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Einundzwanzigstes Kapitel

Bereits am Tage nach der Beerdigung des Gerbermeisters, die in aller Stille und von den Wilkauern kaum bemerkt stattfand, nahm der Volksrat, dessen erste Sitzung wegen des Todesfalles bis dahin hatte vertagt werden müssen, unter der Leitung Damians seine Tätigkeit auf. Damian empfand es sogar als eine willkommene Nötigung seines Geistes, dadurch sofort vor eine solche Fülle von Aufgaben gestellt zu sein, daß er darüber bald nur noch bei den Mahlzeiten daheim durch den leeren Stuhl Jochens und die heimliche Trauer in den Augen Christels an die Lücke erinnert wurde, die der Tod im Gerberhaus hinterlassen hatte.

Gerade in den ersten Wochen brandeten die revolutionären Wogen so heftig in das Städtchen hinein und durch die Gemüter der Wilkauer hin, daß Damian dieser Flut nur durch größte Umsicht und besonderes psychologisches Geschick in den Sitzungen wie in den Verhandlungen mit Behörden in Rehberg und Wilkau, aber auch mit dem Grafen Schilling und der Direktion der Maschinenfabrik Herr zu werden und regelrechte Ausschreitungen zu verhüten vermochte. Es waren Wochen, in denen er sich oft und oft gleich dem Kapitän eines Segelschiffes auf hoher See vorkam, dessen bunt zusammengewürfelte Zwischendeckspassagiere, in ein Dutzend feindliche Lager getrennt, ihn mit ihren einander völlig widersprechenden Forderungen überschütteten, diesen oder jenen Kurs zu steuern, während er sich bemühte, das Schiff unverrückbar vor dem herrlichen Winde zu halten, und nicht gewillt war, auch nur um Haaresbreite von dem Kurs abzuweichen, in den er es von Anbeginn der Fahrt mit vollen Segeln hineingesteuert hatte.

Von seinen Männern des Volksrates sah er sich in seinen Vorschlägen und Maßnahmen für die Sicherung der öffentlichen Ruhe und Ordnung und die Behebung der offenbaren Mißstände in der allgemeinen Versorgung auch tatkräftig unterstützt. Aber schon bei den ersten Versuchen zu ihrer Durchführung stieß er gerade dort, wo er es am allerwenigsten erwartet hätte, nämlich bei den Behörden, auf heftigsten Widerstand, Unverständnis und Mißtrauen.

Seine erste Erfahrung in dieser Beziehung machte er, als er zwecks Behebung der katastrophalen Kohlennot den Landrat des Kreises Rehberg, Herrn von Ritter, aufsuchte. Dieser, noch ein preußischer Beamter alten Schlages, Jurist und ehemaliger Reserveoffizier, empfing Damian in einem schneidenden, eisigen Ton. Damian mußte an sich halten, um nicht ausfällig zu werden und dadurch die Sache, um die es ihm ging, von vornherein zu gefährden. Bevor es Damian möglich war, in die Erörterung der Kohlenfrage einzutreten, entwickelte sich die Unterredung zu einer scharfen persönlichen Auseinandersetzung, weil der Landrat zunächst einmal den Standpunkt vertrat, überhaupt nicht genötigt zu sein, mit dem Wortführer eines so revolutionären Gebildes wie des Volksrats zu verhandeln, das keinerlei behördliche Eigenschaften besitze. Dabei mußte sich Damian mehrfach energisch gegen Ausfälle des Landrats verwahren, der ihm unverblümt zu verstehen gab, für wie verächtlich in seinen Augen die Rolle sei, zu der sich Damian als Akademiker und Offizier durch seine aktive Betätigung als Leiter des Volksrats hergegeben habe. Angesichts dieser Einstellung des Landrats kostete es Damian erneut äußerste Überwindung, die Unterredung nicht abzubrechen.

