war es noch wie überall: ein Feuerturm, ein Lotsenhaus, Sand, Öde. Allmählich, wie das Schiff sich weiter drängt, tritt es hervor. Die Wiesen sind grün. Aber nicht wie an der Ringstraße. Oder auch in Hamm. Kennt ihr das jütische Grün, das dänische Grün, das Jens Peter Jacobsen gemalt hat, der Dichter? So war es. Und darauf liegen Kühe. Wiederum andere wie in der Großen Allee oder in Eppendorf. Braune Kühe zumeist. Ich bin kein Maler, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Auf einer Wiese stand eine einzige braune Kuh. Nun lag es sicher an der späten Sonne. Aber es war etwas ganz Neues und Frohes, was England und Italien nie sehen werden – dünkt mich. Denn es war ja kein Fluß, auf dem wir fuhren. Blauweiße Staatsquallen mit dem roten Punkt in der Mitte taumelten durch das grüne Wasser hin und her. Und es roch nach Seetang und Salz. Und doch war alles Heimliche und Endliche der Flußlandschaft um uns her. Denn das Wasser ist nicht halb so breit wie die Elbe bei Blankenese. Und die strohdachbeladenen langen Häuser traten mit den dicken Bäumen, die sie fast erstickten, dicht und ohne Deich an das Ufer heran. Keine Flut bedroht sie.

Nun enthüllte es sich mehr und mehr. Sanfte Hügel heben und senken sich. Uralter Buchenwald läßt seine Wurzeln vom Wasser bespülen. Vom Schiff aus sehen wir durch dicke, glatte, blanke Stämme in schwarze Tiefe.

Nun eine kleine Fischerinsel. Mit roten Fischerhäuschen. Die Boote haben die Netze hoch hängen. Sieh nur das Spiegelbild! Klar wie in einem Brunnen. Bei Isola Bella spiegeln sie sich auch. Und auf dem Königssee nicht minder. Aber so spiegeln sie sich nur hier. Woran liegt es nur?

Ach, es liegt wohl auch am Herbst, vielmehr am September ... Aber ist das nicht Kappeln, der kleine Turm dort über dem Hügel?

Erst kommt eine Biegung. Die Sonne lastet schwer auf dem dunklen Grün der Wipfel. Ein Gehöft liegt am Waldrand. Ganz weiß die Häuser. Schwarz das Stroh. Mit quellendem grünem Moos darüber. Und was für ein schöner Name: Rabelsund.

Es wird noch welliger. Aber die Hügel ziehen sich die Reihen der Korngarben. Ihr Gelb reicht in das Blau des Himmels. Scharf Umrissen steht eine Frau mit weißer Haube gegen den Horizont.

Das Schiff wurde immer größer, je tiefer wir in das Land drangen. Immer zahlreicher wurden die grünschwarzen Strohdächer. Und schon verschwand ab und zu hinter dem schwärzeren Walde die Sonne. Dann wurde es kalt, und wir freuten uns der warmen Decke. Die Kühe brüllten. Im Wasser tauchten ab und zu Heringszäune auf, niedrig, aus schwarzem Geflecht, eben herausragend. Auch kleine Katen standen am Ufer, die aus Tür und Fenster qualmten. Es waren Heringsräuchereien.

Eine kleine, muntere Stadt mit bimmelnden Kreisbahnen, einer Pontonbrücke und zwei langen Schloten. Sonst aber still und gedrückt und verschlafen liegend wie alles hier.

Fast hätte ich die Mühlen vergessen, die Windmühlen. In jeder Richtung erblickst du mindestens zwei. Große Mühlen, manche mächtiger wie eine Kirche. In einer sind wir gewesen. Man sah bis Düppel.

In Kappeln stiegen wir aus. Es ist ein wenig wie Lauenburg, aber doch wieder ganz anders. Wir wohnten in dem alten Haus, wo die Betten noch in der Wand stehen. Von hier aus durchquerten wir das Land, das in der Geographie Angeln heißt, und das zum fruchtbarsten von ganz Schleswig-Holstein gehört.

Wir kamen durch stundenlange Wälder mit tiefen Schluchten, in denen ein wenig Wasser rieselte. Plötzlich stand man am Rand und sah weit hinten die blaue See, und wenn man das Glas nahm, die dänischen Inseln. Oder wir wanderten auf schmalen Pfaden durch mannshohes Korn und überstiegen Knicks, viel mächtiger als in Holstein. Dann waren wir auf einem alten Ritterhof mit Burggraben und Hängebrücke, drei Stunden von jedem Ort entfernt. Das Herrenhaus in Efeu eingewachsen, zwischen hundertjährigen Trauerweiden. Und nirgends Ödland, sondern alles ringsum stand schwer in Frucht. Die Sonne ließ keine Wolken aufkommen, und die blauen Pflaumen bekamen vor Freude lange Risse.

»Ein reicher Herbst,« sagte jemand.

Die Gasthäuser waren fast leer. Der große Garten vom Strandhotel lag faul in der Sonne. Die Stühle standen schief. Auf den Tennisplätzen sah hier und dort ein grünes Hälmchen hervor. Ein einziges Ehepaar wohnte noch da. Der Mann angelte zwölf Stunden täglich.

