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Schutt.

Von Helene Voigt-Diederichs.

Das Pferdenachtreiben beim Dreschen ist ein- für allemal Sönke Kallsens Arbeit. Ein Spaß ist das nicht, wenn der schneidende Ostwind durch die schwarzen Kronen der Kastanienallee auf dem Gutshofe fährt und die meterlangen Eiszapfen, die vom schneeglitzernden Strohdache des Kuhhauses niederhängen, abreißt und klirrend an der Steinmauer zerschlägt. Und der dumme Kerl ist noch dazu froh, daß niemand es ihm streitig macht!

Ganz nahe am Dreschgöpel liegt das Buschholz, von dem in der Meierei unter den großen eingemauerten Milchkesseln und Wasserbecken gebrannt wird. Guste hat sich zum Kleinmachen angeboten. Nicht nur aus Mitleid mit dem Schweinejungen, der jetzt immer so spät aus der Schule kommt und wirklich durchaus keine Zeit dazu hat. Hauptsächlich wohl wegen einer Verabredung mit Sönke.

Sie hat ihn ja lieb. Schon als er im November kam, hat sie es gefühlt. An sein dänisch-deutsches Kauderwelsch konnte sie sich freilich nicht so schnell gewöhnen. Aber was seine stahlblauen Augen sagten, in denen immer so ein undeutliches Flimmern und Zittern war, verstand sie sofort.

Sönke ist nicht roh und geht nicht zu Spiel und Tanz. Und doch grinsen die Leute, wenn von ihm die Rede ist, sehen sich scheu um und sagen dann, daß er viel schlimmer sei als sie alle miteinander. Gottlieb, der mit Sönke aus einem Dorfe stammt, weiß ein Lied davon zu singen.

Da oben in ihrer Heimat, weiter nach der dänischen Grenze zu, habe er als blutjunger Mensch seinem Bauern, der ihn ungerecht getadelt, mit dem Forkenstiel über den Kopf geschlagen, daß der Mißhandelte wie tot zusammengebrochen sei. Da freilich habe Sönke geweint wie ein Kind und nach Wasser geschrien und um Verzeihung gebeten und sei so verzweifelt gewesen, daß der Bauer es aufgegeben, die Sache bei Gericht anzuzeigen. Aber gedankt habe er doch für Sönkes weitere Dienste.

Wo der sich nachher überall herumgetrieben! Erst in Dänemarks Mooren als Torfstecher, dann jahrelang als Fischerknecht an der norwegischen Küste, bloß weil ihm der Kampf mit Wasser und Felsen Spaß gemacht. Dann habe er in den schwedischen Wäldern gearbeitet, wo aus dem Safte der angebohrten Kiefern irgendwas gemacht wurde, was die Maler brauchten. Überall gab's schwere Arbeit und schlechten Verdienst, und schließlich sei er nach Schleswig zurückgekommen ...

Guste kümmerte sich nicht um Sönkes Vergangenheit. Er ist ja still und gut – das genügt ihr. Nur manchmal durchfährt es sie schreckhaft, wenn sie den Kutscher Thomas ankommen und eine wilde Wut in Sönkes hellen Augen aufzucken sieht.

Sönke ist lange nicht so ansehnlich wie Thomas. Der ist von Haus aus Schlachter und ein wahrer Riese an Gestalt. Dabei hat er ein hübsches Gesicht und hält sich ordentlich im Zeug. Sonst ist nicht viel Rühmens von ihm zu machen. Die leichtsinnigen Mädchen sind hinter ihm her, und die guten fürchten sich vor ihm.

Zu denen, die Furcht haben, gehört Guste, und gerade auf sie hat Thomas es augenblicklich abgesehen. Ihre braunen Augen haben so leicht einen ängstlichen Ausdruck, und der gefällt ihm. Zum offenen Haß kommt es nicht zwischen den beiden Nebenbuhlern. Dazu ist der eine zu stolz und der andere nicht ehrlich genug. Es bleibt ein dumpfes, heimliches Nagen und Grollen und eine Stimmung, wie sie einen überkommt, wenn man draußen auf der Holzkoppel an der breiten Aue steht und das Wasser unter der glatten Eisdecke murren hört.