Doch da Damian fühlte, daß er diesem Manne gegenüber schon allein deswegen nicht zum Ziele kommen würde, weil jener in ihm nichts weiter als einen geltungsbedürftigen Renegaten und marxistischen Revolutionsmacher witterte, schlug er nunmehr einen gänzlich anderen Ton an. In aller Offenheit bekannte er ihm, von welchen Grundanschauungen über Volk und Staat geleitet er sich dazu entschlossen habe, durch die Bildung des Volksrats das den örtlichen Behörden entglittene Heft in die Hand zu nehmen; wie es ihm schließlich darum zu tun sei, der Not der Allgemeinheit durch vernünftige Maßnahmen zu steuern und so Exzessen solcher Art vorzubeugen, wie sie gerade gegenwärtig, etwa in München, das deutsche Volk einer Diktatur des Proletariats zutrieben, die er ablehne, weil sie in ein kommunistisches Chaos wie in Rußland einmünden würde.

Mit steigender Aufmerksamkeit und ohne ihn zu unterbrechen, hörte sich der Landrat Damians Darlegungen an. Seine Überheblichkeit glitt sichtlich von ihm ab, und schließlich erklärte er sich, wenn auch noch unter mancherlei Bedenken wegen Überschreitung seiner Befugnisse, dazu bereit, Damians Vorschlag zur Freigabe der aufgesammelten großen Kohlenvorräte des Raiffeisenverbandes stattzugeben und entsprechende Anweisungen zu erteilen. Bei der Verabschiedung geleitete Herr von Ritter Damian höflich und beinahe zuvorkommend bis zur Türe und äußerte, als er ihm die Hand reichte, daß er ihm für seine Offenheit danke, seiner weiteren Arbeit für das allgemeine Wohl besten Erfolg wünsche und ihm, falls nötig, in Zukunft gern zur Verfügung stehe.

Einen ganz ähnlichen Schritt unternahm Damian kurz darauf, um der arbeitenden und ärmeren Bevölkerung Wilkaus, für die der sonst in weitem Umfang übliche Bezug von Brennholz durch das gräfliche Forstamt infolge der erheblich gesteigerten Holzpreise nahezu unerschwinglich geworden war, fühlbare Erleichterungen zu scharfen.

So suchte er eines Tages den Grafen Schilling persönlich im Schloß auf. Auch hier spürte er sogleich äußerste Reserve und persönliches Mißtrauen. Ohne sich davon anfechten zu lassen, stellte er dem Grafen folgendes vor: Um zu verhindern, daß sich die bereits einmal zutage getretene Mißstimmung gegen die Schloßverwaltung einmal über Nacht zu ernstlichen Ausschreitungen gegen ihn selbst und das Schloß mit seinen Kunstschätzen steigere, sei es unbedingt nötig, der allgemeinen Notlage der Arbeiterschaft und ihrer Familien Rechnung zu tragen und den Holzpreis ohne Rücksicht auf die zur Zeit handelsüblichen Preise erheblich zu senken. Als Besitzer sämtlicher Wälder des Riesengebirges würde ihm dies zweifellos ohne merkliche Einbuße möglich sein und ihm jedenfalls noch immer weit billiger kommen, als wenn die Volkswut gegen ihn zum Ausbruch käme.

Vor der mutigen Offenheit Damians wie ebensosehr vor der Furcht, daß sich die Lage tatsächlich in der geschilderten Weise zuspitzen könne, kapitulierte Graf Schilling nach einigem Zögern, und das Holz wurde fortan für alle Wilkauer mit einem geringeren Monatseinkommen als hundertfünfzig Mark für die Hälfte des handelsüblichen Preises abgegeben. Damian versäumte auch nicht, ehe er ging, den Grafen davor zu warnen, solange die revolutionären Wogen sich nicht wesentlich geglättet hätten, die Bevölkerung durch häufige Spazierfahrten mit seiner Familie im gummibereiften Wagen oder durch müßiges Ausreiten seiner Schloßgäste unnötig zu reizen, Dinge, die, wie er wisse, schon viel böses Blut in Wilkau erregt hätten.

Da Damian das alles in höflicher, manierlicher Form vortrug und dabei ebenfalls keinen Hehl aus seinen zwar sozialen, aber keineswegs fanatisch gleichmacherischen Ansichten machte, wurden seine Warnungen nicht zurückgewiesen, vielmehr ernsthaft aufgenommen und, wie sich erweisen sollte, auch befolgt.

