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7. Durch den Ärmelkanal nach England.

Wir bewegen uns am Bahnhof mit dem Menschenstrom nach vorwärts … Der Weg ist genau bestimmt. Wir müssen durch verschiedene Gänge, Räume, amtliche Geschäftszimmer hindurch.

Es werden uns schweigend Zettel und Kärtchen in die Hand gedrückt. Die sollen wir wohl im Schiff abgeben, denn die Nummer unserer Kabine steht darauf.

Es wird hier überhaupt wenig gesprochen – und die wenigen Worte, die man hört, sind englisch.

Nun zum Bahnhof hinaus in die dunkle Nacht … Doch nein! Blendende elektrische Lichter machen die Nacht zum Tag.

In kurzem Abstand von uns sehen wir Masten hoch in die Luft aufragen … Wir sind also schon am Kai … Eine ungeheure dunkle Masse liegt gerade vor uns. Es ist das englische Schiff, das uns erwartet. Mehrere parallele Reihen von strahlenden runden Fensterchen laufen der Schiffseite entlang. Da werden wir unsere Kabine finden, denken wir.

Noch einige Schritte, und wir betreten die Landungsbrücke. Nach einigen Augenblicken stehen wir auf dem Deck des englischen Dampfers. Viktor zum ersten Mal im Leben auf einem Seedampfer!

Eine große Schar von Matrosen, Kellnern und dienenden Schiffsfräuleins oder Stewardessen stehen zum Empfang der Reisenden schweigend auf dem Schiffsdeck – alle in Uniform.

Eine Stewardeß nimmt uns, immer schweigend, unsere Karten ab, wirft rasch einen Blick auf die Nummer und macht uns dann ein Zeichen, mitzukommen.

Wir folgen … Sie führt uns nach einer steil abfallenden Treppe.

Sie geht voraus, wendet sich auf der ersten Stufe um und sagt zu uns: » Down, please!« (»Hier herunter, bitte!«)

Also gehen wir hinter ihr die Treppe hinunter.

Unten wendet sich unsere Führerin wieder um, macht uns wieder ein Zeichen, ihr zu folgen, und sagt noch einmal: » Down!«

Gleichzeitig steigt sie eine zweite Treppe hinunter – wir ihr nach.

Wir wundern uns beide, daß wir so tief unten im Schiff die Nacht zubringen sollen.

Doch da ist nichts zu machen: wir steigen tapfer – unserer Führerin nach – in die Tiefe.

»Jetzt sind wir schon ein gutes Stück unter dem Wasserspiegel des Meeres«, bemerkte ich da zu Viktor. »Wie werden wir hier Luft bekommen?«

»Das interessiert mich auch«, sagte mein Begleiter.

Doch unsere Verwunderung sollte noch größer werden …

Als wir mit der zweiten Treppe fertig waren, befanden wir uns in einem hellbeleuchteten, mit Teppichen belegten Gang. Eine endlose Reihe weißer Türen waren zu beiden Seiten des Ganges zu sehen. Also waren hier eine große Anzahl Passagierkabinen.

»Hier wird wohl auch unsere Kabine sein«, meinte Viktor.

»Das glaube ich auch«, antwortete ich.

Wie staunten wir aber, als das Fräulein nach einer dritten Treppe ging, sich wieder auf der ersten Stufe zu mir umdrehte mit der alten Weisung: » Please, Gentlemen, here down!« (»Seien Sie so gut, meine Herren, hier herunter!«)

Ohne ein Wort zu sagen, ergaben wir uns in unser Schicksal und stiegen hinter dem Fräulein in die geheimnisvolle Unterwelt hinunter.

Wieder kamen wir in einen hellbeleuchteten Gang mit Türen an beiden Seiten.

»Hier werden wir ja ersticken«, meinte Viktor, »denn in diese Tiefe kann doch unmöglich frische Luft dringen …«

»Ich weiß auch nicht, wie das gehen wird«, entgegnete ich.

Unterdessen führte das Fräulein uns durch den Gang nach einer Tür, machte sie auf, forderte uns mit einem höflichen » Please, Gentlemen!« auf, einzutreten, und verabschiedete sich dann. Die Kabine war geräumig und schön ausgestattet. Zwei Betten waren dort übereinander angebracht.

Dort also – tief unter dem Wasserspiegel – sollten wir bis 6 Uhr des folgenden Tages schlafen.

Und die Luft hier unten?

Ja, in dieser Hinsicht wurde uns eine angenehme Überraschung zuteil.

Als ich mich nämlich näher in unserem Schlafgemach umsah, entdeckte ich oben an der einen Seitenwand, wenig über unsern Köpfen, ein rundes Loch, so groß, daß man bequem die Faust hineinstecken konnte, und aus dem Loch strömte reine, frische Luft zu uns herein.

Wir mußten bekennen, daß nur wegen unserer Unkenntnis der neueren Schiffsbautechnik unsere Befürchtungen möglich gewesen waren.

»Jetzt hast du zum ersten Mal in deinem Leben das Meer gesehen«, sagte ich zu Viktor.

