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Anfechtung.

Von Charlotte Niese.

Als Pietje Snut zu seiner Großmutter gebracht wurde, da war er drei Jahre alt und hatte weder Vater noch Mutter mehr.

Großmutter Snut schalt auch sehr mit dem Gendarmen, der ihr das Kind vorlangte.

»Du mein Gott,« sagte sie. »Eben kröpel ich mir durch mit den Fischhandel; und nu soll ich auch noch das Kind satt machen? Mein besten Herrn, sagen Sie mich bloß, wie ich das anfangen soll?«

Aber das sagte der Gendarm nicht. Er ging achselzuckend davon, und Pietje Snut richtete sich häuslich bei seiner Großmutter ein, was er dadurch bewies, daß er der Katze einen toten Fisch an den Schwanz band und selbst die kleine Tüte mit Kandiszucker leer aß, den Großmutter Snut Sonntags zum Kaffee nahm. Natürlich holte sich Großmutter jetzt den Besen, um Pietje damit zu strafen; als er sie aber mit seinen furchtlosen blauen Augen ansah und mit den schmierigen Händchen in sein hochgesträubtes blondes Haar fuhr, da stellte sie seufzend den Besen in die Ecke.

Denn ihr Sohn Hannes hatte früher gerade so blaue Augen gehabt und so hochgesträubtes blondes Haar. Sie war mit ihm auseinandergekommen, weil er eine Heirat gemacht hatte, die sie nicht mochte. Aber nun war er vor Helgoland aus dem Mast gefallen, und seine Frau war auch tot. Alles, was von ihm blieb, war Pietje. Großmutter Snut befreite die Katze von dem toten Fisch und warf das leere Kandiszuckerpapier ins Feuer.

»Anfechtung muß sein!« sagte sie dabei und meinte ihren Enkel Pietje mit diesem Wort. Obgleich sie meistens damit Frau Gerrit, die andere Fischfrau, meinte, die ihr seit einigen Jahren die Kundschaft im Elbdorf streitig machte. Früher hatte Frau Snut die ganze Nachbarschaft allein mit Fischen versorgt und gute Geschäfte gemacht. Jetzt mußte sie ihrer Konkurrentin einen Teil der Kundschaft abgeben, und deshalb haßte sie Frau Gerrit aus vollem Herzen.

So sehr, daß sie sich einmal in der Kirche dabei ertappte, um Frau Gerrits seliges Ende zu bitten. Sie hatte sich gleich dieser Regung geschämt, und da der Pastor gerade von Anfechtung sprach, so nannte sie von jetzt an Frau Gerrit ihre Anfechtung. Und nun kam die zweite Anfechtung: Pietje Snut, der auf festen, kleinen Beinen in ihrem Häuschen umherlief und immer dort zu finden war, wo er nicht sein sollte, der einen gottgesegneten Appetit hatte und eigentlich niemals satt war.

Ja, diese Anfechtung war schlimm für Frau Snut, und daß Frau Gerrit noch besonders nach dem Jungen fragen mußte, machte die Sache nicht leichter. Unten am Strand war es, beim Fischerewer, wo die zwei Frauen um die Schollen, Schellfische und Petermännchen feilschten.

»Is wahr, Frau Snut, daß Sie Ihr Enkelkind gekriegt haben?« erkundigte sich Frau Gerrit. Sie war eine kleine, dunkeläugige Frau, und weil sie einen Schwager in Hamburg hatte, so sprach sie fein. »Is wahr, daß Sie ihm großziehen müssen, Frau Snut? Und bei Ihrem Alter? O Gott! O Gott!«

Frau Snut wurde rot. Ja, sie war sechzig Jahre alt und Frau Gerrit bloß fünfzig. »Ich kann Ihnen noch überleben, Gerritsch!« sagte sie trotzig.

»Natürlicherweise!« Frau Gerrit lachte. »Bloß daß Sie doch ein büschen kröpelig sind! Mein Fritz sagt das auch. Der hat Ihnen gestern gehen sehen, und er sagt: ›Ne, was sieht de ohl Snutsch aus! Zum Gotterbarmen, die macht es nich mehr lang'! Mein Fritz, der kann so was sehen, Frau Snut! Er is doch in Hamburg in die Lehre beim Delikatessenhändler und lernt einen ganzen Berg. Mein Fritz –«

Wenn Frau Gerrit anfing, über ihren Fritz zu sprechen, dann fand sie kein Ende, und da außerdem Frau Snut vor Ärger beinah erstickte, so nahm sie die beiden Fischkörbe in die Hand und ging davon. Aber Pietje bekam nachher von ihr eine tüchtige Tracht Prügel.

