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61. Die Solfataren und Fumarolen am Mývatn (Mückensee). – Die letzten Tage in Akureyri.

Einige Tage später kam der freundliche Herr Bürgermeister wieder zu mir ins Hotel und fragte an, ob ich Lust hätte, einen noch längeren Ausflug mit ihm und seiner Familie zu machen, um weitere Sehenswürdigkeiten des Nordlandes kennen zu lernen. Natürlich war Viktor in die Einladung miteingeschlossen.

Ich nahm an, und am folgenden Tage brachen wir in Autos auf.

Diese Reise wurde eine der genußreichsten, die ich überhaupt während meines ganzen Aufenthaltes in Island gemacht habe.

Wir hatten nicht nur die ganze Zeit über das schönste Wetter, tiefblauen Himmel, angenehme Wärme und goldenen Sonnenschein, sondern wir hatten auch das Glück, vulkanische Erscheinungen bewundern zu können, die an erschütternder Großartigkeit und Furchtbarkeit alles, was wir bis dahin gesehen hatten, weit übertrafen.

Ich muß mich aber damit begnügen, statt eines langen Berichtes nur einige wenige Andeutungen über unsere Erlebnisse auf dieser herrlichen Reise zu machen:

Am Morgen früh fuhren wir mit dem Herrn Bürgermeister und ein paar Herren vom Stadtrat von Akureyri ab. Die Frau Bürgermeister sollte erst ein paar Tage später mit fünf Kindern zu uns stoßen.

Zuerst fuhren wir über die Bergkette Vadlaheidi. Eine neue Autostraße war kurz vorher über den Berg gelegt worden. Diese Fahrt war für mich ein Ereignis; denn niemals war ich in meiner Jugend über diese Bergkette gefahren, obwohl sie dem Städtchen Akureyri gegenüber und in nächster Nähe von ihm liegt.

Jenseits der Bergkette tauchte plötzlich eine gänzlich neuartige Welt vor mir auf. Unser Auto sauste stundenlang durch wunderschöne, gutgrundige Gegenden, die noch nie bebaut worden sind, und wo Hunderttausende von Menschen ein glückliches Leben führen könnten. Auch sind dort herrliche Seen und Flüsse, in denen es von Forellen wimmelt.

Die jetzige Landesregierung hat in der Gegend zwei bedeutende Schulen bauen lassen, wie immer in der Nähe von kochenden Quellen, die unentgeltlich heißes Wasser für Heiz- und andere Zwecke liefern. Der Name der einen Schule ist Laugaskóli. Dort konnten wir in der großen Schwimmhalle ein behagliches warmes Bad nehmen.

Wir blieben an dem Ort über Nacht. Dann ging es nach dem Mückensee, isländisch Mývatn, dem zweitgrößten See Islands.

Der See und die ganze Umgebung ist von hoher Schönheit, malerisch über alle Maßen.

Im See befinden sich mehrere Inseln mit Gras und Gebüsch bewachsen. Unzählige wilde Vögel hausen dort. Um den großen See herum aber ist die ganze Gegend vulkanisch.

Ein Motorboot lag am See bereit, die Reisenden quer hinüber zu bringen. Wir stiegen ein. Gleich darauf kam der Fährmann, jung, groß und kräftig. Er sah aus wie ein richtiger Seemann. Haar und Augen waren rabenschwarz. Während er das Boot vom Ufer stieß, fragte ich ihn:

»Sind Sie Seemann?«

»Ja, aber nur ein Mückenseemann.«

»Sind Sie nicht auf dem Ozean gewesen?«

»Nein. Ich habe das Meer nie gesehen.«

Als wir etwa 20 Meter vom Ufer entfernt waren, erblickten wir auf der nahen Landstraße zwei Fußgänger mit großen Rucksäcken beladen. Sie schritten schweigend ihren Weg.