Nach diesen Selbsthilfeaktionen Damians und ihrer baldigen Durchführung stieg das Ansehen des Volksrats und insbesondere das Damians in den Augen der Wilkauer dermaßen, daß Damian jetzt sogar von den Angehörigen jener reaktionären Kreise als eine bedeutsame Persönlichkeit angesehen wurde, die sich bis dahin nicht abfällig genug über den Renegaten aus dem Gerberhaus äußern konnten, ihn aber von nun an mit betonter Zuvorkommenheit grüßten, wenn sie ihm auf der Straße begegneten.

*

Aus seiner ihm angeborenen idealistischen Lebensauffassung wie aus seiner am klassischen Geiste genährten Vorstellung von der Göttlichkeit des Menschenwesens trug Damian Maechler den festen Glauben an die gleiche göttliche Seele aller Menschen in sich. In dieser Vorstellung hatte er seine Volksratstätigkeit begonnen. Seiner Überzeugung nach war der deutsche Mensch seit Jahrhunderten nur in einen so dumpfen, unverstandenen Untertanengehorsam gedrückt worden, daß er ihm im Laufe der Zeit alle göttlichen Züge seines Wesens geraubt hatte. Darum hatte sich Damian vorgesetzt, soviel an ihm lag, als vorsichtiger Erzieher all diesen Schutt wegzuräumen, um dem naturgeborenen, gütigen und gerechten Geist des Menschen den Mut zur Lebensbetätigung seiner göttlichen Seele wiederzugeben. Aus dieser hohen Einschätzung des Menschenwesens hätte er es darum auch für völlig verfehlt gehalten, als eine Art Gesetzgeber von Idealen aufzutreten, die den einfachen Sinn der ungeistigen Arbeiter und Bürger übersteigen müßten und sie so, nur in anderer Form, in dasselbe, von aller Selbstverantwortlichkeit freie Hörigkeitsverhältnis zu drücken, das, wie er glaubte, an dem gegenwärtigen beschämenden und würdelosen Gebaren der breiten Masse des Volkes Schuld trug.

In den Volksratssitzungen nun riß ihn sein leidenschaftliches Wesen anfänglich immer wieder dazu fort, ohne Verhüllung, im Schwung der Begeisterung, von diesen wahren Idealen zu sprechen, um in jener, der göttlichen Menschenwürde allein gemäßen, undogmatischen Haltung auf seine Mitarbeiter und über sie auf das Volk zu wirken, die seinem Ziel der Wiedererweckung und freien Entfaltung des Bewußtseins von der allen Menschen gleichermaßen eigenen göttlichen Seele entsprach. Doch nach einiger Zeit mußte er zu seiner tiefen Enttäuschung beobachten, daß sich die Männer des Volksrats, sobald er sich dazu verleiten ließ, in dieser Weise von den ewigen, unveräußerlichen Gesetzen des Menschen und der Menschheit zu sprechen, mitleidig lächelnd oder gar grienend ansahen.

Jetzt sah er ein, daß er von diesem offenen idealistischen Streben ablassen mußte, wollte er nicht seine Autorität aufs Spiel setzen, deren er unbedingt bedurfte, um nicht das primäre Ziel seines Wirkens durch den Volksrat zu gefährden, an dem er nach wie vor festhielt, das Ziel einer durchgreifenden Befriedung der Wilkauer Bevölkerung durch soziale und gerechte Regelung ihrer Lebensbedürfnisse. Um die Männer des Volksrats während den Sitzungen wie auch seine Mitbürger in den von Zeit zu Zeit notwendig werdenden Versammlungen dennoch lebendig zu sich heraufzuziehen, gewöhnte er sich daher mehr und mehr den Jargon prinzipieller Volksredner an. Nur noch mit abgenützten Phrasen deutete er dabei auf den Höhenflug seiner sternenhohen Lebenshoffnungen hin. Doch bald merkte er mit Schrecken, sowie er bemüht war, sich auf diese Art äußerlich den engen Wahrheiten seiner Zuhörer anzupassen, daß er nichts als Lügen gegen die Forderungen seiner eigenen Seele sprach.

Nach solchen Sitzungen oder Versammlungen, die zu seinem Erstaunen seine Autorität im Volksrat und in der Bevölkerung nur befestigten, fühlte er sich richtig unglücklich. Und so manches Mal geschah es, daß sich ihm daheim in der Schlafstube, wenn er schon lange im Dunklen lag und Sessi schlafend wußte, sein Gesicht feuchtete von den Tränen des Schmerzes, des Ekels und der Reue, die es überströmten, weil er sich als Verräter seines Lebens und des Heiligsten seines Geistes und Willens fühlte.