»Das hab ich nu von dich!« sagte sie zornig. »Nix als Anfechtung. Is es nich greulich, daß Gerritsch son feinen Jungen hat, der bei den Delikatessenkerl in Hamburg lernt, und mein Hannes is bei Helgoland aus'n Mast gefallen? Und Gerritsch hatt' heut 'ne Bestellung auf Seezungen, wo sie fufzig Pfennig das Pfund bei über hat; und ich hab' die ganze Woche nich mal ein Steinbutt verkauft!«

So also lernte Pietje Snut frühzeitig, daß er und Frau Gerrit ein paar böse Anfechtungen für seine Großmutter waren, und daß er die Schläge in den Kauf nehmen mußte, die Frau Gerrit verdient hatte.

Das war natürlich nicht angenehm; aber Pietje gewöhnte sich an seine Anfechtung und trug sie in Geduld. Sonst war es nämlich sehr nett in dem hochgelegenen Elbdorf. Überall Hunde und Katzen, mit denen man spielen konnte, und am Strande das Wasser, die hohe Landungsbrücke, der Sand und die Schiffe. Wenn Pietje sich ein Loch in den Sand gegraben hatte, aus dem nur der Kopf heraussteckte, oder sein neues Vollschiff »Hammonia« segeln ließ oder auf die dumpfen Dampfpfeifen der großen Amerikaner horchte, dann vergaß er jegliche Anfechtung und fand das Leben sehr angenehm.

Auch sogar dann, als er in die Schule gehen und lesen und schreiben lernen mußte. Natürlich dachte er zuerst daran, durchzubrennen und auf eins der vielen Schiffe zu gehen, die draußen in der Elbe lagen. Aber er fürchtete doch Großmutter Snuts Besenstock, und dann war ihm auch nicht einerlei, was sie ihm sagte.

»Du willst nich lesen lernen?« fragte sie ihn. »Und weißt doch, daß der Fritz Gerrit nu bald aus die Lehre von den Delikatessenkerl in Hamburg kommt, un daß er ein großschnauzigen Bengel geworden is. Meinst, daß ich mich von Gerritsch sagen lassen will, sie hat so'n pikfeinen Jungen, und was mein Hannes sein Jung is, der kann nich mal lesen lernen?«

Über diese Worte dachte Pietje eine ganze Woche lang nach. Er hatte Zeit dazu, denn nachdem er die unbedachte Äußerung vom Durchbrennen getan hatte, da band seine Großmutter ihn an. Mit einem dicken Tauende und einem Schifferknoten, den Pietje im stillen glühend bewunderte. Er saß also vor der Haustür und konnte drei Schritt in den kleinen Garten und ebenso viele auf die Diele machen. Im Garten kam der Frühling. Im alten Kirschbaum, der seine Zweige über Großmutter Snuts Haus ausstreckte, lärmten die Stare, und die Katze saß neben Pietje und blinzelte verliebt zu den Vögeln hinauf. Unterhalb des Häuschens blinkte die Elbe, und ein paar Schiffe glitten über ihre glitzernde Fläche. Nachdenklich betrachtete Pietje die weißen, aufgespannten Segel und horchte auf den Frühlingswind, der mit den alten Dachpfannen klapperte; dann setzte er sich plötzlich hin und begann die Striche auf der Schiefertafel zu schreiben, die er heute beim Lehrer nicht hatte machen wollen. Eine Woche lang blieb er noch angebunden; dann merkte seine Großmutter, daß er nicht mehr weglaufen wollte, und er durfte wieder frei umherlaufen.

»Sei man artig, Pietje,« sagte sie. »Ich weiß, daß du meine Anfechtung bist, abers Gerritsch is noch schlimmer. Nu prahlt sie, daß ihr Jung all Geld verdienen tut. Son Bengel mit'n blauen Krawatt und son sladderigen Knochenwerk, daß'n Elbstint ein leibhaftigen Riese Goliath gegen ihm is!«

Pietje wußte nicht, was eine Krawatte und wer der Riese Goliath war; als er aber eines Sonntags Frau Gerrit mit einem sehr feinen jungen Mann gehen sah, da folgte er ihnen langsam. Und als er sich Fritz Gerrit genau angesehen hatte, da wußte er, daß er wirklich eine Anfechtung für ihn war. Er sah aus wie ein halbwüchsiger Junge, aber er trug einen feinen blauen Anzug und ein rotkarriertes Halstuch, das in der Sonne schillerte. Mit lauter Stimme sprach er auf seine Mutter ein, und Pietje konnte deutlich hören, was er sagte.