Ich machte Viktor auf sie aufmerksam, indem ich zu ihm sagte:

»Das sind keine Isländer. Wer weiß, vielleicht sind es Deutsche.«

»O, dann will ich sie gleich anrufen«, sagte Viktor.

Ich bat den Fährmann, einen Augenblick zu halten. Dann rief der Junge mit voller Kraft, indem er mit seinen Händen ein Sprachrohr bildete: »Hallo!«

Die Wanderer schritten ruhig weiter.

Noch einmal und noch kräftiger rief Viktor: »Hallo! Hallo!«

Jetzt blieben beide stehen und schauten nach dem Boot her. Da rief Viktor:

»Sind Sie Deutsche?«

»Ja.«

»Woher?«

»Aus Wien. – Und Sie?«

»Ich bin auch ein Deutscher. Aus Württemberg. – Wohin gehen Sie?«

»Wir untersuchen hier die vulkanischen Erscheinungen, – dann fahren wir nach Reykjavik und von da nach Hause.«

»Wünsche gute Reise!«

»Gleichfalls!«

Es war das nicht das einzige Mal, daß wir deutschen Gelehrten auf Island begegneten. Einige Tage später, mitten im Lande drinnen, gesellte sich ein freundlicher junger Herr zu uns und fuhr mit uns im Auto mehrere hundert Kilometer weit. Ich habe mir seinen Namen notiert. Er hieß Paul Günther, Professor an der Universität Berlin.

Unser Motorboot war wieder im Gang auf dem herrlichen Mývatn-See. Während es über die Fläche des großen Sees dahinschoß, sahen wir auf den Inseln, an denen wir vorbeifuhren, unzählige Vögel, meist Wildenten. Große Schwärme flogen über unsere Köpfe hinweg, andere wieder schwammen auf dem Wasser.

»Ist der See fischreich?« fragte ich den Fährmann.

»O ja, er ist voll von Forellen.«

Ich bewunderte auch die herrlichen Farbtöne der Inseln und Berge rund um uns herum: die einen schillerten grünlich, andere gelblich, rosafarbig, oder auch grau und violett.

Die Überfahrt dauerte etwas über eine Stunde. Wir landeten endlich vor einem Herrschaftsgut, das den Namen Reykjahlíd trägt. Meine Mutter war dort geboren. Wir wurden auf dem Hofe Reykjahlíd mit der üblichen Gastfreundschaft aufgenommen.

 

Nach dem Mittagessen sollten wir das Merkwürdigste und zugleich Schauerlichste sehen, was überhaupt auf Island zu sehen ist. Es sind dies die sogenannten Solfataren und Fumarolen, d. h. Schwefelquellen und Schlammvulkane, die fortwährend in Tätigkeit sind. Sie liegen ungefähr eine Stunde vom Mückensee entfernt in einer schreckhaften Gegend. Es wurden zwei Pferde herbeigeholt, eines für den Bürgermeister und eines für mich. Die jüngeren Reisegefährten zogen es vor, zu Fuß zu gehen.

siehe Bildunterschrift

Phot. Magnússon Der isländische Schneeberg Strandatíndur

siehe Bildunterschrift

Phot. Magnússon, Reykjavik Isländische Mädchen auf Thingvellir in ihrer heimischen Tracht

Wir mußten die »Námufell« genannten Berge hinaufreiten. Als wir etwa eine halbe Stunde geritten waren, konnten wir schon jenseits die schreckhafte Gegend überblicken.

Da war eine Ebene, umgeben von mittelgroßen Bergen. Die Berge schillerten in den grellsten Farben: feuerrot, blau, gelb, grün, orange und schimmernd weiß – ohne den geringsten Übergang. Von Pflanzenleben war nicht die Spur zu sehen. Es sah aus, wie wenn die Berge alle zusammen am Brennen wären …

Das war aber nur der Rahmen um das Schauerliche, das in der Ebene zu sehen war. Diese ganze Ebene nämlich ist nichts anderes als eine Sammlung von Schlammvulkanen, die noch immer in regster Tätigkeit sind.