*

In dieser Zeit seiner tiefsten inneren Ratlosigkeit, über die er sich am wenigsten Sessi gegenüber auszusprechen wagte, da sie seine ganze Volksratstätigkeit noch immer mit dem gleichen Widerwillen hinnahm, geriet Damian, ohne sich dessen zunächst bewußt zu werden, in eine sich über viele Monate hinziehende sinnliche Verstrickung, die in ihrer Auswirkung ihn selbst und die Seinigen aufs tragischste heimsuchen sollte.

Das über Damian verhängte Geschehen nahm seinen äußeren, ihm gänzlich unerkennbaren Anfang an einem Herbsttag während einer Sitzung des Volksrats. Wie schon in fast jeder vergangenen Sitzung ging es auch diesmal um eine Frage der Versorgung Wilkaus mit Lebensmitteln. Die Stimmung im Volksrat entsprach der dieses Leidensjahres neunzehnhundertneunzehn, in dem der Mangel an den notwendigsten Lebensmitteln infolge der unmenschlichen Aufrechterhaltung der Hungerblockade im deutschen Volk immer fühlbarer wurde, und die Menschen, noch durch Schieber aller Art in aufsässige Stimmung gehetzt, sich gegenseitig bespitzelten, so daß der Unfriede, der schon von den politischen Zuständen her in so vielen Herzen wohnte, noch um einige Grade gesteigert wurde.

So wurde auch die Diskussion über die Behebung der Schwierigkeiten in der Milchversorgung Wilkaus, die in letzter Zeit immer kläglicher geworden war, da die Bauern der Umgegend die Lieferung verweigerten oder sich nur zu unerschwinglichen Preisen dazu bereit fanden, von vornherein hitzig geführt. Und als Selma Mosig in ihrer draufgängerischen Art eine vieldeutige Bemerkung über das Überhandnehmen von Verstößen der Produzenten auch auf anderen Gebieten gegen die Ernährung des Volkes fallen ließ, verbat sich Hauptmann Anderseck diese in seiner Eigenschaft als Gutsbesitzer und forderte von ihr klare Angaben, wenn sie damit bestimmte Personen im Auge habe. Allein die Mosig verweigerte ihm nicht nur jede genauere Auskunft, sondern verschlimmerte die gespannte Situation nur noch, indem sie am Ende davon redete, daß die kleinen Schieber gehangen würden und die großen frei ausgingen.

»Arme Leute mit einem Mehlsäckchen, ja, die werden von einem Gendarm gefaßt, aber große Herren kutschieren mir nichts dir nichts mit ganzen zweispännigen Fuhren Weizenmehl durch die Nacht. Jaja, meine Herren, und das passiert nicht bloß um Berlin herum!«

Ehe es Damian möglich gewesen wäre, Öl auf die Wogen zu gießen, erhob sich Anderseck, auf den diese Anspielung, von allen geheim verstanden, gemünzt war, entrüstet, stellte Damian sein Dezernat zur Verfügung, falls Selma Mosig nicht ihrerseits aus dem Volksrat ausscheide, und verließ grußlos den Raum, ohne eine Klärung der Angelegenheit abzuwarten. Daraufhin versuchte Damian zwar alles, um einen derartigen offenen Bruch innerhalb des Volksrats zu verhüten, aber vergebens. Selma Mosig gelang es vielmehr, durch nun offen ausgesprochene Verdächtigungen Andersecks wegen dunkler Schiebergeschäfte die Mehrheit der Volksratsmitglieder für sich zu gewinnen, so daß Damian nichts anderes übrigblieb, als den von Anderseck selbst schon ausgesprochenen Rücktritt hinzunehmen.

