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Schipper Harms.

Von W. Peper.

Auf einer kleinen Anbaustelle am Wege, der zu den großen Höfen abseit vom Städtchen führte, wohnte Schipper Harms. Die Schifferjacke und die blaue Mütze paßten nicht recht auf die dunkle Hausdiele mit den kleinen Ställen, ebensowenig die beiden verstaubten Modelle von ein paar schwerfälligen holländischen Kuffen. Auch Harms paßte nicht unter die Menschen; mit den Nachbarn hatte er keinen Verkehr. Nur die Jungen, manchmal auch die kleinen Schulmädchen wanderten gern vorbei an der Hofstelle, besonders wenn der Alte bei irgendeiner Arbeit im Garten oder auf den beiden Wenden Land zu sehen war, die ihm gehörten. Da kam er wohl langsam an den flachen Graben hinan und reckte die große, braune, verarbeitete Hand über den Dornenzaun. »Min Jung, magst'n Appel?« fragte er dann in seiner sachten Art. »Hier, min lütt Deern, kumm, do de Hand op!« Und begehrliche, glückliche Kinderaugen blickten ihn dann oft dankbar an; still und scheu glitten seine harten Hände dann auch wohl über die Flachsköpfe hin, die er besonders liebte.

Die Leute aber sagten, er hätte seinen Sohn auf dem Gewissen.

Das sollte lange her sein, und die älteren Schiffer des Städtchens wußten, daß es sich wirklich so verhielt.

*

Was war Harms damals für ein glücklicher Mensch! Er hatte als Vollmatrose für ein Hamburger Kontor gefahren. Was er sich erspart hatte, und was er von seinen Eltern an einer kleinen Hinterlassenschaft geerbt, langte gerade, einen Ewer zu kaufen, und so fuhr denn Harms Stückgut nach Hamburg und zurück. Wenn aber mit der Flut die Schiffe in den kleinen Heimathafen einzulaufen pflegten, stand am Bollwerk die junge Frau Anna mit ihrem flachsköpfigen Hinrich auf dem Arm. Wenn der Ewer vertaut war, sprang Fritz Harms an Land und ließ sich den Jungen geben, und zwei glückliche Menschen wanderten nach Hause. Als der Junge größer wurde, kletterte er am Deck herum, kroch durch die Luken, schlug sein Quartier in der Kombüse auf und schaute auch wohl sehnsüchtig in die streng verbotenen Wanten hinauf. So war er zwölf Jahre geworden.

Schon zwei Jahre lang hatte der Vater ihm versprochen, ihn mit hinaufzunehmen nach Hamburg. Die »Herrlichkeit«, wo diese Schiffer anzulegen pflegten, war in Hinrichs Träumen ein Märchenland.

Harms hatte Steine geladen von einer der großen Ziegeleien am Strom. Das Schiff lag mit tiefem Bord schwer im Wasser. Am Nachmittage wollte man mit der passenden Tide den Hafen verlassen. Da wurde das Wetter böig, und von der Seeseite her zog grauer Dunst. In Frau Annas Augen aber flackerte eine gewaltsam unterdrückte, sie unruhig umhertreibende Angst. Endlich hielt sie es nicht mehr aus.

»Mann, bleib heute noch liegen. Der Sturmball ist hoch, und ihr kriegt zu schwere Fahrt.«

»Ach was,« lachte Harms sorglos, »wenn man Euch Frauensleute hört, könnte man das ganze Jahr in der Kombüse liegen; wenn ich nicht rechtzeitig abliefere, kann ich bezahlen.«

»Dann laß Hinrich heut bei mir bleiben«, bat die Mutter. »Ich hab so eine Angst auf mir. Ich weiß mir nicht zu helfen. Laß Hinrich hier, Mann. Laß ihn hier; es passiert was.«

Als könnte sie ihr Kind schützen, umfaßte sie es. Hinrich machte sich los, voller Sorge, daß ihm die Reise in das Märchenland, dies Ziel seiner Jugendträume, wieder vor den Augen schwinden könnte. Nichts half der verängsteten Frau, und am Nachmittag gingen die drei zum Hafen.

In den Blöcken rollten die Schoten, die Segel gingen hoch und der Knecht löste die Vertauung. Da ging Anna noch einmal an ihren Mann hinan: »Laß mir den Hinrich hier; ich weiß nicht, was es ist; aber die Angst bringt mich um.« Heißer als ihre Worte flehten ihre Augen. Der sonst so gutmütig ruhige Schiffer brummte unwirsch: »Ach was, Weiberkram, was soll dem Jungen passieren, wenn ich dabei bin?«

Dann reichte er der Frau die Hand zum Abschied. Sie ging nun still über die Planke zurück; die wurde schnell fortgezogen, und langsam setzte sich das Schiff in Drift. Anna stand still am Bollwerk; sie sah die Gestalt ihres Knaben neben dem Vater an der Steuerpinne stehen. Der Ewer mußte zuerst aufkreuzen gegen den Wind, und fliehend und wieder nahend schwand er zuletzt im Gewühl der braunen und weißen Segel. Die Frau ging dann heim mit wehem Herzen; ihr war's, sie könnte ihr Kind, ihr einziges, nie wiedersehen.