Die sonst so mutigen isländischen Ponys, die diese Hölle zum ersten Mal sehen, kehren sofort schnaubend um und laufen entsetzt in wilder Flucht davon. Unsere beiden Pferde waren schon öfters dagewesen und verhielten sich daher ruhiger.

Wir ritten den Bergeshang hinunter bis zur brennenden Ebene hin.

Wir sahen eine Menge rauchende Quellen und kleine Seen, die – statt mit Wasser – mit kochendem Schlamm angefüllt sind, der immer in Bewegung ist, sich hebt und senkt und dicke, heiße Schwefelwolken entsendet.

Zwei deutsche Reisende, Gustav Buchheim und Dr. Helmuth Lotz, die damals gerade auch in Island waren und über ihre Reise ein sehr interessantes Buch schrieben mit dem Titel »Thule, das Land von Feuer und Eis«, drücken sich über dieses furchtbare Schauspiel so aus:

»Der Anblick, der sich uns jetzt bot, die stinkende, rauchende Atmosphäre, die uns umgab, der heiße, weiche, fast kochende Boden, aus dem es an tausend Stellen zugleich dampfte und brodelte, dick flüssig quackerte und Blasen warf, puffte, zischte und waberte, konnte, weiß Gott, einem erwachsenen Menschen schon mehr wie Unbehagen einflößen … In allen Pfützen und Pfuhlen, Becken und Schlünden kochte unaufhörlich glucksend und brodelnd, dampfend und stinkend der vielfarbige Tonbrei des zersetzten Gesteins, warf platzende, zerpuffende Blasen, erfüllte die Luft mit dem Schwefelgestank, ließ Schlamm emporkochen, überquellen, versinken und wieder aufleben – eine Höllenküche – ein Hexenkessel, wie ein Breughel es nicht phantastischer ausmalen könnte« (S. 67/68).

Das alles ist wahr. Es ist nicht übertrieben, und wenn man noch stärkere Ausdrücke finden könnte, um diese furchtbaren Naturgewalten zu beschreiben, würden sie auch passen.

Wie schon gesagt, ist die ganze Gegend vulkanisch; aber die vulkanische Tätigkeit hat seit Jahrhunderten aufgehört. Nur auf dieser fürchterlichen Ebene wüten die Feuereruptionen weiter. Es ist eine feuerspeiende Gegend in Permanenz. Wer ein Verlangen haben sollte, ein Bild der Hölle zu sehen, müßte dem Solfatarengebiet bei Mývatn einen Besuch abstatten.

 

Von den Solfataren mußten wir den gleichen Weg wieder zurücknehmen, bis wir unser Auto erreichten.

Nun ging die Reise wieder durch eine herrliche Gegend nach der kleinen, frisch aufblühenden Hafenstadt Húsavík. Dort fand ich mehrere Verwandten, die mich mit offenen Armen empfingen.

Es wurde hier übernachtet. Am folgenden Tage aber war die Reisegesellschaft größer geworden. Die Frau Bürgermeister von Akureyri war zu uns gestoßen mit fünf reizenden, munteren Kindern, darunter ein paar Ferienkinder aus Reykjavik, die ihre Ferien bei der Bürgermeistersfamilie verbrachten. Ich mußte im Auto der Kinder Platz nehmen, um ihnen während der Fahrt Geschichten zu erzählen.

Ich machte hier wieder einmal die Erfahrung, daß die Kinder überall dieselben sind.

Die lieben kleinen Isländer und Isländerinnen horchten den Geschichten genau so gespannt zu wie die deutschen, französischen, italienischen und englischen Kinder, denen ich dieselben Geschichten oft erzählt habe. Sie stellten auch genau dieselben Fragen wie überall.

Nach vier Tagen kamen wir spät am Abend nach Akureyri zurück.