Fünfzig Mark hatte er in der letzten Woche verdient, und nächste Woche würden es gerade so viel sein. Das kam daher, weil er vor die Börse ging und dort Geschäfte machte. Zwei andere Männer halfen ihm dabei – o ja, es war fein! Viel feiner als Kommis zu sein und sich vom Prinzipal stupsen zu lassen! Und Frau Gerrit segelte wie ein aufgeblähter Fischerewer neben ihm her, trug ihr Abendmahlskleid und sah sich stolz nach allen Seiten um.

Pietje freute sich, daß Großmutter Snut nicht in der Nähe war; aber am andern Morgen wußte sie doch von allem Bescheid: von dem vielen Geld, das Fritz verdiente, und davon, daß Frau Gerrit sich nun bald einen Wagen mit einem Hund anschaffen wollte. Weil ihr Sohn das Fischgeschäft auf diese Art feiner fand.

»Sie sollt' es man ganz aufgeben!« sagte Großmutter Snut zu ihrem Enkel, »denn wollt' ich mir ja freuen. Abersten sie tut es nich von wegen, daß ich meine Anfechtung haben soll!«

Nein, Frau Gerrit gab den Fischhandel nicht auf sondern prahlte mit einem Wagen und einem bissigen Ziehhund im Dorf herum. Und weil sie ihren Käufern immer etwas Neues aus Hamburg und davon erzählte, daß ihr Sohn so viel Geld verdiente, so war sie vielen Menschen interessant, und sie kauften ihr Fische ab. Großmutter Snut aber hatte Mühe, ihre Fischkörbe leer zu bekommen. Manchmal brachte sie noch eine ganze Menge Schollen und Schellfische mit nach Haus. Sie hängte sie dann zum Trocknen in den Garten oder an den Herd; aber es war doch nicht mehr viel mit ihnen anzufangen, und Pietje mochte nicht immer Fische essen.

Indes wurde er doch groß und stark, und die Zeit ging schnell. Mit einemmal war er elf Jahre alt und hatte sich wahrhaftig so weit durch die Schule gearbeitet, daß er seiner Großmutter Sonntags etwas aus dem Gesangbuch vorlesen konnte. Dies war Frau Snuts einzige Freude; denn an Frau Gerrit erlebte sie nur Anfechtung. Hatte doch ihre Konkurrentin den Fischhandel an eine ganz junge Person verkauft und lebte von ihrem Geld, weil Fritz das feiner fand.

Fritz Gerrit ging jetzt manchmal mit einer Braut im Elbdorf spazieren; und wenn er auch noch immer spinkelig war und ein Gesicht hatte wie ein unreifer Apfel, so sollte er doch viel Geld verdienen, und seine Braut trug einen Hut, auf dem mehr Blumen wuchsen als in Großmutters Garten. Frau Snut schüttelte den Kopf, wenn sie an die Gerrits dachte, und manchmal klagte sie auch wohl, daß sie so wenig zum Leben hatte; aber mit Pietje war sie nicht mehr unzufrieden. »Werd du man ein guten Jungen,« sagte sie zu ihm. »Mit mich is das doch nix mehr; aus dich kann abers noch was werden.« – Aber gerade weil sie nicht mehr schalt, und weil Pietje die alte Frau lieb hatte, deshalb dachte er darüber nach, ob er nicht selbst bald Geld verdienen könnte.

Er kannte einen Bootsmannsmaat von einem Hamburg-Amerikaner; dem hatte Pietje einmal seinen Geldbeutel wiedergebracht, den der andere aus der Tasche verloren hatte. Seit der Zeit war der Maat freundlich gegen ihn und hatte versprochen, ihm zu helfen, wenn er einmal selbst aufs Schiff wollte.

Der Bootsmannsmaat war auch aus dem Elbdorf, und Pietje wußte, daß er jetzt auf der »Hammonia« war, und daß der Dampfer in diesen Tagen von Hamburg nach Neuyork fuhr. Wenn das Schiff nun bei dem Elbdorf vorüber ging, ob man sich dann wohl heranrudern und aufgenommen werden könnte?