Und doch konnte es Damian dabei nicht einmal bewenden lassen, denn Selma Mosigs nicht abreißende schlechte Nachrede, die sie auch bedenkenlos in Wilkau ausstreute, wirkte sich auf seine Mitarbeiter in einer solchen Empörung über Anderseck aus, daß er sich, um seine Männer zu beruhigen, wie um weiterer Erregung unter der notleidenden Menge in Wilkau selbst vorzubeugen, dazu entschließen mußte, Selma Mosigs vieldeutigem Drängen nach einer Untersuchung der Angelegenheit scheinbar entgegenzukommen. Scheinbar, denn er hatte sich insgeheim vorgenommen, nichts zu finden, unter allen Umständen nichts. Der Beweggrund, der ihn bei diesem an sich unverständlichen Vorsatz leitete, war in dem Eindruck zu suchen, den er in den zurückliegenden Monaten über das Wesen und den Charakter Selma Mosigs gewonnen hatte. Schon Mutter Christel hatte ihm, als er sich bei ihr kurze Zeit nach seinem abendlichen Heimgang mit Selma näher nach deren Leumund erkundigte, ein Bild von ihr entworfen, das ihm zu denken gab.

Die Mosig, Tochter eines Tagelöhners, sei ein vielgewandtes, geschicktes Mädchen, das sich durch emsigen Fleiß zu einer wegen ihres vorzüglichen Geschmackes vielbegehrten Schneiderin heraufgearbeitet habe und sogar bis nach Rehberg die besseren Damen zu ihren Kundinnen zähle. Aber sie sei wegen ihres freien Wesens nicht sehr beliebt und auch sonst nicht im besten Rufe, wenn man ihr auch geradeheraus nichts nachsagen könne, als das, daß sie offenbar nach einem Manne angele, der über ihrem Stande stehe, denn sie sei merkwürdigerweise mit ihrem Los und vor allem mit ihrer sozialen Stellung unzufrieden. Nach ihrer, Christels, Ansicht habe die Mosig auch wohl aus keinem anderen Grunde als dem, sich vor allen hervorzutun, jene Rolle im »Braunen Adler« gespielt, die zu ihrer Wahl führte.

Damian hatte späterhin reichlich Gelegenheit gefunden, diesen Aufschluß über Selma Mosig an ihrem Auftreten in den Volksratssitzungen zu überprüfen und für völlig zutreffend zu erkennen. Dabei ertappte er sich so manches Mal auf Grübeleien darüber, wie es wohl in solch einem Mädchen wie Selma zugehen mochte. Schließlich kam er zu dem Ergebnis, daß sich ihr ganzes Wesen aus ihrem Beruf erklären lasse. Denn wie Hebammen und Totengräber illusionslos über das Leben sind, so werden Kammerdiener und Schneiderinnen mit Ironie, ja Zynismus gegen die Vornehmheit ihrer Herren und Kundinnen geladen, weil beide die Gelegenheit haben, diese Klasse Menschen in den Unterhosen und Unterröcken ihres Körpers und Charakters zu sehen. Ganz Arme, vollkommen Abhängige haben ja eigentlich keinen Boden unter den Füßen. Ihr Leben, wenn sie Beschränkte und Faule sind, basiert auf der Dumpfheit, wenn sie Beanlagte sind, auf der Sehnsucht, der Unruhe und brennendem Ungenügen, dessen flammender Antrieb um so fesselloser ist, wenn das Wesen mit verheimlichter Sinnlichkeit geladen ist. Und daß Selma durchaus ein solches Wesen besaß, wußte er seit jenem Geschehen mit seinem Freund Neefe, hatte er deutlich wieder gespürt, als sie dicht neben ihm in der Nacht auf der Gansertbrücke stand, und es wieder und wieder in dem Spiel ihrer Augen und ihres mannessüchtigen Körpers gesehen, wenn sie Hauptmann Andersecks Nähe suchte, der aber offensichtlich nicht auf ihre Liebesaufmerksamkeiten einzugehen gewillt war.

Jetzt, nach dem Vorfall mit dem Hauptmann im Volksrat, war Damian wie von einem Ahnen in die Nähe der Rachsucht dieser Liebesabgewiesenen geführt worden. Er hielt es für wahrscheinlich, daß all ihre mit gutgespielter Empörung erhobenen Beschuldigungen Andersecks, den sie mit der Hartnäckigkeit, die allen, besonders den triebsüchtigen Weibern, eigen ist, verfolgte, nur Hirngespinste ihrer jäh in Widerwillen und Haß umgeschlagene Brunst seien. Sollte sich aber herausstellen, daß die angeblichen Verfehlungen des Hauptmanns doch auf Wahrheit beruhten, dann hoffte er, auf diese oder jene Weise den Frevel Andersecks zwischen sich und der Mosig zu begraben. Denn er wollte es nicht darauf ankommen lassen, sich und den Volksrat als Vollstrecker der Rache eines verschmähten Weibes mißbrauchen zu lassen. Damit würde er nur den Ausbruch des radikalen Teils im Volksrat herbeiführen, der dann möglicher-, ja wahrscheinlicherweise seiner volkserzieherischen Arbeit ein schreckensvolles Ende bereiten würde und ihm wirklich den Stempel eines Rebellen aufdrücken mußte.