Dem edlen Bürgermeisterpaar von Akureyri werde ich nie genug danken können – ich wiederhole es – für die Sorge um mich während meines dortigen Aufenthaltes.

 

Ein paar Tage nach unserer Rückkehr von diesem herrlichen Ausflug setzten die Einladungen zu Festen und kleineren Autotouren wieder ein.

In Akureyri ist eine blühende höhere Schule, »Mentaskóli« genannt. Der Direktor der schönen Anstalt, Herr Sigurdur Gudmundsson, lud mich wiederholt aufs liebenswürdigste zu sich ein. Ich habe mit ihm und seiner Gemahlin und Kindern überaus angenehme Stunden zugebracht.

Auch viele andere Bürger der Stadt erwiesen mir alle möglichen Aufmerksamkeiten. Ja – ich schäme mich fast, es zu berichten, will es aber doch tun – der Stadtrat von Akureyri ging soweit, mich in einer feierlichen Sitzung zum Ehrenbürger zu ernennen. Es wurden bei der Feierlichkeit mehrere Reden gehalten. Von all den schönen und lobenden Dingen, die in diesen Reden ausgesprochen wurden, hat mich ein kleiner Zug am allermeisten gerührt.

Herr Stadtrat und Schuldirektor Ingimar Eydal erzählte nämlich, daß seine kleine Tochter Thyri Sigfrídur monatelang an Lungentuberkulose schwer krank daniederlag und von den Ärzten aufgegeben war. »Eines Tages«, so berichtete er, »kam mir der Gedanke, dem schwerkranken Kinde etwas aus den Nonnibüchern vorzulesen. Ich tat es. Das Kind wurde so gepackt und angeregt, daß von dem Tag an eine Besserung eintrat. Nach einigen Wochen war meine kleine Tochter gesund.«

Man wird verstehen können, wie mich das gefreut hat. So hat also eine meiner kleinen Geschichten dieselbe Wirkung auf das isländische Kind gehabt wie zu Kopenhagen das winzige Blümlein in der Dachrinne für die Heilung des armen dänischen Mädchens, von welchem der große dänische Märchendichter Andersen in einer seiner Geschichten erzählt.

Herr Ingimar Eydal nahm mich nachher mit nach Hause, damit ich das geheilte Kind selber sehen und begrüßen könne.

 

An einem der letzten Tage meines Aufenthaltes in Akureyri ging ich allein am Meeresufer spazieren. Auf einmal kommt ein netter, kleiner, etwa zwölfjähriger Junge zu mir her, grüßt mich und sagt:

»Sie sind doch der Nonni?«

»Ja, kleiner Freund, und wer bist denn du?«

»Ich heiße Gísli Konrádsson und wohne auf der Oddeyri. Ich bin mit Ihnen nahe verwandt.«

»Das freut mich aber sehr. Wie sind wir denn verwandt?«

»Ihr Onkel, der Bruder Ihrer Mutter, war mein Großvater.«

»Er hieß Jón Jónsson. Ich kannte ihn gut. Sollte er wirklich dein Großvater sein?«

»Ja.«

»Das ist aber höchst interessant. Dann muß ich deine Eltern besuchen.«

»Meine Eltern haben mir gerade aufgetragen, ich solle Sie fragen, ob Sie nicht zu uns kommen wollten.«

»Aber sehr gern will ich das.«

Ich ging gleich mit dem kleinen Gísli zu seinen Eltern. Dort bestätigte sich, was der Kleine mir gesagt hatte. Natürlich habe ich dann meinen Besuch bei meinen lieben Verwandten wiederholt; und jedesmal zeigten sie sich hocherfreut.

Später schickte mir der kleine Gísli seine Photographie. Sie ist hier in unserem Buch wiedergegeben. Er war in jeder Beziehung ein sehr gut erzogener, geweckter und bescheidener Junge.


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