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12. Von Edinburg nach der Hafenstadt Leith. Der Islanddampfer »Brúarfoß«.

Auf einmal wurden wir in unserem Gespräch durch ein tiefes, lautes Tuten von der Straße her unterbrochen.

»Es ist der Wagen, den ich für Sie bestellt habe«, sagte unser Gastgeber. »Er wird Sie nach Leith zu Ihrem isländischen Dampfer bringen.«

Wir verabschiedeten uns von der ganzen Familie und dankten herzlich für die ungemein angenehmen Stunden, die wir bei ihr zugebracht hatten.

Der Hausherr meinte: »Wenn Sie nach Island kommen, werden Sie noch besser empfangen und behandelt werden als hier bei uns.«

»Besser als bei Ihnen!« erwiderte ich, – »das muß ich erst sehen, bevor ich es glaube.«

»Glückliche Fahrt!« riefen die liebenswürdigen Menschen uns nach, als der Wagen davonrollte …

Unser Auto sauste in rascher Fahrt durch breite Straßen dahin, an Gärten, Plätzen und Blumenanlagen vorbei.

Viktor und ich saßen zuerst eine Weile schweigend nebeneinander und betrachteten das Stadtbild, die Häuser, die Wagen und die vielen Menschen, an denen wir vorbeifuhren.

Überall sahen wir lange Reihen von Arbeitern, die unbeweglich längs der Häuserreihen hockten und miteinander plauderten …

Es waren die Arbeitslosen …! Davon sollten Millionen in England sein! So berichteten die Zeitungen. Und der englische Staat mußte täglich alle diese Millionen, die keine Arbeit leisten konnten, weil keine da war, unterhalten und ernähren. Täglich mußte die Regierung Geld an sie verteilen.

Welch ungeheure Summen flossen da unablässig aus der englischen Staatskasse an diese Millionen!

Wie konnte die Regierung diese ungeheuren Geldsummen beschaffen?

Diese Gedanken beschäftigten mich sehr und drückten mich um Englands willen. Ich dachte nicht daran, daß um ein Jahr später Deutschland, das Vaterland meines jungen Reisegefährten, in noch viel größerem Maße unter diesem Mißgeschick zu leiden haben würde!

Der englische Staat ist reich, unermeßlich reich, sagten viele.

Andere meinten, daß das englische Weltreich zu Grunde gehen würde an den Arbeitslosen, die wir da in endlosen Reihen und unzähligen Gruppen vor uns sahen …

Ich warf einen Blick auf Viktor, der immer schweigend neben mir saß, aber bei seiner Jugend wohl nicht von dem gleichen Gedanken beunruhigt wurde.

»Hast du die Arbeitslosen gesehen?« fragte ich ihn.

»Die Arbeitslosen! Nein, ich habe keine gesehen. Wo sind sie denn?«

»Schau nur einen Augenblick durch das Fenster.«

»Ah so … die Leute da, die auf dem Trottoir beisammen stehen …?«

»Ganz richtig! Das sind die englischen Arbeitslosen, die das reiche England vielleicht ruinieren werden …«

»Nun ja … ich muß gestehen, ich hatte sie nicht bemerkt … Ich war in andern Gedanken.«

»Wahrscheinlich hast du an die ›Brúarfoß‹ gedacht, welche uns jetzt gleich auf den großen Atlantischen Ozean hinausbringen wird …«

»Ja, auch an die habe ich gedacht. Ich habe überhaupt an den Verlauf unserer Reise gedacht …«

Und jetzt fing Viktor an, seine frisch-fröhlichen Jungengedanken mir auseinanderzusetzen.

»Denken Sie«, sagte er, »nun sind wir kaum vier Tage auf der Reise – und haben schon so vieles gesehen …!

Zuerst Holland bei Nacht: wie stimmungsvoll war doch die nächtliche Fahrt quer durch ganz Holland von Emmerich bis Rotterdam!

Und dann der gewaltige englische Dampfer, auf dem wir ebenfalls in dunkler Nacht vom Festland nach Harwich gefahren sind …!

Dann aber das Wunderbarste von allem Bisherigen: unser Aufenthalt in London! Da bin ich kreuz und quer in der Riesenstadt herumgefahren, und was ich da gesehen habe, werde ich mein Leben lang nicht vergessen.

Nach London kam dann der ›Flying Scotchman‹ …, was für eine herrliche Reise durch ganz England!

