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15. Ein überraschendes Wiedersehen

Ich blieb noch einige Minuten da stehen, bis das letzte Zeichen zum Diner gegeben wurde. Dann ging ich nach vorn und machte Viktor darauf aufmerksam, daß wir jetzt in den Speisesaal gehen müßten.

»Wenn wir bei Tisch zusammensitzen wollen«, sagte ich ihm, »dann ist es gut, daß wir zu gleicher Zeit in den Speisesaal eintreten.«

»Ganz recht«, sagte Viktor. »Warten Sie, bitte, ein wenig, ich will mich schnell ein bißchen in Ordnung bringen.« Er sprang rasch die Treppe hinunter nach unserer Kabine und kam nach ein paar Minuten zurück, gewaschen, gekämmt und gebürstet.

Dann traten wir beide in den schon vollbesetzten Speisesaal hinein. Sofort kam in höflichster Weise der dänische Oberkellner auf uns zu.

»Verzeihung, Sie sind Herr Jón Svensson?« fragte er mich.

»Ja.«

»Dann seien Sie so gut und nehmen Sie Platz dort oben neben dem Herrn Kapitän. Der Herr Kapitän hat es so bestimmt.«

Da war nichts zu machen. Ich folgte dem Oberkellner bis ans obere Tischende, wo der Kapitän mit einigen isländischen und dänischen Herren zusammensaß.

Ich machte eine Verbeugung vor dem Schiffsführer. Dieser stand sofort auf, grüßte mich sehr freundlich und bat mich, neben ihm Platz zu nehmen.

Meinem jungen Reisegefährten wurde neben mir Platz angewiesen.

»Ich weiß, Sie sind Pater Jón Svensson«, redete mich freundlich lächelnd der Kapitän an. »Ich heiße Sie willkommen auf meinem Schiff und freue mich, daß Sie endlich unsere Heimatinsel besuchen wollen, nachdem man Sie so oft vergebens dorthin eingeladen hat. Ich freue mich auch ganz besonders, daß Sie gerade mit meinem Schiff hinfahren, denn wir sind engere Landsleute. Sie sind ja aus Akureyri – und dorther bin ich auch.«

Ich dankte meinem Landsmann für seine Freundlichkeit und fügte dann hinzu:

»Es ist richtig, Herr Kapitän, ich habe in Akureyri gewohnt. Ich war drei Jahre dort. Von 1867 bis 1870. Ich bin aber nicht dort geboren. Meine Geburtsstätte ist Mödruvellir. Dort habe ich die ersten neun Jahre meines Lebens zugebracht.«

»Ich weiß es«, sagte der Kapitän, »aber Mödruvellir liegt so nah bei Akureyri, daß wir uns doch als engere Landsleute betrachten können.«

»Gewiß können wir das«, stimmte ich dem freundlichen Herrn bei.

Jetzt mußte ich auch Viktor vorstellen; denn, indem er ihn anschaute, fragte der Kapitän:

»Dieser Junge ist wohl Ihr Reisebegleiter? Woher ist er?«

»Er ist ein Deutscher, Herr Kapitän, aber kein Norddeutscher, sondern ein echter Süddeutscher. Er ist aus dem sonnigen Süden, und zwar aus dem wunderschönen und fruchtbaren Lande der Schwaben, wo auch ein guter Wein wächst, wo die Menschen viel lebhafter und heiterer sind als in unsern nördlichen Gegenden.«

»Es freut mich«, sagte der Kapitän, »daß Sie einen so liebenswürdigen Reisebegleiter bei sich haben, und ich hoffe, daß, obwohl er aus dem sonnigen Süden ist, der hohe Norden ihm doch nicht mißfallen wird.«

Hiernach stellte uns der Kapitän den Herren vor, welche uns am nächsten saßen.

 

Bei dieser Vorstellung sollte mir eine außerordentlich angenehme Überraschung zuteil werden.

Es saß nämlich mir gegenüber ein netter und sehr sympathisch aussehender isländischer Herr.

Gerade bevor er mir vorgestellt werden sollte, redete er mich selber an:

»Herr Jón Svensson«, sagte er, »wir haben uns schon einmal gesehen. Können Sie sich vielleicht noch erinnern, wo und wann das war?«

Ich schaute den stattlichen Herrn aufmerksam an, konnte mich aber trotz des besten Willens nicht erinnern, ihn jemals gesehen zu haben.

Er bemerkte meine Verlegenheit und sagte lächelnd:

»Ich kann sehr gut begreifen, daß Sie sich nicht mehr an unsere Begegnung erinnern. Es ist nämlich recht lange her, daß wir uns sahen; auch war ich damals nicht ganz so groß wie jetzt«, fügte er lächelnd hinzu.

»Wie lange ist es her?« fragte ich.

»O, es mögen ungefähr siebenunddreißig Jahre sein«, erwiderte er.

»Also zur Zeit meiner letzten Islandreise im Jahre 1894«, bemerkte ich.

»Ja, gerade damals«, sagte er. Und nun erzählte er den ganzen Vorgang.

»Mein Name ist Rafnar. Mein Vater war Pfarrer auf dem Pfarrhof Hrafnagil, in dem Eyjafjördur, südlich von Akureyri. Als ich noch ein kleiner Junge war, kaum neun Jahre alt, ritt ich eines Tages, im Sommer 1894, mit meinem Vater von Hrafnagil nach Akureyri. Auf dem Wege begegneten wir Ihnen. Sie ritten südwärts mit einem dänischen Jungen, dem kleinen Frederik, Sohn des Professors Troels Lund aus Kopenhagen. Ihr Reiseführer war Ihr alter Freund Gunnar Einarsson. Als wir uns begegneten, machten wir alle einen kurzen Halt und sprachen einige Worte miteinander.«

»Ah, jetzt kann ich mich sehr gut erinnern«, unterbrach ich Herrn Rafnar. »Ich sehe Sie noch klar und genau vor mir, wie Sie damals zu Pferd saßen, neben ihrem Herrn Vater. Sie hatten lange, weiße Strümpfe an, die über den Beinkleidern bis über die Kniee hinaufgezogen waren. Dann erinnere ich mich noch ganz gut, daß außer Ihnen ein zweiter Junge dabei war. Er war ungefähr so groß wie Sie und ganz gleich angezogen …«

»Sie müssen doch ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben«, versetzte Herr Rafnar, »denn alles, was Sie sagen, paßt genau. Der andere Junge war mein Bruder, der jetzt Oberarzt im Sanatorium von Kristnes im Eyjafjördur ist.«

Die übrigen Tischgenossen wunderten sich über diese eigentümliche Begegnung und das beiderseitige Wiedererkennen auf dem isländischen Dampfer »Brúarfoß«.

Das Tischgespräch wurde immer gemütlicher und heiterer. Herr Rafnar mußte mir noch einiges aus seinem Leben weitererzählen.

Er hatte seine Ausbildung in Island und Dänemark erhalten und war jetzt Direktor einer bedeutenden isländischen Handelsgesellschaft – mit Wohnsitz in Kopenhagen.

Endlich verabschiedete ich mich von den freundlichen Herren der Tischgesellschaft, um mir nun auch die Gelegenheit zu verschaffen, meinen eigenen Gedanken und Eindrücken nachzugehen und ein wenig allein mit mir selber zu sein. Viktor hatte sich schon längst wieder in die Gesellschaft der Kinder begeben.


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