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6. Aufbruch. – Mit Viktor in dunkler Nacht quer durch Holland.

Ein paar Tage blieben wir noch in 's Heerenberg. Am 14. Juni aber brachen wir auf.

Spät am Abend stiegen wir in Emmerich in einen prächtigen deutschen Zug ein, der uns während der Nacht quer durch ganz Holland führen sollte.

Es gelang uns, nach einigem Suchen in der langen Wagenreihe ein unbesetztes Abteil für uns allein zu erhaschen. »Ein gutes Zeichen für einen angenehmen Verlauf der Reise!« meinte Viktor.

Gleich darauf wurde dem frischen Jungen zu seiner großen Freude eine Überraschung zuteil, welche er als ein noch besseres glückverheißendes Zeichen ansehen wollte. Als wir nämlich in dem engen, aber prächtig ausgestatteten Raum Platz genommen hatten, schaute sich Viktor in der kleinen Behausung ein wenig um. Da wurde er zuerst auf einige schöne, große Photographien aufmerksam, welche an den Wänden zu sehen waren.

»O, sind das schöne Bilder«, bemerkte er, »die da an den Wänden hängen! Die muß ich mir ansehen!«

Er stand auf und wollte anfangen, die Unterschriften der Bilder zu lesen. Kaum aber hatte er sich dem Bilde zugewandt, das gerade seinem Platz gegenüber angebracht war, da stieß er einen Freudenschrei aus und starrte mit einer Miene, die starke innere Erregung erkennen ließ, auf das Bild hin.

Ich schaute ihn verwundert an. »Aber was ist denn los, Viktor?« rief ich ihm endlich zu.

Als Antwort streckte er den Arm nach dem Bilde aus und sagte mir nur das eine Wort: »Horb!«

»Wie! Horb? Ist es Horb?« rief auch ich nun aus, indem ich aufsprang. »Vielleicht hast du dich getäuscht.«

Nun sah aber auch ich die Unterschrift des Bildes. Da stand wirklich deutlich gedruckt das Wort: »Horb am Neckar«, das süddeutsche Heimatstädtchen des jungen Viktor!

Wir betrachteten nun beide das reizende Bild: ein niedliches süddeutsches Städtchen an einem Berg hinauf gebaut.

»Ja, das ist Horb …«, belehrte mich Viktor, »da wohne ich. Und hier ist unser Haus … Sie können es sehen. Da steht es …«

Ich betrachtete das Bild eine gute Weile genau.

»Wir wollen hoffen, daß auch das ein glückverheißendes Vorzeichen ist«, erwiderte ich.

Allmählich kam Viktor wieder zur Ruhe.

Unterdessen sauste der lange D-Zug mit unheimlicher Schnelligkeit durch die holländische Landschaft, die, obwohl flach wie eine Tischplatte, doch in ihren großen Linien und mit ihrer Staffage eigenartig schön aussah. Saftiggrüne Wiesen, von zahllosen Kanälen durchschnitten, – und darauf bewegten sich wie dunkle Schatten unzählige Kühe von dem berühmten holländischen Schlage und belebten die Landschaft, andere hatten sich gelegt und ruhten aus von den Anstrengungen des Tages.

Doch es wurde nach und nach so dunkel, daß man sich kein klares Bild mehr von der Landschaft machen konnte, die sich vor unsern gespannten Blicken wie ein Riesenteppich aufrollte. Es dauerte nicht lange, da hatten sich die undurchdringlichen Schatten der Nacht über die ganze Natur herabgesenkt, und wenn wir durch die Fenster schauten, sahen wir nichts als die dunkle geheimnisvolle Nacht …

Der Zug aber raste wie ein langgestrecktes leuchtendes Ungeheuer unermüdlich und sicher durch die Finsternis – seinem fernen Ziele zu.

So ging es mehrere Stunden lang. Endlich, kurz vor Mitternacht, bemerkten wir einen schwachen goldenen Schein, der von außen durch die Fenster zu uns hereindrang.

Ich stand auf, öffnete ein Fenster und schaute nach vorn.

Der ganze Horizont vor uns erschien hell erleuchtet.

Ich hörte Schritte im Wagengang. Es war ein Schaffner, der sich durch den Gang bewegte.

»Was ist das für ein Schein dort vorne?« rief ich ihn an.

»Rotterdam …«, erwiderte er mit einer kräftigen Baßstimme, indem er weiterschritt.

Der Schein wurde immer heller. Wir kamen seinem Ursprung immer näher.

Auf einmal flutete blendend weißes Licht durch alle Fenster … Unser Zug rollte schnaubend in den taghell beleuchteten Bahnhof von Rotterdam.

Doch der Aufenthalt hier war sehr kurz. Wieder setzten sich die Wagen in Bewegung, und wieder ging es in die dunkle Nacht hinaus.

Bald rasten und sausten wir vorwärts wie vorher …, aber diesmal nur eine kurze Zeit, denn Hoek van Holland war nicht weit entfernt. Dort aber war die Küste, und draußen das große Meer … Und am Kai wartete ein gewaltiger englischer Dampfer auf die Ankömmlinge.

Unser Zug war stark besetzt, und alle die vielen Menschen, die drinnen waren, wollten nach England.

Viktor war ein wenig schlaftrunken, freute sich aber doch mächtig und war voller Spannung auf die Dinge, die jetzt kommen würden.

Das Meer, der große Dampfer, die nächtliche Fahrt auf den schaukelnden Wellen, die Trennung vom Festland und die baldige Ankunft in England: alles das beschäftigte seine Phantasie.

Wir wußten, daß wir nach sechs Stunden, also am folgenden Morgen um 6 Uhr herum, die englische Küste erreicht haben würden.

Wieder ein goldener Schimmer im Ausblick vor uns.

Wir machen uns zum Aussteigen bereit, holen unsere Koffer vom Netz herunter und suchen in den Gang hinauszukommen, der schon mit Reisenden angefüllt ist.

Plötzlich ein schriller Pfiff der Lokomotive … Wir sind in Hoek van Holland.


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