Eines Abends kamen wir bei Sonnenuntergang durch das alte Hüholz. Wir hatten lange auf einem alten Hünengrab gesessen, und der Onkel hatte uns von 64 erzählt, wo sie hier ihr Silberzeug vergruben. Es war ziemlich verdämmert. Denn das Grab lag tief im Wald. Je mehr wir nun an den Rand kamen, desto sonniger wurde es. Aber was für eine Sonne! Zuerst spielte sie ab und zu einen Kreis an einen Baum. Dunkelgoldig. Dann sah man schon Spinnweben in Gold getaucht. Dann das ganze Unterholz. Immer mehr rot, brandrot, karmesinrot, wie jemand sagte. Die Buchenstämme standen wie braunrote Holzschäfte da, und der ganze Boden, weich, voll altem Laub und Bucheckern, wurde ein roter, dunkelpurpurner Teppich.

Es dauerte nicht lange, so war alles weg. Nur die Windmühlenflügel von Kappelholz tauchten noch mit ihrer äußersten Spitze in das rote Sonnenlicht.

Ein Schiff brachte uns noch weiter hinauf – bis Schleswig, bis in das Herz der ganzen Halbinsel. Die Schlei bleibt nicht gleich eng. An einer Stelle erweitert sie sich zu einem See, größer als der Ratzeburger. Was für Höfe haben wir noch gesehen! Was für schimmernde Windmühlen! Aus diesem Zipfel von Angeln stammt ja eine unserer tüchtigsten Frauen, Helene Voigt-Diederichs. Bei Sieseby sieht ihr alter Gutshof herüber, durch dicke Ulmen hindurch. Als das Schiff anlegte, wurde gerade ihr Zweirad nach Jena verladen. Wir erinnerten uns der klugen Frau und ihrer sanft nachtastenden Art und ihrer köstlichen Kinder und der lustigen Bowlenabende auf dem Jenenser Marktplatz und schrieben ein Plattdeutsches auf eine Karte und hängten diese in das Rad – womit es sie begrüßen mag bei seiner Ankunft.

Kurz vor Schleswig ward es schon sehr kalt. Diese Stadt ist unschön, was das Neue anbetrifft. Aber was unten liegt an der Schlei, ist von einer köstlichen Unordnung. Vielleicht etwas schmutzig. Aber so bunt und eckig und leuchtend.

Die Schlei ist kein Fluß. Sie ist ein Fjord ohne Berge. Das grüne Wasser spielt hier mitten in Schleswig an die Gärten, meilenweit von aller See. Ganz neu und merkwürdig.

Endlos ist der Weg nach dem Bahnhof, zumal wenn keine Pferdebahn fährt und keine Droschke. Dafür war der Wagen aber um so besser, den wir erhaschten. Es war nämlich ein dänischer, mit Lederkissen und weichen Ledersitzen. Selbst zwei scheltende Nordmark-Enthusiasten waren scheinbar sehr zufrieden mit ihm. Kurz vor der Abfahrt stieg ein bärtiger Mann mit dünner, spitzer Nase ein. Es war unser Blankeneser Nachbar Frenssen. Im lustigen Geplauder über dies und das und nicht zuletzt über seinen neuen Baasroman verflogen die Stunden. Als wir uns in dem gelben Lichte des Bahnhofs Adieu sagten, schienen die Höfe und Windmühlen, die Buchen und die Heringszäune und die grünen Wiesen und die braunen Kühe wie lebhaft geträumte Bilder.

Es sind erst ein paar Tage her. Aber mich dünkt, nun ist wirklich Herbst. Die dichte Lindenkrone vor meinem Fenster bekommt hie und da ein Loch. Und auch wo die Blätter noch alle stehen, wird es heller von dem durchsichtigen Gelb. Nun kommen noch ein paar warme Tage und dann noch ein paar und dann ein Wind oder ein Regen, und dann ist's aus.

Wie man ihn immer am Gleichen merkt.

Einmal war es noch ganz grün alles und fest und unverschleiert. Wir bogen um die Straßenecke einer kleinen Stadt. Da glitt ein angebräuntes Blatt in langsamen Spiralen vor uns nieder. Und nun war er da.

Dann wieder das Jahr, wo wir in den hessischen Wäldern wohnten. Wo wir jeden Morgen eifersüchtig über den Ton der Farbe wachten, und dennoch begann es: hier ein Fleck und da ein Gesprenkeltes und endlich alles in klarem Gelb.

Und in diesem Jahre nun die dichte Lindenkrone. Alle haben sie gescholten, die den Sommer über in dieser Stube waren. Denn der Schatten, den sie hier hineinwirft, ist in der Tat ungeheuer. Aber was wußten die jungen Weißgekleideten von den heißen Mittagen und Vormittagen, wo ich hier sicher saß wie in einem kühlen Stein? Heute hüpfen schon sonnige Flecken über meine Bücher. Und wenn ihr in einigen Wochen wiederkommt, dann wird der ganze Tisch in freier Sonne stehen, und auch das Nelkenbild und die vertrockneten Rosen, die hinten an der Wand hängen, alles wird hervorgezerrt sein in das Licht. Die Linde wird kahl, und dann wird es Zeit werden, daß man abreist.


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