Tagelang ging Pietje mit diesem Gedanken im Kopf herum, und wenn er Zeit hatte, saß er unten am Strand bei der Landungsbrücke und sah mit klopfendem Herzen auf die schwarzen Schiffsleiber, die von Hamburg herunterkamen. Die »Hammonia« war noch immer nicht unter ihnen gewesen, und auch der alte Wächter auf der Brücke sagte, sie wäre noch nicht gekommen.

Es war ganz früh am Sonntagmorgen im August. Zuerst hatte die Sonne geschienen, dann kam eine graue Wand von Westen, und über das Wasser legte sich ein weißer, dichter Schleier.

Pietje stand am Strand und spähte mit seinen scharfen Augen dorthin, wo die Fahrrinne von Hamburg herkam. Schon mehrere Male hatte er den dumpfen Ton des Nebelhorns gehört; nach seiner Ansicht war es die »Hammonia«, deren Schatten er jetzt aus dem Nebel auftauchen sah.

Er war totenblaß, und seine Augen standen voll von Tränen. Nun ging die »Hammonia« vorbei, und er konnte sich nicht heranrudern. Der Nebel war zu dicht: niemand würde sein Boot sehen. Außerdem würde der Brückenwächter, der ihm das Boot leihen wollte, es ihm auch nicht geben. Diesmal war es also nichts mit der Fahrt nach Amerika. Pietje mußte daheim bleiben und seiner armen Großmutter auf der Tasche liegen.

Der Junge weinte jetzt und starrte das große, dunkle Schiff an, das einen dumpfen Warnungsruf nach dem andern ausstieß und langsam, ganz langsam näher kam. Gerade lag es jetzt auf der Höhe der Brücke, und Pietje betrachtete es schluchzend. Da stieß es noch einen drohenden Ruf aus, drehte bei, und die Ketten rasselten.

Die »Hammonia« lag vor Anker, mitten im Strom, und man konnte die Stimmen der Mannschaft hören. Pietje rieb sich die Augen. War's wirklich wahr? Nun konnte er doch noch aufs Schiff kommen, das natürlich den Nebel abwarten wollte.

Hastig sah er sich um. Wo lag nur das Boot des Wächters, mit dem er schon oft gerudert hatte? Er war so verstört, daß er's zuerst nicht finden konnte; dann meinte er, es weiter dem Land zu hinter einem kleinen Bootshaus zu entdecken, und lief eilig dorthin.

Noch immer lag dicker Nebel über dem Wasser, und der Strand war totenstill. Nur in der Ferne schrie eine Möwe, und an Bord der »Hammonia« klang die Bootsmannspfeife.

Pietje lief leise im weichen Sand. Allerlei Gedanken huschten durch seine Seele, und er mußte an seine Großmutter denken. Sie würde erschrecken, wenn er weg war; aber er wollte ja nur Geld verdienen, um ihr etwas abzugeben. Gerade wie Fritz Gerrit seiner Mutter etwas gab.

Als Pietje bei diesem Gedanken angelangt war, sah er um die Ecke des Bootshauses und sah dort einen Menschen stehen, der sich einen Revolver an die Schläfe hielt. Ohne viel Besinnen schlug der Junge den rechten Arm des Selbstmörders zur Seite. Der Schuß ging in die Luft, und die Wasservögel schrieen zornig.

Aber auch Fritz Gerrit stürzte sich wütend auf Pietje. »Was willst du hier? Was geht's dich an, was –« Die Worte versagten ihm; er warf sich in den Sand und weinte.

»Was ist los?« fragte Pietje, der halb bewußtlos gehandelt hatte und sich von seinem Erstaunen nicht erholen konnte.

»Was los ist? Ich habe Geld gestohlen, meine Braut will mich nicht mehr, und die Polizei ist hinter mir her!«

Halb bewußtlos hatte Fritz Gerrit die Worte ausgestoßen; nun zitterte er am ganzen Leibe und sah sich wild um. Und die »Hammonia« stieß einen Klagelaut aus, und dicht vor Pietjes Füßen lag das Boot vom Brückenwächter, das er immer benutzen durfte.

Als Pietje nachher nach Haus ging, weinte er ein wenig. Denn heute war auch die Anfechtung zu ihm gekommen. Fritz Gerrit fuhr auf der »Hammonia« nach Amerika, und Pietje hatte ihn an Bord gerudert. Aber Anfechtung mußte wohl sein, wie Großmutter Snut sagte.