Ein dunkler, weicher Frühlingstag. Der Himmel scheint so nah, und in der Luft liegt eine seltsam frohe Mattigkeit. Die Saatzeit ist vor der Tür. Nur die letzten Fuder Mengkorn sind vorher noch abzurummeln. Sönke treibt wie gewöhnlich. Aber Fausthandschuhe hat er heute nicht an, und fast ist ihm auch die mit einer alten Pferdedecke gefütterte Jacke zu warm. Wie das heult drinnen im Dreschkasten, dumpf und voll, wenn eine aufgeschnittene Garbe in die Welle niedergleitet, hell und klappernd, wenn sie einmal leer sich dreht.

Sönke hat so ein sehnsüchtiges, drängendes Gefühl in sich. Heute abend will er endlich vernünftig mit Guste besprechen, wann sie heiraten wollen. Immer wieder muß er zu dem Mädchen hinüberschauen. Wie sie dasteht in ihrem hochgebundenen Rock und emsig das Beil auf- und niederschwingt. Gar nicht zu fühlen scheint sie die langen Dornsplitter, die ihr doch oft genug in die Hände dringen müssen.

Der Inspektor steht in der Scheunentür und wundert sich, daß Sönke heut' so schlecht treibt. Endlich ruft er dem Nachlässigen ein paar ärgerlich mahnende Worte zu.

»Slöppst du egentli? Paß duch up din Peer!«

Sönke erschrickt, wird dunkelrot und läßt hastig die Peitsche über die Rücken der vier Pferdepaare streichen. Eine Weile geht alles gut. Aber dann sieht er, wie Guste ganz erschrocken am grünfeuchten Kastanienstamme lehnt. Nun kann er wieder nicht loskommen von ihr mit seinen Augen.

Dieselbe Geschichte wiederholt sich, nur braucht der Inspektor diesmal schärfere Worte. Und doch schleichen nach einer Viertelstunde die Pferde schon wieder wie die Schnecken und stehen schließlich wie auf Verabredung alle miteinander still.

Nun bekommt Sönke einen ganz gehörigen Rüffel. Er wird kreideweiß im Gesicht und vergißt ganz zu gehorchen. Der Inspektor legt des Knechtes Zögern als Trotz aus und winkt den Thomas herbei, der mit den leeren Strohbügeln auf der Schulter vorübergeht. Sönke sei verschlafen oder betrunken oder Gott weiß was – genug, Thomas soll hinaufsteigen und treiben. Sönke kann Stroh tragen.

Thomas kriecht sehr bereitwillig zwischen den in der Runde gehenden Pferden durch.

»Koam doal, du Nachmütz! Su'n Handvull! Ni mal de Peer in Gang holen kann he! Und likers gifti as 'n Tutz!«

Sönke sitzt starr mit zitternden Augen. Er läßt die Peitsche fallen. Die Lederschnur wickelt sich um die Zähne des Göpelrades und reißt schließlich vom Stiel los. Ein Blick von Guste – Sönke springt auf und stürmt in die Scheune. Bald kommt er wieder mit einem mächtigen Strohbündel auf Kopf und Schultern. Dabei läuft er, als ob die Hölle hinter ihm sei.

Thomas lacht überlaut. Nicht weil's ihm so recht herzlich danach zumute ist, sondern weil es Sönke hoffentlich noch mehr kränken wird.

Dem schwindelt's im Kopfe. Alles dreht sich um ihn und mit ihm. Darum also hat er gefroren und ausgehalten im Winter, um sich jetzt wie ein Hund vom Göpel jagen zu lassen. Darum also!

Er versucht, ruhiger zu werden. Er kennt sich ja. Er weiß, daß er ohne sein Zutun zum wilden, vernunftlosen Tiere werden kann. Wenn er nur an etwas Bestimmtes, Fernliegendes denken könnte! Aber nein, nichts als dies kochende Sprudeln in seinem Blute. So was hinnehmen müssen!

Er läuft und rennt und schafft für drei und wird immer heißer und unklarer dabei.

