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51. Die Laugarvatnschule. – Unterhaltende Kahnfahrt. Viktor verschwunden.

Bei der Abfahrt sahen wir uns rasch den »Hain« an, von dem das Hotel seinen Namen hat. Mit der Zeit wird er wohl ein Wald werden. Jetzt ist er noch eine mit Gebüsch bestandene Gegend.

Auf der Fahrt bis zum Nachtquartier wurden uns noch viele Überraschungen zuteil, angenehme und weniger angenehme.

Zu den angenehmen gehörten die unvergleichlich schönen Landschaften, die wir durcheilten. Mehr als einmal lehnte sich Viktor zu mir hin und erweiterte in der Begeisterung sein einfaches »Fabelhaft« zu einem ganzen Satz: »Island ist wirklich ein fabelhaft schönes Land.«

Als unser Nachtquartier war eine der achtzehn großen Schulen des Ministers Jónas bestimmt. Sie hieß »Laugarvatnschule« (d. h. Schule am See der heißen Quellen). Das Gebäude soll nicht nur Schule, sondern auch Hotel sein.

Die Laugarvatnschule ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Sehenswürdigkeit. Der große, prächtige Bau ist, wie alle übrigen, in der unmittelbaren Nähe von heißen Quellen aufgeführt. Wenn man sich den Gebäuden nähert, ist man nicht wenig überrascht, keine Schornsteine zu sehen. Das ist kein Mangel, sondern ein ungeheuer großer Vorteil. Hier wird nämlich nie Feuer angezündet. Kohlen und andere Brennmaterialien sind unbekannte Dinge. Das siedend heiße Wasser sorgt für alles aufs beste, für die Heizung aller Räume auf der ganzen Linie, für das Kochen in der Küche und für das Waschen; es liefert den Bedarf für die großen Schwimmbassins im Hause und draußen im Freien. So etwas hatten wir in unserem Leben noch nicht gesehen. Wohl aber gibt es natürlich Elektrizität für die Beleuchtung und für den Herdbedarf.

Wie leicht und einfach leistet das heiße Wasser die genannten Dienste, und welch eine Ersparnis für den Haushalt das Jahr hindurch! Während des ganzen Winters wird auf natürlichem Wege das Haus geheizt und wird das Warmwasser für die Schwimmbassins geliefert.

Die Schule ist groß, mehrere Stockwerke hoch; lange und weite Gänge, viele Zimmer.

Ganz unten ist die geräumige Schwimmhalle mit fließendem, peinlichst reinem Wasser. Das Wasserwerk ist hier die große, reiche, freigebige Natur. Sie fordert keine Bezahlung für die gewaltigen Wassermassen, die hier verbraucht werden.

Draußen im Freien befindet sich ein noch viel größeres Bassin.

Am meisten imponierte Viktor das einladende Schwimmbad. Das erste, was er tat, war, sich ins lauwarme, kristallklare Wasser hineinzuwerfen und eine gute halbe Stunde darin zu schwimmen.

Als er fertig war, war es Zeit zum Abendtisch.

 

Nach der Mahlzeit schauten wir uns die nächste Umgebung an. Da war ein schöner See ein paar Schritte vom Haus, Kähne lagen am Ufer festgebunden und luden zur Fahrt ein. Nicht weit entfernt befanden sich die heißen Quellen, die fortwährend aus dem Boden strömten. Ein Teil des heißen Wassers floß durch eine eiserne Röhre in die nahen Gebäude.

Natürlich war Viktor bald mit einem der Mitreisenden in einen der Kähne hineingesprungen und unternahm eine Bootfahrt auf dem See. Ich zog es vor, mich weiter auf dem festen Lande umzusehen.

Als es spät am Abend geworden war, begab ich mich ins Haus zurück, um mich zur Ruhe zu legen. Viktor aber war nirgends zu finden.

»Der Junge muß sicher noch auf dem See sein«, sagte man mir. Ich ging wieder nach dem Ufer hin. Alle Kähne waren da, keiner fehlte.

Also war Viktor wohl auf den nahen Berg hinaufgestiegen. Ich ging bis zum Fuße des Berges, rief nach allen Seiten, horchte und horchte …, aber von Viktor kam keine Antwort. Auch sonst war keine Spur von ihm irgendwo zu entdecken.

Ich fing an, ernstlich besorgt zu werden. War der Junge am Ende ins Wasser gefallen und ertrunken?

Dagegen sprachen aber die Boote, die ja alle am Ufer festgebunden waren.

»Aber«, sagte ich mir, »vielleicht ist er vom Seeufer ins Wasser hinuntergeglitten.«

Ich lief lange Strecken am Seeufer entlang, schaute und untersuchte überall. Aber keine Spur des Vermißten war zu finden …

Was tun?

Es war schon zwischen 11 und 12 Uhr nachts, aber natürlich noch hell.

Ich holte mein Fernrohr in meinem Zimmer, lief wieder hinaus und suchte noch einmal die ganze Umgebung ab.

Auch jetzt nirgends eine Spur von Viktor.

Da weckte ich einen der schlafenden Mitgäste und fragte ihn, was er von der Sache halte. Er beruhigte mich nach Kräften und meinte, der Junge sei wohl irgendwo nach einem Bauernhof gegangen und werde dort aus Gastfreundschaft bewirtet und zurückgehalten, wie es überall in ähnlichen Fällen in Island der Brauch sei. Ich solle nur zu Bett gehen, der Junge würde sicher wiederkommen. Übrigens fehle ja noch jemand von der Reisegesellschaft.

Erschöpft, wie ich war, von der langen Reise und mehr noch von dem langen Suchen und von der Sorge um meinen jungen Reisegefährten, ging ich auf mein Zimmer und warf mich auf mein Bett, um mich wieder zu erholen und über den beängstigenden Fall nachzudenken.

Nach einiger Zeit höre ich Schritte auf der Treppe, die nach dem ersten Stockwerk, wo unsere Zimmer waren, hinaufführten. Der Betreffende ging sehr leise und vorsichtig.

Ich blieb ruhig liegen, horchte aber in atemloser Spannung.

Die Schritte kamen näher. Zuletzt wird die Türe des Zimmers mit größter Vorsicht aufgemacht und herein tritt – Viktor.

»Gott sei Lob und Dank!« klang es in meinem Innern.

Mit größter Freude empfing ich ihn; aber trotz aller Freude erlaubte ich mir, ihm aufs eindringlichste zu empfehlen, mich ein anderes Mal wissen zu lassen, wohin er gehe, wenn er noch andere solche Extratouren machen wolle. Die Sorge um ihn sei zu groß gewesen.

Ich fragte ihn, wo er so lange gewesen sei.

Da kam heraus, was der Isländer vermutet hatte. Viktor hatte nach der Kahnfahrt mit einem der Mitreisenden in der stillen Sommernacht einen Spaziergang gemacht. Sie begegneten einem guten isländischen Bauern, der die beiden nach isländischer Sitte zu sich einlud. Beide nahmen an und blieben fast bis Mitternacht bei dem gastfreundlichen Hausherrn sitzen, natürlich bei guter Bewirtung.

So war also der »verlorene Sohn« wieder gefunden.


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