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Ein Brief Friedrich Hebbels.

Hebbel hatte seine Jugend unter dem Druck der bittersten Armut und Not verlebt. Als er auf der Höhe seines Ruhmes stand, besuchte er seinen älteren Bruder Johann, der als Arbeiter in ärmlichen Verhältnissen in Holstein lebte, und den er seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Übrigens hatte er versucht, das Los seines Bruders zu erleichtern, indem er sich um eine Stellung in Gmunden für ihn bemüht und ihm auch das Geld zur Reise dorthin geschickt hatte. Sein Bruder konnte sich jedoch zu einer Auswanderung nach Österreich nicht entschließen. Über das ergreifende Wiedersehen der beiden Brüder berichtet der Dichter seiner Frau:

Hamburg, den 19. Okt. 1861.

Meine teuerste Christine!

Nun habe ich Holstein bereits im Rücken; ich war gestern in Rendsburg und sah meinen Bruder, seit zwanzig Jahren zum erstenmal! Weiter gehe ich nicht hinein und mache über den Ort, wo meine Wiege stand, jetzt für immer ein Kreuz; ich würde fast nur noch Gräber treffen und allenfalls hier und da einen Maulaffen. Daß ich aber wirklich nach Rendsburg gekommen bin, ist mir sehr lieb. Ich verließ mein Hotel gleich nach sechs Uhr und ging zu Fuß auf den Altonaer Bahnhof; die Hoffnung, daß ein Omnibus mich einholen würde, täuschte mich. Um halb acht Uhr fuhren wir ab, und um elf trafen wir in der alten Grenzfeste des deutschen Reichs, jetzt von den Dänen geschleift, bei zweifelhaftem aber sich dennoch gut erhaltendem Wetter ein. Unterwegs hörte ich von einem Schleswiger, einem höchst soliden und gebildeten Manne, haarsträubende Dinge über die dortige Wirtschaft; im Taubstummeninstitut, worin sich fast lauter Deutsche befinden, wird dänisch unterrichtet, in der Irrenanstalt dänisch gesprochen, und in den deutschen Kleinkinderschulen wird gepredigt, die Danebrogsfahne sei unmittelbar vom Himmel heruntergefallen, und wer das nicht glaube, könne nicht selig werden. Rendsburg ist ein Städtchen von fünfzehntausend Einwohnern, durch die Geschwätzigkeit der Eider recht angenehm belebt. Ich nahm mir zur Betrachtung des Orts natürlich nicht viel Zeit sondern eilte nach der Straße, wo ich meinen Bruder zu finden glaubte. Er hatte aber nicht bloß seine Wohnung gewechselt sondern auch die Stadt mit dem Lande vertauscht, und eine zahnlückige alte Frau wies mich auf ein Dorf hinaus, das über eine Stunde entfernt war. Was sollte ich machen? Ich ließ mir den Weg beschreiben, so gut es ging, und begab mich auf den Marsch. Bald war ich in der tiefsten Einsamkeit wie mein Heideknabe; kein Wanderer begegnete mir, links und rechts grasende Ochsen und Kühe ohne Hirten, weil sie durch Hecken und Wälle verhindert sind, ihre Weideplätze zu verlassen, den widerspenstigsten Sand unter meinen Füßen. Aber ich hatte mehr Glück wie gewöhnlich; ich fand das rechte Dorf, das diesseits eines kleinen Gehölzes liegt, und ein Pflüger bezeichnete mir das Haus. Als ich um die Ecke bog, erblickte ich einen ältlichen Mann, der vor seiner Tür Holz hackte; ein verwittertes Gesicht, jedoch noch von starkem Haarwuchs eingezäunt, sah verwundert zu mir auf, als ich näher trat, selbst noch zweifelnd aber doch bald aus allen Falten und Runzeln die Jugendzüge hervorklaubend. Ich streckte die Hand aus und sagte: »Johann!« natürlich plattdeutsch; er ließ sein Beil fallen, schlug sich auf seine Kniee, fuhr sich durch das Haar, brach in ein konvulsivisches Gelächter aus, genug, tat alles, was ich wohl in einem Moment freudigschmerzlicher Überraschung zu tun pflege und war gar nicht wieder ruhig zu machen. Den Kopf schüttelnd und die Hände reibend führte er mich dann hinein; ich trat durch eine kleine Küche in die Stube, die in Räumlichkeit und Meublement nicht schlechter, vielleicht, wie er selbst wenigstens meinte, etwas besser war wie die ehemaligen unserer Eltern. Seine Frau, eine Bäuerin wie unsere Hausverwalterin in Gmunden, entschuldigte die Unordnung, in der ich alles fände, aber erst morgen sei Sonnabend; sie war viel gelassener und erbot sich, Kaffee zu machen, was ich nicht um die Welt abgelehnt hätte, obgleich ich wohl wußte, welch ein Zichorienabsud mich erwartete. Der kleine Konrad war nicht zu Hause, er holte Brot; die Katze, die in solchen Familien nie fehlt, lag im Bett; Titis hölzerner Kuckuck stand auf dem Schrank; mein Bruder begann, darauf zu blasen. Der Kaffee erschien und war nicht ganz untrinkbar, frische Ziegenmilch dazu, von zwei Ziegen gewonnen, die ihm selbst gehörten, und die ich nachher in