Als er spät abends nach Futterzeit in die Spinnstube tritt, steht Thomas am lauwarmen Ofen und spricht mit Guste, die ganz verzagt hinter ihrem Nähkasten sitzt. Gott sei Dank, daß Sönke kommt. Sie will zu ihm gehen. Als sie den Blick hebt, streift sie ein trotziges Befehlen aus Thomas' Augen, und sie wagt nicht, sich zu rühren.

Sönke legt seine Hand auf ihre Schulter. Sie merkt, daß er zittert. Thomas kommt mit frech neugierigem Gesicht näher.

»Nimm din Hand weg, Sönke,« stammelt sie, »dat deit mi weh, und ik mutt nuch min Schört fari maken.«

Die Hand drückt nicht, aber Thomas' heiße, zornige Augen peinigen sie. Gott, daß ein Mensch, den man haßt, so viel Macht über einen haben kann! Sie schaut Sönke an und erinnert sich nicht, ihn je so totenblaß gesehen zu haben. Seine Nasenflügel zittern, und seine Augen glimmen wie Kohlen unter grauer Aschenschicht.

Er geht. Stumm und ohne Gruß. Thomas bleibt noch. Die anderen Knechte liegen schon im Pferdestall und schlafen. Aber was braucht er so zu eilen? Er hat ja doch seine Kammer in der Meierei.

Draußen auf dem dunkeln Hof in der weichen, mondlosen Frühlingsluft meint Sönke ersticken zu müssen, wenn er nicht etwas Großes, Unerhörtes tut. Ein Verbrechen meinetwegen – einerlei was. Nur etwas, das ihn freimacht, das die Schrauben lockert, zwischen denen Kopf und Brust eingeklemmt sind.

Jetzt steht er an dem Ende der seitwärts liegenden Scheune, das der Koppel zugewandt ist. An der Mauer klettert am Gitterwerk ein Kirschbaum auf und streckt seine knospenden Zweige bis hart unter das breit vorspringende Strohdach.

Du dürres Stroh, so ruhig bist du, so verdammt ruhig? Du träger, regungsloser Wetterhahn – stehst und glotzt nieder kalt und höhnisch? Ob du warm werden kannst, kalter Vogel? Ob du flink und lebendig werden kannst, totes Stroh?

Sönke stöhnt vor Qual. Ein Bund Schwefelsticken fühlt er in seiner Tasche. Er klettert an den dünnen Latten und am rankenden Baumgeäst hinauf, immer höher, ohne anzuhalten. Er hat das Dach erreicht. Er biegt den Körper nach außen, schwankt einen Augenblick und gibt sich dann einen mächtigen Ruck. Nun krallt er sich in das feste Stroh und ringt sich aufwärts, bis er mit beiden Händen die Eisenstange des Wetterhahns umklammert.

Eine aufgescheuchte Eule flattert aus dem dunkeln Giebelloche. Sönke erschrickt. Fast wäre er hinuntergestürzt in die graue, gähnende Tiefe. Sein Zorn wächst ins Maßlose. Er hängt mit dem Oberkörper über dem Dachfirst und reibt ein Zündholz nach dem anderen an seinem Hosenbein. Erst das fünfte oder sechste Spänchen fängt an, bläulich aufzuleuchten. Sönke schützt es mit vorgehaltenen Händen und hält es ans Dachstroh, als die Flamme rot wird.

Er schaut zum Himmel auf – der ist dunkel und lautlos. Er schaut zur Erde nieder – die ist dunkel und lautlos. Da beginnt er, sich rückwärts am Dache hinabzulassen. Nach den Seiten zu fällt es schräger ab als vorn. Dicke, feuchtgrüne Moosbüschel, mit einer moderigen Strohschicht verbunden, bleiben in seinen Händen. Halb stürzend gleitet er weiter.

Da steht er unten an der Steinwand, schüttelt das Moos von sich und sucht nach seiner Mütze. Als er fortschleichen will, sieht er drüben im Astwerk der Kastanie einen roten, zuckenden Schein. Unversehens fliegt sein Blick zur Scheunenspitze. Ja, gut gemacht hat er's; es brennt, es brennt lichterloh.

