Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von Detlev v. Liliencron.
Viel dunkelrote Rosen schütt' ich dir
      
 um deines Marmorsarges weiße Wände
      
 und senke meine Stirn dem kalten Stein:
      
 Du warst ein Dichter, den ich sehr geliebt,
      
 und den ich lieben werde bis ans Grab.
      
 Du warst ein Dichter – denn was du erlebt,
      
 vielleicht von einem Tropfen nur Erinnern,
      
 trieb eine Knospe; welche Blume dann
      
 aus ihr erwuchs, das gab dir Phantasie.
      
 Die Phantasie, wie denn? ein bunter Vogel,
      
 der aus der Morgenröte uns besucht?
      
 Ein ungeschlachtes Ungetüm, das donnernd
      
 die Flügel regt von Ozean hin zu Ozean
      
 und sich in Höhen hebt, daß unser Nacken
      
 sich staunend nachbiegt wie dem Erzengel,
      
 wenn glänzend er den Flug durch Wolken nimmt?
      
 Du hattest Phantasie, ein selten Ding
      
 in unsern nüchternen Verstandeszeiten.
      
 Du warst ein Dichter, und du warst ein Künstler.
      
 Ein Dichter: wohl aus tausend Quellen rinnt es,
      
 die unterirdisch laufen, rinnt's ihm zu.
      
 Noch fand kein Mensch je, was den Dichter schuf.
Wie tief doch sahst du in ein Menschenherz,
      
 und unser Heimatland, das ernste, treue,
      
 mit ewiger Feuchte, seltnem Sonnenblick,
      
 du kanntest seine Art. Kein andrer wohl
      
 nahm so den Erdgeruch aus Wald und Feld
      
 in seine Schrift wie du.
Schrieb einer je, den siebzig Winter drückten,
      
 ein solches »Hochzeitfest«? War's nicht ein Jüngling,
      
 der siebzehnjährig heiß die Laute schlug
      
 vor seiner Liebsten Tür im sanften Mond,
      
 im Sehnsuchtspuls der Nachtigallenlieder? 
      
Wohl trifft es sich, daß laut und polternd wirft
      
 ein herrlich Dichterherz mit rohem Gold
      
 und kann es nimmer zwingen zum Gerät;
      
 ihm fehlt die Künstlerhand, dir wurde sie.
Viel dunkelrote Rosen schütt' ich dir
      
 um deines Marmorsarges weiße Wände
      
 und senke meine Stirn dem großen Dichter,
      
 den ich so sehr, so sehr geliebt.
Aus: Detlev v. Liliencron, Sämtliche Werke.
      
 (Berlin, Schuster & Loeffler.)