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17. Abendtee. – Die jetzige Reise Nonnis und die von 1870. – Nachtstimmung.

Die Passagiere kamen bald aus ihren Kabinen heraus und begaben sich gruppenweise, miteinander plaudernd, nach den hellbeleuchteten Gesellschaftsräumen, wo sie an den vielen kleinen Tischen Platz nahmen.

Viktor, der sich auch unter den Erwachsenen schon mehrere gute Freunde erworben hatte, war dabei. Ich sah ihn von draußen her, wie er mit einigen Damen und jungen Herren an einem der kleinen Tische Platz genommen hatte und munter mit seiner Umgebung sich unterhielt.

Da ich an diese späte Erfrischung nicht gewöhnt war und kein besonderes Bedürfnis nach einer Stärkung vor der Nachtruhe spürte, zog ich es vor, auf dem Deck zu bleiben, um die Schönheit der wundervollen nordischen Sommernacht zu genießen.

Es war schon spät geworden; aber je weiter man nach Norden kommt, desto heller werden im Sommer die Nächte.

Eine geheimnisvolle Helle durchdrang auch schon hier den ganzen Himmelsraum, und die ungeheure Meeresfläche leuchtete und strahlte, wie wenn sie aus geschmolzenem Silber und Gold gewesen wäre.

Ich schaute nach allen Seiten aus, aber soweit auch mein Blick drang, nirgendwo war ein Schiff zu sehen. Rings um uns nur unendliche Einsamkeit.

 

Das regte meine Gedanken an. Ich dachte wieder an meine Reise vor zweiundsechzig Jahren, als ich, der frische, sorglose zwölfjährige Junge, mit dem Kapitän Foß, dem heitern Steuermann, meinem kleinen Freund Owe und den drei dänischen Matrosen meine Reise von Island nach Dänemark machte …, und es kamen mir die Abenteuer meiner damaligen Reise wieder in den Sinn.

Vielleicht war es gerade hier, sagte ich zu mir selbst, wo ich die vielen Goldfische gefangen habe, während ich gleichzeitig das kleine Segelschiff steuerte. Am Abend jenes Tages hat dann der Steuermann, ganz allein oben auf dem Deck stehend und an den Mast gelehnt, seinen wunderschönen Sang gesungen: »Es kommt der große Meister …«, währenddessen ich mit Owe bei den drei Matrosen unten in der Matrosenkajüte saß und von dem großen Matrosen die Wunderberichte aus Kopenhagen hörte …

Wie war doch alles so ganz anders jetzt, hier auf dem isländischen Dampfer »Brúarfoß«!

Es war nicht zu leugnen, hier war alles viel schöner, bequemer und feiner, und doch schien es mir, als ob auf dem kleinen »Valdemar von Rönne« die Stimmung unendlich frischer und wonnevoller gewesen sei. Und solche herrliche Abenteuer wie damals erlebte ich jetzt sicherlich nicht, trotz aller modernen Einrichtungen und Bequemlichkeiten.

Woher dieser Unterschied? O glückliche, herrliche, unschuldige Jugendzeit! Bist du nicht das Himmelreich, das wonnevolle Paradies des menschlichen Lebens? Glücklich, wer dieses Paradies nie verliert, solange er auf Erden wandelt! …

Die glückseligen Erinnerungen meiner damaligen Reise schwebten wie goldene Schmetterlinge um mich und versetzten mich einigermaßen wieder in die Stimmung, die mich damals so unbeschreiblich glücklich gemacht hatte.

Von der zahlreichen Teegesellschaft drunten drangen fröhliche Laute zu mir herauf, lautes Plaudern, Gelächter und gelegentlich frische Volksmelodien von gut geschulten Einzelstimmen.

Nicht zu leugnen: es schienen Freude und Fröhlichkeit unter der Reisegesellschaft zu herrschen.

Das gefiel mir, und ich entschloß mich, vor dem Schlafengehen mit den freundlichen Menschen wenigstens eine kleine Weile zusammenzusitzen.

Ich ging die Treppe hinunter und machte die Türe des größten Saales auf. Ich stand einen Augenblick still und suchte, von dem hellen Licht fast geblendet, vergebens einen leeren Platz zu entdecken. Da ich keinen sah, drehte ich mich um und wollte wieder hinausgehen.

Da aber in einem Nu fühlte ich mich an beiden Armen gepackt. Zwei jugendlich aussehende Herren, zwei Mitreisende, waren aufgesprungen und luden mich auf das freundlichste ein, mich zu ihnen zu setzen.

Beide sprachen isländisch.

»Bitte, bitte!« sagte der eine zu mir, »es ist gerade noch ein Platz an unserem Tisch frei. Bitte, kommen Sie doch und setzen Sie sich zu uns.«

Ein paar Augenblicke später saß ich zwischen den beiden jungen Herren auf einem Sofa, vor welchem ein mit Erfrischungen beladener kleiner Tisch stand.

»Ich heiße Skagfield«, sagte der eine, »und bin Opernsänger.«

»Sind Sie Isländer?« fragte ich.

»Jawohl, und ein echter.«

Ich gab Herrn Skagfield die Hand und wollte mich nun auch selber vorstellen. Doch er kam mir zuvor mit den Worten: »Das ist nicht nötig, Herr Svensson, denn ich kenne Sie schon lange durch Ihre Bücher.«

»Aber gestatten Sie«, fuhr er dann fort, »daß ich Ihnen auch meinen Landsmann und Kollegen vorstelle: Herr Eggert Steffánsson, artista di canto.«

Durch einen warmen Händedruck begrüßte ich Herrn Eggert Steffánsson, den ich nun wieder erkannte, denn ein paar Jahre zuvor hatte ich ihn in Paris kennengelernt – und auch sogar singen gehört.