Und zuletzt die Erlebnisse hier in Edinburg! Die Princes-Street, die Blumenuhr und die wirklich erstaunliche Liebenswürdigkeit der schottischen Familie in der Lauriston-Street!

Hätte wohl der Anfang unserer Reise schöner sein können?

Ich kann nur das eine Wort sagen: ›Fabelhaft! fabelhaft! ja dreimal fabelhaft!‹«

Ja, Viktor war begeistert. Und ich freute mich über seine Begeisterung.

Ich wollte ihm etwas antworten. Er ließ mich aber in seiner Erregung nicht zu Worte kommen, sondern fuhr fort:

»Und jetzt muß ich noch sagen … ja, ich meine, ich stelle mir vor, daß das, was nun kommen wird, noch viel schöner und großartiger sein wird als selbst dieser herrliche Anfang unserer Reise … Ich meine die große Seereise … die lange Fahrt, Tag und Nacht, draußen auf dem unermeßlichen Meer, wo die Wellen mich schaukeln werden, wie Sie von ihnen geschaukelt wurden, als Sie vor 60 Jahren, zwölf Jahre alt, Island verließen, um auf dem kleinen ›Valdemar von Rönne‹ in die weite Welt hinauszufahren, und wo Sie fünf Wochen lang segeln mußten, bis Sie Kopenhagen erreichten. Und das war gerade auf demselben Meer, auf welches wir jetzt im Begriffe sind hinauszufahren …

Fabelhaft …! Jetzt gehen wir gleich an Bord auf die ›Brúarfoß‹, die so schön sein soll! … Ist das alles nicht fabelhaft? Meinen Sie das nicht auch …?«

»Viktor! Ich bin ganz deiner Meinung. Unsere Reise konnte bis jetzt kaum schöner sein. Und doch glaube ich wie du, daß das Schönste erst kommen wird.«

Unaufhörlich rollte unser Wagen weiter.

»Aber«, rief Viktor plötzlich aus, »ich glaube, der Mann weiß nicht, wo die ›Brúarfoß‹ liegt. Wir sollten ganz sicher schon lange in Leith sein. Wohin führt er uns denn?«

Der kräftige, lebhafte Junge riß das Wagenfenster auf, lehnte sich hinaus und rief dem Chauffeur in deutscher Sprache zu:

»Aber wissen Sie auch, wo die ›Brúarfoß‹ liegt? Sie sollen uns ja nach der ›Brúarfoß‹ fahren …«

Der Mann brachte den Wagen zum Stehen und rief: » Please, Sir, what do you want?« (»Bitte, mein Herr, was wünschen Sie?«)

Ich rief ihm auf englisch zu: »Der Junge meint, daß Sie vielleicht nicht wissen, wo die ›Brúarfoß‹ liegt. Sie kennen doch wohl die ›Brúarfoß‹ und wissen, wo sie liegt?«

» The Brúarfoss!« rief uns der Schottländer zu, »ich sollte meinen, daß ich sie kenne. Die ›Brúarfoß‹ ist das feinste Schiff im Hafen … Seien Sie ohne Sorge. Wir sind bald da …«

Ich übersetzte Viktor die Antwort unseres Kutschers – und so waren wir beide beruhigt.

»Er findet schon den richtigen Weg, und er scheint die ›Brúarfoß‹ sogar gut zu kennen«, sagte ich. »Daß sie aber das feinste Schiff im Hafen sein soll, das würde mich doch ein wenig wundern.«

»Nun ja, da hat er wohl etwas übertrieben«, meinte Viktor. »Ich bin aber doch darauf gespannt, wie unser Dampfer aussieht … übrigens«, fuhr er fort, »was ist denn das? Ich sehe ja einen ganzen Wald von Masten. Wir müssen schon im Hafen sein.«

Ich warf einen Blick aus dem Fenster und entdeckte nun auch eine Menge von Schiffsmasten gerade vor uns. Wir waren also schon am Kai angelangt.

»O, da sehe ich nicht nur Masten, sondern auch die Schiffe … und eine ganze Menge …!« rief Viktor kurz darauf aus … »Groß sind sie schon, aber schön kann ich sie gerade nicht finden.«

Er hatte recht. Die Schiffe sahen alle vernachlässigt und ziemlich schmutzig aus.

Wir versuchten vom Wagen aus unter den schwimmenden Kolossen die »Brúarfoß« herauszufinden, aber umsonst.