Er sieht, wie die Flamme größer wird und immer tiefer herab und immer höher hinauf züngelt. Da läuft sie schon am Dachfirst entlang und kommt dann wieder auf Sekunden zurück. Da gleiten brennende Halme und tragen die glimmende Glut weiter. Ein Wehen und Sausen geht durch die stille Luft.

Der Kettenhund, der schon eine Weile dumpf in sich hineingeknurrt hat, bricht in ein wütendes Gebell aus. In der Meierei schlägt eine Tür. Sönke springt auf. Eine eiskalte Ernüchterung durchrinnt ihn. Er biegt um die Scheunenecke und stürzt auf das Herrenhaus zu.

»Füer! Füer!«

Er schlägt mit der doppelten Faust an das helle, verhüllte Fenster. Drinnen wird es lebendig. Stühle werden zurückgestoßen, man kommt vor die Haustür, man fragt, man ruft ...

»De Schün, de Schün!« schreit Sönke und läuft in den Pferdestall, die schlafenden Knechte herauszutrommeln. Halb im Traume fährt Gottlieb auf und reißt das Feuerhorn von der Wand. Der Ton weckt auch den saumseligsten Schläfer.

Sönke poltert schon an der Spinnstubentür. Die Mädchen kommen heraus, verstört, verschlafen, und als sie fragen, was denn eigentlich los ist, bekommen sie keine Antwort und hören nur noch wegeilende Schritte.

Rastlos gellt das Feuerhorn. Dazu das tobende Brüllen der Kühe. Die Gutsmannschaft ist schnell beisammen, aber niemand findet sich, der einigermaßen den Befehl führen kann. Sönke übernimmt ihn. Willenlos fügen sich seine Kameraden. Sie mögen fühlen, was für eine Überlegenheit seine Geistesgegenwart ihm gibt.

Der Inspektor kommt und schickt die Leute nach der Spritze. Sie ist nicht in Ordnung. Nun geht das Donnerwetter von oben nieder auf den Hofklüterer. Aber alles Fluchen hilft nichts.

Sönke reißt Gottlieb das Feuerhorn weg und bläst in wilder Angst am Hoftor. Endlich antwortet es in der Ferne.

Heller und heller wird es auf dem Hof. Schwarze Gestalten sammeln sich zu rotbeleuchteten Gruppen. Was soll man machen? An der Scheune ist doch nichts mehr zu retten. Laß brennen, was brennt.

Der Wind schlägt um. Harziger Qualm treibt über die Menschenköpfe hin und beißt in den tränenden Augen. Die Flammenspitzen neigen sich gegen das nächstliegende Dach.

»De Peerstall fangt ok an!« schreit Sönke und stürzt in den Stall. Sein Rettungseifer steckt an. Man nimmt sich nicht Zeit, die Pferde aufzuzäumen. Nur die Halfter werden losgekoppelt. Dort die beiden grauscheckigen Hengste reißen die Ketten aus Sönkes haltender Hand und schießen mit schreiendem Gewieher in langgestreckten Galoppsprüngen über den Hof. Frauen kreischen vor Schrecken und flüchten sich hinüber an die Kuhhausmauer, wo sie sich geschützter wähnen vor den schlagenden Eisenhufen. Ein paar blökende Kälber kommen angejagt, heben die Schwänze und werfen mit den Hinterfüßen.

Gott sei Dank, die Kiesbyer Spritze donnert heran. Schläuche werden quer über den Hof geleitet und die Pumpen aufgestellt. Nur durch grellfarbige, um den Jackenärmel gelegte Tuchstreifen sind die Feuerwehrleute kenntlich.

Die Gefahr für den Pferdestall schwindet mit dem ersten Wasserstrahl, der hinüberzischt in die knatternde Glut. Mehr Spritzen kommen. Nun blitzen auch ein paar richtige Feuerwehrhelme im rotzuckenden Lichtschein.

»Lundgaarder Mann an de Sprütt!« geht das Kommando.

Naß, schmutzig, mit zerscheuerten Händen lehnt Sönke am Schleifstein. Guste geht vorbei. Er ruft sie an. Sie wendet den Kopf, weiß aber nicht gleich, woher die Stimme kommt. Wo sie geht, liegt das Flammenrot, während Sönke vom Kuhhausschatten gedeckt wird. »Ik häw keen Tid. Doa schall Brot sneeden warrn und Kaffee koakt för de Sprüttenlüd ...«

»Man blots en lialüdde Ogenblick ...«

Sie geht dem Klange nach.