Dann kam die Nacht, die entsetzliche Nacht. Schlaflos, ruhelos stand die Mutter und starrte durch die Fensterscheiben hinaus in das wüste Gejage der Wolken, durch das nur verloren ein flüchtiger, kahler Streifen Mondlicht herabbrach.

Der Nordwest peitschte das Flutwasser in die Elbe hinauf. Harms und der Knecht hatten schwere Arbeit; das Schiff lag für den unruhigen Wellengang zu tief. Die Luken waren dicht gemacht; den Knaben hatte der Vater in die Koje geschickt zum Schlafen.

Wenn der nur hätte schlafen können! An die Planken platschte, gurgelte, dröhnte das Wasser. Ein heulendes, rauschendes Getöse, das noch durch die Deckplanken zu spüren war.

In der schweren, unsichtigen Luft glitten wie Riesenschatten rechts und links die Schiffe vorbei, mit kümmerlichem Schein, der in breitem Dunstkreis zerfloß, glimmerten wie Raubtieraugen die Laternen. Die straffgefüllten Segel schlugen knatternd. Da geriet am Klüverbaum die Sache in Unordnung. Der Knecht lief nach vorn und arbeitete an den Schoten herum. Harms, der das Steuer genommen hatte, unterließ es ein paar Augenblicke, das Fahrwasser abzulugen, weil er die Arbeit des Knechtes im Auge hielt.

Da glinstert vor ihm roter Schein auf; es faucht und stampft. Wie ein riesenhaftes Raubtier springt es auf. Harms reißt das Ruder hart Backbord. Zu spät!

Ein Zittern durchläuft das kleine Schiff. Ein knirschendes Scharren, ein splitterndes Krachen – und der Koloß gleitet ruhig weiter.

Der Knecht war ins Wasser hinabgefegt. Harms rief vom Bord herab; aus dem gurgelnden Rauschen und dem hellen Sturmpfeifen klang aber kein Menschenlaut wieder.

Die Stunde, die nun anbrach, grub sich dem armen Manne tief und furchtbar ins Herz. Der Dampfer hatte die Planken des Ewers vorne aufgerissen, und das Schiff fing sofort an, schwer Wasser zu ziehen. Der Schiffer drehte bei und hielt auf das Land zu, um den Ewer am Ufer auf Grund zu setzen. Da! Sein Junge in der Koje! Er muß ja herauf!

Harms stürzt vom Steuer fort. Da triff's wie ein dumpfer Schlag sein Gehirn. Die Deckverkleidung ist beim Stoß zusammengedrückt und versperrt den Kojeneingang. Und der Junge ist drinnen! Der Schiffer stürzt hin und her über Deck, ein Beil zu finden, ein Beil!

Nur noch die Planken sprengen, und dann mit dem Jungen ins Boot! Das ist die einzige Rettung. Er merkt es; keine Viertelstunde mehr geht das Schiff.

Kein Beil, kein Stück zu finden – nichts, nichts!

Grauenvolle Angst will den Vater überwältigen. Da! Ein Gedanke der Rettung! Wenn der Junge sich durch die kleinen Kojenfenster zwängen könnte. Harms springt hinab in das tanzende Boot, das hinten nachschleppt.

Er schlägt mit der Faust an das Fenster. Der Junge öffnet es. Mit Augen, in denen das Entsetzen starrt, schaut er den Vater an und schluchzt:

»Min Vadder, watt is los? Mutt ik verdrinken? Help mi doch, min Vadder, help mi doch!«

Harms ergreift seines Jungen Arm: »Flink, min Jung, kannst du nich dör't Finster? Kumm! Kumm!« Er zerrt und zieht. Es ist unmöglich. Da sinkt des Vaters Hand schlaff zurück. Ihm ist, als schlüge das Wasser zusammen über ihm, als läg er mit seinem Jungen auf tiefem Grunde.

Der Knabe weint leise.

»Watt schall min Mudder denken, min söte Mudder, wenn ik nich na Hus kam?«

Das Schiff fängt an, ruckweise zu sinken. Der Schiffer umfaßt seines Sohnes Kopf; er küßt den Jungen. »Heinrich, kumm, wi wüllt dat Vaterunser beden!«

Zitternd lallt der arme Junge das Gebet. Des Vaters Worte sind wie ein einziger Hülfeschrei.

Das Wasser plätschert zur Koje herein; es steigt an dem weinenden Kinde herauf, es umfassend und umschmiegend.

»O min Mudder, min söte Mudder!«

Rundum grollt die Finsternis. Dicht sein Gesicht an die Öffnung pressend, sieht Harms in das zitternde, blutlose Antlitz seines Kindes. Die Hände der beiden liegen fest ineinander geklammert; ihre ganze Seele ist in ihre Augen getreten, mit denen sie Abschied nehmen voneinander. Was Menschenseelen leiden können, in jener Stunde erfuhr es der Mann.

Ein neuer Ruck. Das Wasser spült in die Fenster. – Was dann kam – nie trat über die Lippen des Schiffers ein Wort davon.

*

Seit jener Nacht hat Harms keine Schiffsplanke wieder betreten.

Aus: Niedersachsen. (Carl Schünemann, Bremen.)


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