einem kleinen Stall besuchte. Die Nachbarskinder liefen zusammen und guckten neugierig ins Fenster, die Erwachsenen traten in ihre Türen. Endlich kam auch das Kind, ein hübscher, blonder Knabe, der hell und klar aus seinen großen Augen schaute; er war scheu wie ein Vogel und kaum durch einen blanken Silbertaler zum Nähertreten zu bewegen, schlüpfte auch gleich wieder fort und guckte von außen mit hinein. Auch mein Bruder verschwand; als ich mich nach ihm umsah, traf ich ihn in der Küche, wie er sich rasierte und die Haare schnitt; ich hatte ihn nämlich gebeten, mich nach Rendsburg zurückzubegleiten, und er meinte, er sei dazu denn doch zu struppig. In der Hast schnitt er sich mehr als dreimal mit einem stumpfen Messer und stopfte die Wunden wieder mit Löschpapier. Nach Verlauf von ungefähr anderthalb Stunden machten wir uns auf den Rückweg, er in dem alten Steyrer Rock, den ich ihm im Frühling schickte, einen zerdrückten Sommerhut auf dem Kopf und Stiefel an den Füßen, die kaum noch zusammenhielten. Bittere Armut; ein kleiner Haufen Kartoffeln unter dem Ofen und Ehestreit darüber, ob für das nächste Geld noch mehr Kartoffeln angeschafft werden sollten oder Holz und Torf. Mein Bruder war für die Kartoffeln, seine Frau für die Feuerung; »ich fürchte den Hunger« – sagte er – »und sie den Frost.« Daß ich den Streit beilegte, kannst Du Dir denken. Dabei, damit dem rührenden, ja, ehrlich gestanden, tief erschütternden Bilde zur Milderung und Dämpfung das Komische nicht fehle, unterwegs von seiner Seite die Versicherung, er habe die Frau vor der Verheiratung nie mit Augen gesehen; ein Tischler habe ihm zur Zeit des Krieges vorgeschlagen, sich mit ihr zu verbinden, und da er dadurch als Militärpflichtiger gleich um fünf Jahre älter und des Dienstes quitt und ledig geworden sei, habe er geantwortet: meinetwegen! übrigens sei er aber auch ganz gut mit ihr zufrieden. In Rendsburg mußte ich einen Augenblick bei einem seiner Freunde eintreten; ich schlug es anfangs ab, weil ich den Grund nicht erriet, und er sagte nichts weiter; dann fragte ich: »Sähest du's gern?« und er antwortete: »Ja, ja, der Mann erfährt doch, daß du hier gewesen bist, und er hilft mir zuweilen aus.« In meinem Gasthof ließ ich uns (ich war selbst noch nüchtern) etwas zu essen geben. Bei einem Glase Bier lebte er ordentlich wieder auf und gab manchen seiner alten humoristischen Funken von sich, wie z. B. den: »Heut ist der Erntetag der Juden, denn die armen Leute ziehen aus.« Sonst ist er schrecklich zusammengebrochen und hat ein ganz krampfhaftes Wesen; es geht in Holstein wie in Gmunden, alles wird ausgeführt; die Stockjobber schwellen an, und die übrigen dörren zusammen wie Regenwürmer im Sande. Fleisch kennt er nicht mehr, immer Kartoffeln, und auch die stiehlt einer dem andern vom Felde. Das ist der Güterkreislauf der Nationalökonomie; ich hab's immer gewußt und gesagt. Dabei hat er den Ehrgeiz unseres Vaters, der seine Armut auch ängstlich versteckte wie der Geizhals seinen Schatz, und der gern hungerte, wenn der Nachbar ihn nur für satt hielt. So sagte er beim Bier: »Nicht wahr, unsre Stube ist recht nett? Hast du bemerkt, daß Friedrich der Große an der Wand hängt? Ich habe auch den Einzug von Paris!« Als ich einpackte, bat er mich um eins der seidenen Taschentücher, das zerrissen war. Ich fragte: »Du willst es deiner Alten wohl mitbringen?« Er erwiderte: »Das nun wohl auch, ja, aber es ist mehr der Leute wegen! Ich werde sagen: das ist sein schlechtestes.« Auch das Nichtkommen nach Gmunden ist durch die große Not einfach gelöst; gleich konnten sie nicht gehen, denn das Kind war wirklich verletzt, und nachher war kein Geld mehr da. Im Feuer haben sie viel verloren; sie hatten sich eine Ausstattung zusammengedient, und die ging darauf. Sie lassen alle grüßen; de lüttje Kunrad, de grote Tiene. Beim Abschied mußte ich durchaus seinen Handstock zum Andenken mitnehmen.

Von nun an, mein teuerstes Herz, richte Deine Briefe nach Berlin. Lange bleibe ich hier nicht mehr. Campe seh' ich heute, beißt er nicht von selbst in den Kuchen hinein, so stecke ich ihn wieder in die Tasche Hebbel hatte dem Verleger Campe in Hamburg seine Nibelungen zum Verlage angeboten. Campe biß denn auch in den Kuchen, d. h. er übernahm den Verlag..

Euer altes, sehr altes Nux Der Dichter, der ein großer Tierfreund war, unterzeichnete die Briefe an seine Frau gewöhnlich »Nux«. Diesen Spitznamen legte er sich seinem früheren Hündchen zu Ehren bei..


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