»Woa büst du? Na, wat denn? Herrgott, Minsch, wat häst du?«

Er zittert am ganzen Leibe. Und wenn er sein Gesicht auch so gedreht hat, daß sie seine nassen Augen nicht sehen kann – sein würgendes Schluchzen hört sie doch.

»Guste, ik häw't ansteeken. Ik häw wat dohn müßt in min Dullheit ...«

Sie fährt zurück. »Sönke!« schreit sie auf. »Dat glöw ik ni!«

»Und ik segg di, dat dat wohr is. Nu willst du sach nix mehr vun mi weeten, Guste?«

Sie zögert mit der Antwort, und dann fällt sie ihm weinend um den Hals.

»Wenn man en leew hätt, denn makt dat nix, wenn he sin Herrschaft dat Dack öwer de Kupp ansteeken deiht ...«

Sie eilt weiter, und als sie Thomas stehen sieht, macht sie einen großen Bogen, um nicht so nah an ihm vorüber zu müssen. Er ruft – sie steht still, ohne es zu wollen. Er ruft noch einmal – sie kommt auf ihn zu und wäre doch lieber in dumpfer Furcht davongelaufen.

»Wat hätt Sönke die vertellt? Jü beiden harrt dat ja gruli wichti!«

Sie will ihm trotzig ins Gesicht lachen. Als sie den Mund dazu verzieht, kommt kein Ton heraus.

»Nanu, wat weert?«

»Dat he dat Füer anleggt hätt,« stottert sie und schleicht ganz besinnungslos davon.

Thomas lächelt befriedigt. Ganz ohne Beweise kann man doch niemand anklagen.

»En vun uns eegene Lüd mutt dat utfreeten hebbn,« sagt er mit zwinkernden Augen zum Polizisten. Der fährt herum und sieht den Sprecher scharf an. »Is en verdächti?«

»Jo, Sönke Kallsen. He hätt vunnamiddag Strit hatt mit de Verwalder. Nu sitt he doa bi de Slipsteen mehr doot as lebenni ...«

Der Polizist wendet sich nach der bezeichneten Stelle.

»Du büst dat!«

Sönke fühlt eine schwere Hand auf seiner Schulter. Er will aufspringen, davonlaufen, aber er kann nicht. Es ist, als wenn etwas in ihm zerbrochen wäre. »Jo,« sagt er und bleibt ruhig sitzen.

Der Polizist ist einigermaßen verblüfft. So was ist ihm noch nicht vorgekommen. Er fragt noch einiges, aber der Knecht antwortet nicht mehr.

»Koam mit!«

Sönke steht auf und folgt dem Voranschreitenden. Thomas, der in der Nähe lauert, wird nach einer Kammer gefragt, die kein Fenster habe zum Entwischen. Bereitwillig reißt er an der Vorderseite des Kuhhauses die Tür zum Gluckenstall auf. Ohne Widersetzlichkeit läßt Sönke sich hineinsperren.

Wie eng und lichtlos es hier ist! Nur ein Mauerstein aus der Wand geschlagen und dafür eine Glasscheibe eingesetzt. Besser als nichts ist es freilich. Man ist so fürchterlich einsam, wenn die Augen gar nichts zu tun haben ...

Sönke kauert auf dem Boden und schaut hinaus. Die ganze Scheune ist ein wirbelndes Flammenmeer. Zitternd glimmen rotglühendes Gebälk und hüllenloses Gitterwerk der Dachsparren. Wie Seufzen klingt das Geräusch der arbeitenden Pumpen. Zwischen den eilenden, rufenden Menschen sucht sein Falkenblick nach Guste. Endlich findet er sie. Bei der Feuerwehr geht sie rund mit Trinkbecher und Kaffeekessel. Nun kommt sie auch zu Thomas. Er spricht auf sie ein und zeigt dann boshaft lachend auf die Tür von Sönkes Gefängnis.