Unter diesen Voraussetzungen ließ sich Damian zu einer Besprechung unter vier Augen mit Selma Mosig herbei, in der er ihr die Notwendigkeit einer erst streng geheimen Auskundschaftung der von ihr behaupteten Schiebergeschäfte Andersecks vorstellte. Es gälte vor allem, sie selbst zu schonen, und sicherlich sei es doch auch ihr darum zu tun, den Ruf des Volksrats nicht in den Augen der besonnenen Menschen herabzusetzen und jenen Feinden in die Hände zu arbeiten, die, wie sie ja selber wüßte, schon lange bemüht seien, den Volksrat als giftige Klatsch- und Ehrabschneidungsbude zu verschreien.

Vierzehn Tage nach dieser Unterredung, in der Selma Mosig dem Vorschlag Damians gegenüber vollkommenes Verstehen bekundet hatte, flatterte gegen Abend in der Krone eines jungen Apfelbäumchens des Heidewassergärtchens das zwischen ihnen verabredete Zeichen, daß ein nächtliches Schiebergeschäft zu erwarten war, ein roter Wimpel, der aussah, als sei das Seidenstreifchen vom Wind an den untersten Ast geweht worden.

In der Nacht trafen sich die beiden, und Selma postierte Damian gegenüber der Einfahrt zur Anderseckschen Teigwarenfabrik in dem dichten, von allen Seiten geschützten Gebüsch eines unbewohnten Landhauses. In dieser tiefen grünen Nische, die nur nach vorn einen freien Auslug bot, stand im Hintergrunde noch die vergessene Gartenbank des erst vor einigen Wochen verstorbenen früheren Besitzers, eines hämischen Hagestolzes, der von diesem Horchposten aus stundenlang das vorüberziehende Leben der Straße zu beobachten pflegte, um dabei seinen Widerwillen gegen das närrische und erbärmliche Menschenpack immer aufs neue zu sättigen.

Dort drückte Selma Mosig Damian Maechler auf die Bank. Sie hatte mit beiden Händen seinen Oberarm gefaßt, und Damian spürte, wie der Griff des Weibes zitterte. Dabei beugte sie ihr Gesicht nahe an sein Ohr und hauchte ihm fliegenden Atems die Mahnung zu, sich nicht zu rühren und nicht zu schreien, denn heute müßte es passieren. Sie selbst ging ein Stück die Straße nach Trennsdorf zu heraus und wollte von dort mit einem hohen leisen Pfiff das Herannahen der Schieberfuhre melden.

Während Damian so saß und durch das Guckloch des Gesträuchs auf die Straße und das gegenüberliegende Einfahrtstor zur Fabrik sah, gingen allerhand müßige Einfälle, Gedanken und Erinnerungen durch ihn hin, wie etwa das Verwundern über das eigentümliche Beharrungsvermögen von Vorgängen, die sich an einem Ort abgespielt haben. Es kam ihm vor, als sei er der verwandelte Nachfahre des verstorbenen Hagestolzes und Menschenfeindes, an dessen Stelle er nun bei Nacht das Geschäft des heimlichen giftigen Lauerns besorge, das sein Leben bis in den Tod hinein wundgerieben hatte.

Als er, am Ende dieser Marotte angekommen, über sich selbst lächelnd den Blick zu den Sternen erhob, die, dann und wann durch das stoßweise Windgetriebe von Wolkenballen verhüllt, immer wieder grellen Lichtes hervorbrachen, war es ihm, als ginge drüben in der Fabrik die Haustüre, jemand träte vorsichtig in den Hof und halte spähend oder Zeichen gebend mit einem Schwung eine Laterne in die Höhe.