*

Dies war vor vielen Jahren passiert, und Pietje Snut hieß schon längst Peter Snut. Er war Bootsmann auf einem der schnellen Amerikafahrer geworden, obgleich er bis zu seiner Konfirmation mit dem Seefahren gewartet hatte. Großmutter Snut hatte noch erlebt, daß er Maat wurde, und in ihren letzten Lebensjahren hatte sie es gut und keine Sorgen mehr gehabt. Sie hatte auch erlebt, daß Fritz Gerrit steckbrieflich verfolgt wurde, und daß Mutter Gerrit im Armenhaus starb. Aber sie war nicht schadenfroh sondern voller Mitleid gewesen.

»Denn«, sagte sie, »ich glaub', Gerritsch war nich for Anfechtung, und Anfechtung muß sein!«

Peter Snut lächelte noch manchmal darüber, daß seine Großmutter so viel von Anfechtung gesprochen hatte; er selbst wußte nicht mehr viel von diesem Gefühl. Denn er hatte eine nette, kleine Frau, die im Elbdorf auf seine Heimkehr wartete, und seit einigen Jahren warteten auch zwei stramme Jungen auf ihren Vater, die ebenso gern am Strand spielten und ebenso gern gebratene Klöße aßen als Peter Snut, wie er noch Pietje hieß und für seine Großmutter eine Anfechtung war.

Es war im Frühjahr, und der Schnelldampfer, auf dem Peter Snut als Bootsmann war, hatte mit schlechtem Wetter zu kämpfen. Das kam daher, daß es bergauf, nämlich von Amerika nach Europa ging, wie die Seeleute sagten, die zugleich den Trost hinzusetzten, auf dem Land wäre schlechtes Wetter noch viel unangenehmer als auf der See.

Aber die Fahrgäste waren recht übel gestimmt, und wenn Peter Snut gelegentlich etwas in der Nähe des Promenadendecks zu tun hatte, dann sah er mit gutmütigem Augenzwinkern auf die Jammergestalten, die hier umherschwankten oder auf langen Stühlen lagen. Er konnte nicht begreifen, daß die lustigen Wellen, die ihre Spritzer bis aufs Deck warfen, anderen Menschen so unangenehm sein konnten; aber er freute sich dann doch, als eben vor England das Wetter besser wurde, die Sonne anfing zu scheinen und die See glatt wurde.

Das Promenadendeck erhielt ein anderes Aussehen. Hübsche Damen und niedliche Kinder kamen aus ihren Kabinen heraus, und als Peter Snut um die Mittagsstunde übers Deck ging, um die Sonnensegel setzen zu lassen, da blickte er wohlgefällig auf einen kleinen, blonden Jungen, der zu Füßen einer Dame saß und ein englisches Liedchen vor sich hinsang. Geradeso konnte auch Pietje Snut der zweite singen, und er hatte auch ebenso blonde Haare.

In diesem Augenblick stieß die Wache vorn am Schiff einen Ruf aus, und dann kam auch schon die große Welle. Wie ein Riesenturm erhob sie sich aus der See, schlug gegen den Dampfer, daß er tief eintauchend in allen Fugen zitterte, spülte über das hochgelegene Deck und riß mit sich, was sie mit ihren gierigen Fängen erreichen konnte. Dann war sie verschwunden – das Schiff richtete sich auf, und auf dem Meer schwammen Deckstühle, Tücher und Schemel.

Peter Snut hatte sich an der Reling festgehalten wie die anderen Menschen, die klatschnaß und aufgeregt wieder auf die Füße zu kommen suchten; dann sah er mit seinen scharfen Augen aufs Wasser, warf den Rock ab und sprang über Bord.

»Mann über Bord!« gellte es durchs Schiff, der Dampfer stoppte, die Pfeife des Bootsmannsmaats schrillte, die Fahrgäste vergaßen ihren eigenen Schrecken und sahen dem Rettungsring nach, der mit kundiger Hand geschleudert, sahen, wie ein Boot in wenigen Sekunden ausgesetzt wurde, und brachen in lautes, stürmisches Jubelgeschrei aus, als Peter Snut wieder an Bord kam und den blassen, blonden Knaben auf dem Arm trug.

Eine Frau ging ihm schwankenden Schrittes entgegen; sie sagte kein Wort; aber sie faßte nach seiner braunen, nassen Hand und küßte sie. Peter Snut wurde sehr verlegen, als ihm der vierte Offizier im Auftrag des Kapitäns einen extrafeinen Grog brachte und zugleich erzählte, wen Peter gerettet hatte.