Beide Herren waren die Freundlichkeit selbst gegen mich. Sie waren außerordentlich angenehme Gesellschafter, heiter und liebenswürdig, und erzählten mir allerlei Interessantes aus ihrem Leben.

»Und jetzt reisen die Herren nach Island zur Tausendjahrfeier des Althings?« fragte ich.

»Ja, gewiß«, lautete die Antwort. »Man hat gewünscht, daß wir kommen, um bei der dreitägigen Feier auf der Thingvalla-Ebene mitzuwirken. Es werden nämlich dort auch Konzerte gegeben werden.«

»Dann werden Sie wohl nach den Festlichkeiten auch noch einige Reisen durch das Land machen?« fragte ich.

»Gewiß, das versteht sich von selbst. Wir werden, ein jeder für sich, eine Rundreise durch die verschiedenen Küstenstädte machen und überall Konzerte geben. Unsere Landsleute interessieren sich ja sehr für Gesang und Musik.«

So saßen wir da im prächtigen, hellbeleuchteten Saal und plauderten noch lange Zeit miteinander.

Als es Zeit war, sich zur Ruhe zu begeben, standen wir auf, wünschten einander gute Nacht und gingen in unsere Kabinen.

Überrascht war ich, daß ich die meinige leer fand.

Wo war Viktor? Den Gesellschaftsraum hatte er schon lange vor mir verlassen. Ich ging die Treppe hinauf und begab mich auf Deck.

Es war schon sehr spät geworden, aber deshalb doch nicht ganz finster: eine dieser geheimnisvollen halblichten nordischen Nächte.

Einige Reisende gingen auf dem Deck auf und ab und sprachen leise miteinander. Andere standen allein da, betrachteten das Meer und schienen in Gedanken versunken zu sein.

Ich ging nach dem Vorderschiff. Auf einmal entdecke ich eine einsame Gestalt, gegen die Schiffswand gelehnt. Als ich näher kam, erkannte ich bald meinen Reisegefährten. Auch er schien von dem eigenartigen nächtlichen Zauber tief ergriffen zu sein.

Ich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und sagte: »Guten Abend, Viktor! Was tust du hier?«

Er wandte sich munter zu mir um und erwiderte, indem er mit der Hand auf das Meer zeigte:

»Ich schaue mir die ›Landschaft‹ an, und die Luft und den Himmel und alles, was uns umgibt, denn es ist hier wahrhaftig der Mühe wert …«

»Und wie gefällt dir die ›Landschaft‹ und all das übrige?«

»Fabelhaft!« erwiderte der Junge. »Ich glaube fast, ich werde diese ganze Nacht gar nicht zu Bett gehen können … Ja, denken Sie einmal! Nun ist es ja doch schon Mitternacht, und doch nicht Nacht! Und diese Luft und diese Beleuchtung! Und mitten in dieser zauberhaften Umgebung, draußen auf dem gewaltigen Meer, da stürmen wir ja unaufhaltsam voran, – weit weg von Europa, – auf Island und Amerika zu … Ist das nicht fabelhaft!!

Und schauen Sie sich auch den Himmel an! Diese wundervollen Farben. So was habe ich noch nie gesehen … Und die eigentümliche Nacht selbst, man weiß nicht, was man sagen soll, sie sei hell oder dunkel. Und dort drüben am Horizont, da sieht man ein so wundervolles, rot-goldenes Licht. Es sieht ja aus wie das Abend- oder das Morgenrot. – So ein erstaunliches Leuchten habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Und das alles mitten in der Nacht!«

»Es freut mich, Viktor, daß du dieses prachtvolle Schauspiel zu schätzen weißt. Es ist aber nur ein schwacher Anfang, so etwas wie ein kleiner Vorgeschmack von dem, was du bald in Island sehen wirst.«

»Ja, was soll ich da sagen! Ich finde diesen Vorgeschmack geradezu wundervoll!«

Nach einer Pause fuhr Viktor fort: »Und unser Schiff … wie schnell es doch voranstürmt!«

Ja, unermüdlich, ohne Rast und Ruh arbeitete die gewaltige Schiffsmaschine. Vom Maschinenraum her drang ein dumpfes Gepolter, ein Dröhnen und Gerassel mit ohrenbetäubendem Klopfen, Schlagen und Stoßen zu uns herauf.

»Das kann man eine Meeresfahrt nennen«, meinte Viktor zusammenfassend.

Wir standen noch eine Weile stillschweigend und sinnend da. Endlich brach ich das Schweigen.

»Aber jetzt gehen wir zu Bett.«

»Damit bin ich einverstanden«, sagte Viktor, »denn ich fange wirklich an schläfrig zu werden.«

Wir warfen noch einen Blick auf Meer und Himmel. Der helle Lichtstreifen am Horizont im Nordosten war purpurrot geworden.

»Das ist die Sonne, denke ich, die wohl bald aufgehen wird«, bemerkte Viktor.

Er hatte recht.

Wir hätten beide Lust gehabt, hier oben auf den Sonnenaufgang zu warten.

Der Junge meinte: »Es wäre das erste Mal in meinem Leben, daß ich einen Sonnenaufgang auf dem Meere zu sehen bekäme. Hier muß ja die Sonne direkt aus dem Meere auftauchen.«

Er war aber so schläfrig geworden, daß er nun doch vorzog, gleich zur Ruhe zu gehen.


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