Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Sturmflut in der Ostsee am 13. November 1872.

Von Otto Kallsen.

Während die Nordsee nicht selten mit furchtbaren Überschwemmungen in das Besitztum der Menschen einbricht und die Bewohner der Küste zu unablässigem Ringen mit dem wilden Elemente zwingt, streckt sich die Ostsee wie ein großer Binnensee friedlich hin; vom Ozean entlegen und durch die dänischen Inseln beinahe abgesperrt, bleibt sie vom regelmäßigen Wechsel der Ebbe und Flut so gut wie unberührt, und um ihr von Nordost nach Südwest gedehntes, buchtenreiches Meeresbecken haben sich deshalb Städte und Dörfer in reichem Kranz herumgelegt, und zwar in sorgloser Sicherheit; denn nicht schützen Deiche den Anbau und das Eigentum der Menschen.

Aber am 13. November 1872 zerriß eine Sturmflut, wie sie noch nie über diese Gewässer dahingegangen war, den blühenden Kranz am Gestade der Ostsee. Es mag immerhin, wie manche meinen, ein unterirdischer Stoß wie bei einem Erdbeben die Wasser wild aufgewühlt haben; sicher ist, daß ein heftiger Wind aus Westen das sonst abfließende Wasser im Kattegat und in der Ostsee aufstaute, bis der am 12. November nach Nordost umspringende Sturm den vollen Wogenschwall mit um so größerer Wucht wieder zurückwarf. Der furchtbare Nordost hielt 24 Stunden lang an und wuchs zum Orkan. So quoll die hochgehende Wassermenge vom Finnischen und Rigaischen Meerbusen her in südwestlicher Richtung vorwärts. Die Küste Gotlands nur streifend traf sie mit vollem Andrang Bornholm und andere dänische Inseln; die Südspitze von Falster wurde sogar gänzlich überschwemmt. Dann verheerte sie die Insel Fehmarn und warf sich mit unwiderstehlicher Gewalt auf die deutsche Küste und in die tief ins Land einschneidenden Buchten hinein. Es war ein Schrecknis von unerhörter Furchtbarkeit; das Wasser stieg mehr als 3 Meter über seine gewöhnliche Höhe und übertraf den bisher höchsten Wasserstand von 1694 um 60, den des Jahres 1836 um 67 Zentimeter. Wie entsetzlich die hochgeschwollene See vordrang, beweist die Tatsache, daß die Stadt Oldenburg in Holstein, die zwei Stunden von der Ostsee entfernt liegt, noch von dem Wasser erreicht und ein Haus in der Stadt sogar noch verwüstet wurde. Niemand war auf ein solches Naturereignis vorbereitet; denn wenn auch alte Geschichtsbücher der Hansastädte von einer wilden Flut erzählen, die im Jahre 1304 die jetzige Insel Rügen von Pommern abriß, so waren seitdem über fünf Jahrhunderte vergangen, und die Begebenheit haftete nicht mehr in der Menschen Gedächtnis. Soweit beglaubigte geschichtliche Nachrichten reichen, hatte man von einem solchen Wüten der Ostsee nicht gehört. Man betrachtete anfänglich auch diesmal das Anschwellen des Wassers allgemein als eine der sonst wohl vorkommenden Sturmfluten, die gewisse Grenzen nicht übersteigen; daher überraschte der Eintritt der wirklichen Überschwemmung, die gegen neun Uhr abends ihren Höhepunkt erreichte, fast überall in dem Maße, daß die Bevölkerung an der seichten, durch Deiche nicht geschützten Küste sich kaum zu retten vermochte. Von den Städten wurden Stralsund, Rostock, Warnemünde, Kiel, Apenrade schwer beschädigt; am furchtbarsten litt Eckernförde an Schleswigs Küste. Die kleine Stadt liegt auf einer schmalen, von Süden nach Norden hinlaufenden Landzunge, die östlich von der Ostsee, westlich von einem Einschnitt derselben, dem Windebyer Noor, begrenzt wird; ein etwa neun Meter breiter, starker Damm verbindet die Stadt mit dem kleinen Badeorte Borby. In der Frühe des 13. Novembers rollte die Sturmflut an dem Strand empor, fegte die nahegelegene Häuserreihe weg und drang in die Straßen der Stadt. Alsdann wühlte das Wasser binnen anderthalb Stunden den mächtigen Damm hinweg und füllte das Noor, bis es sich auch aus diesem wie aus einer überfließenden Schale in die Straßen ergoß. Nur wenige Stunden noch – und die ganze Stadt wäre hinweggeschwemmt worden; aber glücklicherweise sprang der Wind nach Südost um, und das Wasser strömte rasch ab. Aber eine Stadt in Trümmern blieb zurück; denn gegen drittehalb hundert Häuser waren zerstört oder beschädigt, über 160 Familien obdachlos geworden.