Dem ist's, als ob des Kutschers vorgestreckter Finger sich ihm in Augen und Gehirn bohre. Noch einmal faßt ihn die alte Wut. Warum stößt er denn nicht die vermorschte Tür zurück und schlägt den Verfluchten zu Boden? Nein, er will nicht an Thomas denken und nicht an Guste. Was gibt es denn noch mehr auf der Welt?

Er sucht und sucht, und schließlich fällt ihm nichts ein als der große Tannenwald in Schweden, wo an jedem angebohrten Stamm ein Blechkasten hängt und solange voll Saft läuft, bis der Baum davon zugrunde geht. Wie traurig so ein gemordeter Waldkönig nachher ausschaut! Wenn er noch Gefühl hat, muß es ihm sein wie Sönke, der weiß, daß Guste von ihm genommen wird ...

Er kniet in der Ecke, den Kopf an die Lehmwand gelegt und schüttelt sich im Weinen. Von den kalten Steinen merkt er nichts. Blutigrot zittert es über sein aschfarbiges Haar. Einmal zuckt er zusammen, als er draußen einen vielstimmigen Aufschrei hört.

Stunde auf Stunde geht hin. Teilnahmlos dämmert er weiter, bis gegen Morgen der Polizist kommt und ihn hinausführt.

Der ganze Hof ist in einen nassen, milchweißen Rauch gehüllt, der aus dem schwelenden Schutthaufen aufsteigt. Ein brenzlicher Geruch von geröstetem Korn beklemmt den Atem. Noch wird an Spritze und Pumpen gearbeitet. Die Zuschauer sind fort. Nur wenige stehen noch und können sich nicht zum Weggehen entschließen, weil sie dabei sein wollen, wenn der Brandstifter abgeführt wird. Aber was man zu sehen bekommt, hat sich nicht der Mühe des Wartens verlohnt.

Thomas ist eben mit dem Anspannen fertig. Neben ihm auf dem hängenden Stuhle nimmt der Polizist Platz. Für Sönke ist es noch viel zu gut hinten im Stroh.

Die Mädchen kommen vom Melken. Ganz nah am Wagen streifen sie vorbei. Guste blickt auf mit nassem, übernächtigem Gesicht. Sie kann Sönke nicht ansehen. Thomas hält sie ja fest mit seinen Augen. Sie strauchelt und hätte fast die Trage mit den schweren Milcheimern von ihrer Schulter gleiten lassen. Ohne sich umzuschauen, wandert sie weiter. Der Kutscher wirft ihr eine Kußhand nach.

Sönke rührt sich nicht. Gewaltsam wendet er den Kopf ab. Ein Windzug schiebt für Sekunden den Rauch beiseite. Da werden die schwarzkohligen Trümmer sichtbar. Ganz im Hintergrunde steht noch hilflos und traurig der Kirschbaum und streckt seine versengten, haltsuchenden Zweige steif nach beiden Seiten von sich. Gestern hatten die Knospen hellgrüne Spitzen, und die Zweige legten sich so vertrauensvoll an die starke Scheunenwand. Wie ein großes Trauerkreuz nimmt sich der Dreschgöpel aus mit seinen vier schwarzgeteerten Zugbalken. Helle, nackte Flecke glänzen an den Kastanienstämmen. Die angebundenen Pferde haben in der Nacht große Rindenstücke losgeschält mit den hungrig nagenden Zähnen.

»Mi dünkt, dree Johr Tochthus is dat ringste, wat so en kriegen kann,« hört Sönke jemand sagen. Er schließt die Augen und preßt die Fingerspitzen in die Ohren.

Ein einziges Mal dreht der Kutscher sich um, und der rohe Mensch schrickt doch zusammen, als er den Gefangenen die Lider von den glanzlosen Augen heben sieht. So schaut die Verzweiflung aus, der die ganze Welt zum Schutthaufen geworden ist ...

Thomas wird es unheimlich. Er sieht nach seiner Uhr und schlägt mit der Peitsche über das eilig trabende Pferd.

Auf rasselnden Rädern rollt der Wagen der Kreisstadt zu.

Aus: Helene Voigt-Diederichs, Schleswig-Holsteiner Landleute.
(Jena, Eugen Diederichs.)


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