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10. Mit dem »Flying Scotchman« von London nach Edinburg.

In Kingscroß-Station bestiegen wir den prachtvollen Edinburger Zug, der von den Engländern » The Flying Scotchman« (der Fliegende Schottländer) genannt wird.

Wieder bewunderte ich es hier, mit welcher Einfachheit und Sicherheit die Engländer die gewöhnlichen Reiseangelegenheiten besorgen.

Ein Schaffner nahm uns beim Einsteigen, ohne ein Wort zu sagen, unsere größeren Koffer ab und stellte sie in den Gepäckwagen hinein – und zwar ohne jede Formalität. Da wird nichts eingeschrieben. Von Zetteln, Scheinen, Papieren irgend welcher Art ist hierbei keine Rede. Am Ende der Reise bekommt jeder Fahrgast mit aller Sicherheit sein Reisegepäck zurück.

Mit größter Schnelligkeit brachte uns der »Fliegende Schottländer« in acht Stunden von London nach Edinburg.

Die Fahrt war sehr angenehm. Von 10 Uhr vormittags bis 6 Uhr nachmittags konnten wir von unserem Wagen aus die englische Landschaft in wechselnder Schönheit kennenlernen.

Wiesen, Felder und Wälder, große und kleine Bauernhöfe, Gärten und große Parke, Städtchen und Städte, alles eilte in nicht endenwollender Reihenfolge an unsern Blicken vorüber.

Stellenweise flog der »Fliegende Schottländer« zur Abwechslung der Küste entlang. Da erfreute uns dann eine Zeit lang der Blick auf die spiegelglatte Meeresfläche, auf der unzählige Schiffe, große und kleine, herumfuhren – ein lebensvolles, ungewohntes Schauspiel.

Gegen Ende unserer Fahrt bekam die Landschaft ein neues Gepräge. Die Wiesen sahen anders aus, das Gras war nicht so hoch, schien aber viel dichter und saftiger zu sein, und die grüne Farbe war viel schärfer und schöner.

Links und rechts zeigten sich immer häufiger Hügel und Felsen. Und allmählich wurde die ganze Gegend eine Berglandschaft.

Ich machte Viktor eigens darauf aufmerksam. Einer der Mitreisenden, der meine Bemerkung gehört und, wie es schien, verstanden hatte, sagte zu mir auf englisch:

»Hier fangen die Berge an, denn hier sind wir nicht mehr in England, sondern in dem Lande der Pikten und Schotten.«

Wir waren also schon bis Schottland vorgedrungen.

Der Herr, der uns aufgeklärt hatte, machte einen freundlich-gemütlichen Eindruck und schien gern mit uns ein wenig plaudern zu wollen.

» You are foreigners, I suppose?« (»Sie sind Fremde? vermute ich«), sagte er.

»Ja. Wir sind erst vor ein paar Tagen vom Kontinent herübergekommen.«

»Darf ich fragen, welcher Nationalität Sie sind?«

»Ich bin aus Island. Der Junge aber ist ein Süddeutscher.«

»Sie sind von Island! Das interessiert mich sehr. Ich habe mich nämlich viel mit den isländischen Sagas befaßt.«

»Dann haben Sie vielleicht die isländische Sprache gelernt?«

»Ich habe es versucht, aber bald damit wieder aufgehört. Sie war mir zu schwer.«

»Das begreife ich. Dann haben Sie wohl die Sagas in englischer Übersetzung gelesen?«

»Ja, einige davon.«

»Und welche von den isländischen Sagas gefallen Ihnen am besten?«

»Die Saga von Grettir dem Starken sowie die vom weisen Niál, von Gunnlaug Schlangenzunge und von Kjartan und Bolli. Diese habe ich sogar mehr als einmal gelesen. Sie sind meine Lieblingssagas.«

Nun fragte ich ihn, woher er sei.

»Ich bin Engländer«, sagte er, »und wohne in London. Wenn Sie einmal nach London kommen sollten, bitte ich Sie, mich zu besuchen.« – »Hier ist meine Adresse«, fügte er noch hinzu, indem er mir seine Karte überreichte.

Während ich dem freundlichen Engländer für seine Einladung dankte, fing unsere Lokomotive an, durch langgezogenes, schrilles Pfeifen Signale zu geben.


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