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40. Die Thingvellirlandschaft. – Meine Zeltnachbarn. Die erste Nacht im Zelte. – Schlechte Wetteraussichten für das Fest.

So stand ich in meinem hübsch und bequem ausgestatteten Zelte, neben tausend andern errichtet auf dem Rasen der sonst unbewohnten Thingebene. Ich will diese historische Stätte meinen jungen Lesern kurz schildern.

Die ausgedehnte Ebene ist in weitem Bogen von einem Kranz hoher, kahler Berge umzogen. Im Westen sind die Berge auf eine Strecke von etwa sieben Kilometer hin von der Almannaschlucht mit ihren wilden, phantastischen Felsengebilden durchrissen; von ihr hat Lord Dufferin geschrieben, es sei der Mühe wert, allein um ihretwillen nach Island zu reisen.

Durch die Schlucht windet sich die Straße zu dem Teil der Thingebene hinaus, auf dem die Tausendjahrfeier sich abwickelte und die festliche Zeltstadt sich ausbreitete. Nicht weit davon erstreckt sich der Thingvallasee, der größte See Islands, der über fünfzig Kilometer im Umkreis mißt.

Vom Festplatz aus kann der Blick weiter schweifen nach Nord, Ost und Süd zu dem riesengroßen Wall der hohen und mächtigen Berge.

Das Ganze ist eine überwältigende Naturschönheit ohnegleichen. Die Insel Island, die an bewunderungswerten Naturschönheiten so reich ist, besitzt keine Gegend, die so verschwenderisch bedacht ist wie gerade diese.

Die alten Normannen, die vor tausend Jahren im ganzen Lande nach einer würdigen Stätte für die jährliche Versammlung des damals soeben gegründeten Althings suchten, haben mit gutem Sinn gerade diese gewählt.

Bis zum heutigen Tag werden sie von allen, die Verständnis für Naturschönheiten haben, wegen der Wahl bewundert und gelobt.

 

Obwohl es sehr spät geworden war, konnte ich mich doch nicht entschließen, zur Ruhe zu gehen. Ich schob den Türvorhang zur Seite und trat ins taghelle Freie hinaus.

Der Himmel war klar geworden, und der feine Regen hatte aufgehört. Ich entschloß mich zu einem kleinen Spaziergang hinaus an die Grenze der Zeltstadt. Die Aussicht, die sich mir bot, war über alle Maßen schön. In der Ferne rundum sah ich den majestätischen Berggürtel, in der nächsten Nähe aber die wundervollen Felsgebilde der Almannagjá, den gewaltigen Thingvallasee und die weit ausgedehnte Thingebene mit den Tausenden von weißen Zelten.

Viele der versammelten Festteilnehmer mochten wohl schon im Schlafe liegen und sich von den Aufregungen des vorhergehenden Tages ausruhen. Doch unzählige bewegten sich noch immer außerhalb ihrer Zelte, standen in Gruppen beisammen, plauderten und lachten.

Bei der Rückkehr bemerkte ich unweit von meinem Zelt einige Herren in Unterhaltung beisammenstehend. Ich näherte mich ihnen und erkannte sie teilweise bald. Es waren die beiden französischen Abgeordneten und der Kommandant des Kriegsschiffes »Suffren« nebst ein paar französischen Privatgästen.

Die Bekannten kamen mir entgegen, um mir die Hand zu schütteln.

»Wie geht es Ihnen in dieser seltsamen Gegend?« fragte ich sie.

»Vortrefflich, ausgezeichnet«, erwiderten sie alle auf einmal.

»Und Sie denken nicht daran, sich zur Ruhe zu begeben?«

»Noch nicht«, antworteten sie lachend; »die Umgebung ist so bezaubernd schön, daß wir noch hinausgegangen sind, um sie noch eine Weile zu betrachten und zu bewundern. Eben kamen wir zurück.«

Die Herren waren also denselben Empfindungen gefolgt wie ich. Es entspann sich eine Unterhaltung trotz der späten Stunde, und ich konnte ihnen verschiedene Fragen beantworten und ein paar Aufschlüsse über die Gegend geben.

»Jetzt möchte ich mich aber in meine Gemächer zurückziehen«, sagte endlich der Kommandant der »Suffren«.

»Nun, dann wollen wir Ihrem guten Beispiel folgen«, meinten die übrigen Herren.

Wir wünschten uns gegenseitig gute Nacht und begaben uns in die Zelte.

Während der Nacht schlief ich wie ein Stein und befand mich sehr wohl auf meinem Feldlager.

 

Als ich am Morgen aus dem Zelte ins Freie hinaustrat – oh weh! Der Himmel war wieder mit Wolken bedeckt, und der feine Regen vom Abend vorher fing aufs neue an. Auch war die Luft nicht mehr so warm.

Guter Gott! Sollte das große Fest, welches das ganze Inselvolk mehrere Jahre hindurch unermüdlich mit größtem Eifer vorbereitet hatte und zu welchem so viele Tausende Gäste aus der ganzen Welt zusammengekommen waren, durch Regen und Kälte unmöglich gemacht werden? Ich warf einen Blick in die Ferne nach den Bergen, die uns wie eine Riesenmauer umgaben. Da wurde ich förmlich bestürzt, denn was mußte ich entdecken? Die Spitzen und Kuppen waren schimmernd weiß von neugefallenem Schnee! … Also war dort ein starker Schneesturm gewesen, während ich in meinem Zelte schlief …

Voll Schrecken und Angst stand ich da, denn die isländische Natur war mir wohlbekannt.

»Der Schneesturm, der während der Nacht oben auf den Bergen gewütet hat«, sagte ich zu mir selbst, »wird aller Wahrscheinlichkeit nach im Laufe des Tages die Zeltstadt erreichen und das ganze herrliche Fest in ein namenloses Chaos auflösen!«

Ein unheimlicher Druck lastete auf der Stadt, eine fast lautlose Stille herrschte fast überall. Kein lautes Sprechen, kein fröhliches Rufen und Lachen war zu hören.

»Die Ruhe vor dem Sturm, vor der Auflösung und Vernichtung all dieser großartigen Vorbereitungen«, dachte ich, und so dachten wohl die meisten andern.

Von den zahlreichen Zeitungsreportern wurden eben jetzt durch den Draht unheimliche Nachrichten in die Welt hinausgesandt.


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