»Das Meer?« rief er ablehnend aus, »ich habe auch nicht die Spur vom Meer gesehen. Es war ja stockfinster, als wir an Bord gingen, und die Lichter auf dem Deck haben mich nur geblendet.«

»Es ist richtig, Viktor, ich dachte nicht daran. – Wenn du es aber jetzt nicht sehen kannst, so wirst du sehr bald zu fühlen bekommen, daß wir darauf sind, denn die Matrosen sind schon daran, unser Schiff freizumachen. Wenn sie damit fertig sind, fahren wir sofort ab trotz der stockfinstern Nacht. Sobald wir uns ein wenig von der Küste entfernt haben, werden die Meereswellen anfangen, uns zu schaukeln.«

»Das wird aber ein Spaß sein«, erwiderte er. »Wenn es nur ordentlich Wellen gibt!«

»Ordentliche Wellen werden schon bald da sein«, sagte ich ihm entgegenkommend, »denn gewöhnlich ist das Meer zwischen dem Kontinent und England etwas unruhig. Und zudem ist es jetzt windig, wenn auch nicht stark.«

»Ja, richtig, man merkt schon, daß es droben ein wenig windig ist. – Aber, was wollen wir nun jetzt tun? Wir gehen doch nicht gleich zu Bett?«

»Das brauchen wir natürlich nicht. Doch wenn ich nicht irre, bist du vorher im Zug allmählich sehr schläfrig gewesen.«

»Ja, im Zug! Aber jetzt bin ich weder müde noch schläfrig. Ans Schlafen kann ich jetzt nicht denken. Im Gegenteil, ich muß unbedingt hinauf, um mir das Schiff ein wenig anzusehen, und das Manövrieren bei der Abfahrt. Das ist etwas Neues für mich!«

Ich gab Viktor recht und freute mich an dem lebhaften Interesse, das er für all das Neue bekundete, was uns umgab. Und so gingen wir denn beide die drei hohen Treppen hinauf.

Die Landungsbrücke war schon eingezogen, und die Matrosen waren mit dem Losmachen des großen Schiffes beschäftigt.

Auf dem Schiff selbst war es blendend hell. Wenn wir aber weiterschauen wollten, sahen wir nur die undurchdringliche, pechschwarze Nacht.

Wir lehnten uns über die Schiffsbrüstung, um das Meer zu entdecken – aber vergebens.

An den Kommandorufen des Kapitäns merkte ich, daß das Schiff schon vom Kai losgelöst war und nun anfing, den Vordersteven, das heißt die Spitze oder den Vorderteil des Schiffskörpers, langsam nach dem hohen Meer zu wenden.

Als es sich endlich in der richtigen Lage befand, fingen die Schiffsmaschinen an, kräftiger und mit stärkerem Geräusch zu arbeiten.

Das ganze Schiff zitterte und bebte; ein unheimliches Krachen wurde von überallher vernehmbar – und nun setzte sich endlich der Koloß in Bewegung, vorwärts nach dem hohen Meere hin, in die unheimliche Nacht hinaus …

Unsere Seereise hatte begonnen.

Die Vorwärtsbewegung des Schiffes wurde immer schneller, die Lichter am Kai kleiner und schwächer. Endlich entschwanden sie ganz unsern Blicken, und gleichzeitig fühlten wir deutlich, daß das Schiff sich nicht nur vorwärts bewegte, sondern auch bald anfing, uns sanft in die Höhe zu heben, um uns gleich danach ebenso sanft in die Tiefe zu ziehen.

Und nicht genug damit: wir wurden auch immer mehr und mehr nach den Seiten hin geschaukelt, bald nach links, bald nach rechts.

Es war ein richtiges, immer zunehmendes Schlingern, ein Aufundab- und Seitwärtsschwanken des Schiffes mit einer Unruhe, die uns für den Rest der Nacht fast bange werden ließ.

Es war zudem alles so neu und so ungewohnt und daher auch so spannend und fesselnd, besonders für meinen jungen Gefährten, daß wir beide noch lange oben auf Deck verblieben …

Auf einmal neigte sich das Schiff so stark nach der einen Seite, daß wir uns an einem Geländer festhalten mußten, um nicht umzufallen.

»Fabelhaft!« rief Viktor begeistert aus. »Jetzt bin ich keine Landratte mehr …!«

»Und von Seekrankheit merkst du nichts?«

»Nicht das Geringste … Ich möchte nur, daß wir ein wenig Sturm bekämen.«

»Ich möchte dir ein kleines Abenteuer gönnen! Du bist ja ›seestark‹, wie die Seeleute sagen.« –

Wir schauten zurück nach der Küste. Aber von der Küste oder vom Lande überhaupt war nichts mehr zu sehen.

Auf dem Meere dagegen, das uns immer noch pechschwarz zu sein schien, entdeckten wir rund um uns wunderschöne, buntleuchtende Lichtlein: rot, grün und golden.

Es waren Schiffe, große und kleine, die ja immer in der Finsternis ein jedes mit drei verschiedenen Lichtern in den genannten Farben versehen sein müssen.

So standen wir da oben auf dem Deck des rasch voranstürmenden Schiffes und genossen noch eine Zeit lang den eigenartigen, stimmungsvollen Zauber der nächtlichen Meeresfahrt.

Doch je weiter wir aufs Meer hinauskamen, desto größer und unruhiger wurden die Wellen, und desto nachdrücklicher wurde das Schlingern und Schwanken des Schiffes. Das Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf meldete sich bei uns immer dringender.

»Jetzt gehe ich schlafen«, sagte ich da endlich zu Viktor, indem ich ihm gute Nacht wünschte.

»Ich bleibe noch etwas auf und komme später hinunter«, erwiderte er.

So trennten wir uns, und kurz darauf lag ich wohlversorgt in meiner Koje.

Ich schlief gleich ein und merkte fortan nichts mehr, weder von Wind und Wellen, noch von den Bewegungen des Schiffes, noch von Viktor, als er etwas später hinunterkam und sich zur Ruhe legte.

Wir erfreuten uns dann beide ungestört eines tiefen, gesunden Schlafes, bis gegen 6 Uhr morgens ein lautes Geräusch vom Deck her und das schwere Ächzen und schrille Kreischen der Schiffsmaschine plötzlich uns aus unserer Ruhe herausrissen …


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