»Den einzigen Sohn von einem reichen Kalifornier«, berichtete er. »Er heißt Herr Gerrit und muß in ein deutsches Bad reisen. Leider kann er kein Wort Deutsch sprechen, sonst wäre er schon bei Ihnen gewesen, Snut, um Ihnen zu danken. Aber Sie sollen nachher zu ihm in seine Kabine kommen, die Frau spricht etwas Deutsch!«

Peter Snut trank langsam seinen Grog aus, und wie es ihm so recht behaglich zumute wurde, da stieg aus weiter Ferne eine Erinnerung in ihm auf. Er sah sich, wie er Fritz Gerrit den Revolver aus der Hand schlug, und wie er ihn dann später an die »Hammonia« brachte, Fritz Gerrit, der gestohlen hatte, und dessen Mutter im Armenhaus sterben mußte. Aber dann schüttelte er den Kopf und dachte an andere Sachen.

Am nächsten Morgen wurde er zu Mr. Gerrit in die Kabine bestellt. Die schöne, junge Frau faßte von neuem seine Hand und sprach sanfte Dankesworte, und der kleine Junge blickte bewundernd zu ihm auf.

Aber Peter Snut achtete wenig auf die zwei Menschen; er sah dem blassen, gebeugten Mann in die Augen, der ihm ein kleines Päckchen in die Hand zu drücken versuchte. »Können Sie gar kein Deutsch sprechen, Herr Gerrit?« fragte er bedächtig.

Der Gefragte wurde rot und wandte den Blick zur Seite. Es waren Fritz Gerrits Augen, die Peter nicht gerade ansehen konnten. Die junge Frau antwortete jetzt für ihren Mann.

»Herr Gerrit spricht gar kein Deutsch, Herr Bootsmann. Sie müssen es verzeihen; aber er ist noch nie in Deutschland gewesen.«

»Noch nie in Deutschland.« Peter wiederholte unwillkürlich die Worte. Dann drehte er dem Mann den Rücken und strich nur vorsichtig über den blonden Kopf des Knaben.

»Werd' ein guter Jung, hörst du? Ein ehrlicher Jung, hast mich verstanden? Und hab' dein Vaterland lieb; da, wo du geboren bist, und vergiß dein' Mutter nicht! Hast mich verstanden?«

Er war so aufgeregt, daß er davonlief, ohne zu hören, was die fremde Dame hinter ihm herrief. Das Päckchen, das der Junge ihm nachtrug, drückte er wieder in die kleinen Hände. »Ne, mein Jung, Peter Snut braucht kein Trinkgeld, weil er mal naß geworden ist! Gib's an den Kapitän für unsere Witwen und Waisen!«

*

Nun habe ich auch meine Anfechtung gehabt! dachte Peter Snut einige Tage später. Da war er auf Urlaub zu Haus und freute sich über seine Frau und seine Jungen. »Großmutter Snut hatte recht: jedermann kriegt mal seine Anfechtung, und meine war, daß ich Fritz Gerrit gern ins Gesicht gesagt hätte, was er für'n Kerl gewesen ist. Erst hat er gestohlen und seine Mutter im Armenhaus sterben lassen, und dann, wie der Kerl in Amerika reich wird, da verleugnet er sein Vaterland! Du liebe Zeit, wenn mir die kleine, nette Frau nicht leid getan hätte und der Junge, der auch keine Schuld hat, ich hätte Fritz Gerrit meine Meinung gesagt. Wahrhaftig, ich hätt's getan, und es war eine Anfechtung, daß ich den Mund halten mußte. Aber Großmutter Snut sagte: »Anfechtung muß sein!«

Weil Peter Snut in dieser Zeit so viel an seine Großmutter denken mußte, so ging er an einem Nachmittag auf den Kirchhof, um ihrem Grab einen frischduftenden Goldlackstrauß zu bringen. Ganz lange stand er dann vor dem Fleckchen Erde, unter dem seine Großmutter der Auferstehung entgegenschlummerte, und dann ging er durch die langen Gräberreihen zu dem Platz, wo Frau Gerrit ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Sie tat ihm plötzlich leid, und er wollte auch ihr eine Goldlackblüte bringen. Wie er aber an das eingesunkene Grab kam, kniete dort ein Mann und weinte so bitterlich, daß Peter wieder leise davonging.

Wenn er später an Fritz Gerrit dachte, dann hatte er Mitleid mit ihm. Der Mann hatte auch seine Anfechtung, dachte er.

Und dann freute er sich, daß er Fritz Gerrits Jungen aus dem Wasser gezogen hatte.


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