Niemand vermag das Elend zu beschreiben, das diese Flut an dem einen Unglückstage von der Insel Usedom an Pommerns Küste bis nach Jütland entlang getragen hat. Wer möchte auch allen Spuren des Verderbens leidtragend nachgehen? Es genüge, um das entsetzliche Unglück zu fassen, ein Blick auf die holsteinische Küste. Das Seebad Travemünde wurde arg verheert, in dem nahegelegenen kleinen Badeorte Niendorf verloren 38 Familien ihr Obdach; die Insel Fehmarn wurde fast ganz überschwemmt; am Sunde, der die Insel von Holstein trennt, versank das Lotsenhaus mit seinen Bewohnern; von dem Dorfe Dahme blieb nur der dritte Teil stehen, 40 Wohnhäuser zertrümmerte des Wassers Andrang; das kleine Rietbruch verschwand ganz; auf dem einzigen Hofe Klostersee ertranken 350 Kühe. Und ähnlich wie hier bot die ganze weitgestreckte Ostseeküste ein Bild der Zerstörung; es war, als ob ein Todesengel an ihr entlanggegangen wäre. Einzelne kleine Ortschaften wurden gänzlich vom Erdboden getilgt, Tausende von Wohnhäusern zertrümmert; weite, fruchtbare Landstrecken lagen mit ödem Schlamm und Gerölle überdeckt; Wasser und Erde hatten sich in einen unfruchtbaren Brei ineinander gemischt, für gewinnbringenden Anbau auf Jahre lang unbrauchbar. Vielfach lagen die Schiffe, von der Windsbraut fortgeschleudert, auf dem festen Lande, und ihr Kiel furchte den Boden, über den bis dahin nur der Pflug hingegangen war; einzelne waren in nahegelegene Waldungen geworfen, wo sie wie ein Wrack zwischen den Bäumen festsaßen. Ungeheuer waren die Verluste an Vieh, an Booten und Netzen der Strandbevölkerung, an Hausgerät und allem, was durch Gebrauch und Andenken dem Menschen wert und lieb ist. In Schleswig-Holstein allein überstieg der Verlust an Eigentum drei Millionen Mark. Und nicht selten weinte der seiner Habe Beraubte auch noch um das Leben eines in der Sturmflut dahingerissenen Angehörigen.

Ostseestrand

Wunderbar war die Rettung eines Knaben. Als das Lotsenhaus am Sunde von Fehmarn von den Wogen zerstört war, trug die Flut das noch zusammenhaltende Gebälk des Daches in die offene See hinaus. Daran klammerten sich der Lotse und sein Weib und ihr dreizehnjähriger Sohn. Aber nach einigen Stunden erlahmten die Kräfte der vom eisigen Sturme halberstarrten Menschen. Eine Welle spülte zuerst die Frau hinunter in die Tiefe des Meeres, eine andere verschlang bald danach den Lotsen. Nur der Knabe hielt sich auf dem wunderbaren Fahrzeug, ja, er hatte die Besonnenheit, die noch haftenden Ziegel des Daches abzulösen und in die See zu schleudern, um auf diese Weise das Gebälk zu erleichtern. So trieb er ohne Nahrung und Schlaf, einsam und hilflos, von der Kälte des Windes und der spritzenden Wogen erstarrt über 24 Stunden in der schaurigen Öde des Meeres umher; zweimal sah er die Sonne aufgehen, und noch immer kam keine Rettung. Endlich gewahrte ihn und sein seltsames Fahrzeug der Kapitän eines französischen Schiffes; der menschenfreundliche Mann setzte unter großer Gefahr ein Boot aus, und es gelang ihm, den Knaben, der wie durch ein Wunder so lange das Leben gefristet hatte, zu retten. Er brachte ihn in den Kieler Hafen hinein, und hier erholte sich das Kind unter sorgsamer Pflege so rasch, daß es schon nach wenigen Tagen in die Heimat zurückgesandt werden konnte.

Zweierlei Erhebendes nimmt der Mensch hinweg aus diesen Schrecknissen der Naturgewalten. Man steht in dumpfem, starrem Staunen am Gestade, sagt ein Augenzeuge, zu nichts fähig, als die Allmacht zu bewundern, die nach diesem Riesenkampfe der Elemente gegeneinander dennoch wieder Frieden zu stiften vermochte. Das ist das erste: über unserer menschlichen Ohnmacht führt ein allmächtiger und allgütiger Gott alles herrlich hinaus. Und das zweite: der trübe, schaurige Novembertag hat viele schöne Werke barmherziger Bruderliebe gesehen. Wie mancher hat wie im Liede vom braven Mann hochherzig sein Leben für das Leben der Bedrängten eingesetzt, wie mancher die Hungernden und Frierenden gesättigt und bekleidet! Und als die Größe des Unglücks bekannt wurde, da ergriff ein edler Wetteifer zu helfen und zu trösten das ganze Volk. Hat doch die eine Stadt Hamburg über 300 000 Mark hergegeben, und in Schleswig-Holstein allein sind 750 000 Mark an freiwilligen Beiträgen zusammengeflossen. Und ähnlich rührte es sich im ganzen großen Vaterlande; selbst unsere kaum zu uns zurückgekehrten Brüder im Elsaß spendeten mit offenen Händen. Das scheint wie ein freundliches Licht durch das Dunkel; und wie herbe auch das Unglück gewesen ist, aus dem Menschenleid und Jammer wuchs trostvoll die edle Blüte der Menschenliebe empor.


 << zurück weiter >>