Auf einmal hielt der Wagen an. Der Chauffeur drehte sich auf seinem Sitz und wandte sich zu uns zurück. Er zeigte mit der Hand nach vorne und rief uns lächelnd zu:

» Can you see the Brúarfoss? There she is!« (»Können Sie die ›Brúarfoß‹ sehen? Dort ist sie.«)

Wir sprangen beide auf und lehnten uns aus dem Fenster hinaus. In einem Abstand von etwa 200 bis 300 Meter sahen wir einen schneeweißen Dampfer mit blauen Verzierungen. Keine andere Farben, mit Ausnahme der äußern Schiffsseiten. Nur Weiß und Blau, die Farben Islands.

Hinten am Schiff wehte die isländische Flagge, blau, weiß und rot.

»Hurra!« riefen wir beide gleichzeitig aus. Denn hier war kein Zweifel möglich: es war unser Dampfer, die »Brúarfoß«.

» How do you like her?« (»Wie gefällt sie Ihnen?«) rief uns der Kutscher zu.

» Oh, very well! Magnificient! beautyful!« rief Viktor, indem er einige der schönsten englischen Worte, die er kannte, zusammensuchte.

Unser Wagenlenker hatte recht: die »Brúarfoß« war wirklich das weitaus feinste Schiff, das wir bis jetzt im Hafen gesehen hatten.

Es imponierte weniger durch seine Größe als durch die peinliche Sauberkeit, die sich von außen schon kundgab.

Als wir aus dem Wagen stiegen, bemerkte Viktor:

»Wir können auf unser Schiff stolz sein. Es ist zweifellos das sauberste und netteste im ganzen Hafen.«

Während wir den Chauffeur bezahlten, liefen zwei junge Matrosen aus dem Schiff über die Landungsbrücke zu uns her, grüßten mich, indem sie mir den isländischen Titel » Síra Jón« gaben, faßten unsere Koffer und trugen sie auf das Schiff.

Nachdem wir noch einige Augenblicke die schöne »Brúarfoß« von außen betrachtet hatten, gingen auch wir an Bord.

Sobald wir das Deck betreten hatten, empfing uns ein isländisches Schiffsfräulein und bat uns, mit ihr hinabzusteigen.

Wir folgten ihr und wurden nun in ein blitzsauberes Zimmerchen geführt. Da sollten wir während der Überfahrt wohnen.

Dieselbe wohltuende Reinlichkeit und Sauberkeit wie oben.

»Sollte Ihnen etwas fehlen, oder sollten Sie irgend einen Wunsch haben, bitte sagen Sie es mir«, sagte nun in isländischer Sprache das junge Mädchen, indem es sich entfernte. –

Wir schauten uns die Einrichtung unserer Kabine etwas genauer an. Alles war in bester Ordnung. Auch unser Gepäck war bereits hier untergebracht.

Vergnügt, mit fröhlichem Gesicht, ließ sich Viktor auf das eine Bett fallen und rieb sich die Hände.

»Jetzt aber geht's hinaus … auf das Atlantische Meer! – Wann fahren wir ab?«

»Nach einer Stunde. So steht es auf dem Fahrplan.«

»Gott sei Dank, daß alles bis jetzt so gut gegangen ist. Und nun haben wir das herrliche Schiff! Ich hätte es nicht im Traume gedacht, daß wir auf einem so schönen Schiff nach Island fahren würden … Es ist ja pickfein. Sollten wir nicht einen Rundgang machen und uns alles etwas näher ansehen?«

»Gewiß, das können wir ja tun!«

Mit einem Sprung war Viktor an der Kabinentür. Zunächst gingen wir durch den langen, mit schönen Teppichen belegten Gang, der sich nach beiden Seiten vor unserer Kabine hinzog und eine lange Reihe von Türen aufwies.

Auch hier war alles blendend weiß angestrichen, und durch zahlreiche Fenster oben an der Decke flutete helles Licht und goldener Sonnenschein in den Gang hinein.

Wir gingen an allen Türen vorbei bis zum Ende des Ganges. Hier wendete sich Viktor, der den Führer machte, nach rechts, um in einen zweiten Gang an der andern Seite des Schiffes zu kommen.

So machten wir einen Rundgang, bis wir zu unserem Ausgangspunkt zurückgekehrt waren.

Es schien also klar: hier waren alle Passagiere des Schiffes untergebracht.

Wir gingen dann nach der großen Schiffstreppe und stiegen wieder auf das Deck hinauf.

Auch hier schauten wir uns die Einrichtungen des Dampfers mit großem Interesse an.


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