Mit einem Ruck erhob sich Damian und streckte behutsam seinen Kopf aus der Gebüschluke, Aber die Straße lag stockstill in der Nacht. Nichts rührte sich. Da verstand Damian, daß er einer Täuschung erlegen war. Er hatte das Aufblitzen der Sterne mit seinem herunterfahrenden Blick in den Fabrikhof getragen und das Knarren der Tür und die vorsichtigen Schritte einfach assoziativ hinzugedacht.

Ja, wirklich, fiel es Damian ein, als er wieder auf der Bank saß, sein Kriegskamerad an der Ypernfront, der nie auf Horchposten ziehen wollte, hatte recht gehabt, wenn er behauptete, das nächtliche Lauern mache verrückt.

Nein, aber doch nicht. Schlich da nicht von Trennsdorf her jemand lautlos auf der Straße, nicht gehend, nein, mehr wie geweht?

Damian sprang von neuem auf und war mit einem Satz auf der Straße. Als er aber mit leisem »Halt!« zupackte, ergriff er einen Baumstamm. Laut auflachend ging er in sein Versteck zurück.

»Ja, dieser ganze Unsinn des Wartens muß nun endlich aufhören«, sagte er zu sich, »denn sonst komme ich noch auf den blöden Gedanken, ich sei ein Verliebter, der inbrünstig ein Stelldichein ersehnt.«

Aber kaum daß ihn dieser unsinnige Gedanke überfallen hatte, sah er zum Greifen deutlich jenes Erlebnis aus seiner Knabenzeit vor sich, durch das er für immer von seinem Freund Neefe gerissen und doch unweigerlich für stets mit ihm verbunden war. Jener Frühabendaugenblick, als er ohne anzuklopfen in die Stube des Ofensetzers Mosig trat und Neefe dabei überraschte, auf die Selma einzudringen, die mit würgendem Lachen und hochgeschlagenen Röcken auf dem Bett die letzte Kühnheit des brunstberauschten jungen Wildlings erwartete.

Damian strich sich über die Augen, um den Anblick der weißen Mädchenbeine aus der jäh und grell auf gestoßenen Erinnerung wegzuwischen. Aber während er noch höhnisch lächelte, wurde er von einem so heißen Taumel überfallen, daß er in dem engen Strauchnest nach dem Banksitz fassen mußte, um sich zu setzen. Dabei sagte er einen klassischen Vers halblaut vor sich hin, dessen Dichter er vergessen:

»... wieso umgarnt uns plötzlich Wahn, von dem das Leben nichts mehr weiß? Der vor undenklich langer Zeit zu Boden sank als dürre Flechte aus des Daseins grünem Baum ... aus des Daseins grünem ... grünem ...«

So leer und tastend vor sich hin murmelnd, fand er sich doch in dem Buschloch nicht zurecht, wie wohl ein Traumtrunkener, halb erwacht, sich in seinem Bett verirrt. Da gellte fern ein hoher Weiberschrei auf, der in ein noch ferneres dumpfes Gepolter hineinschnitt, das Damian aber auch wie das Sausen seines eigenen Blutes in den Ohren klang, obwohl dieser messerscharfe Weiberschrei wieder und wieder durch die Luft hieb.

Dann war es plötzlich wieder nachtstill, die Finsternis hielt den Atem an. Damian war auf den Banksitz gekommen und wußte nicht recht, was ihm geschehen war. Hatte ihn der Schlaf angerührt, war er der Überreizung zu lange gespannt Lauschender verfallen, hatte sich wirklich da auf der Straße etwas ereignet? Er konnte mit sich nicht zurechtkommen, griff nach seinem Stock, den er gar nicht mitgebracht hatte, griff zwecklos nach irgend etwas in seinen Taschen, das er nicht verlieren durfte, fand das Taschenfeuerzeug, knipste es an, ohne daß es nötig gewesen wäre, da seine Armbanduhr Leuchtziffern hatte, und entdeckte, daß es fünfzehn Minuten nach eins war.

»Unsinn«, sagte er unwillig, knipste das Licht aus, erhob sich und bog, immer noch erregt murmelnd, das Gesträuch auseinander, um diesem Klugheitsanschlag ein Ende zu machen, der ihn hinterrücks mit heißer Beladenheit in eine Episode aus seiner Vergangenheit gewirbelt hatte, deren er sich nicht gern erinnerte.

»Nichts da von Wahn«, sagte er ziemlich laut, als er die letzten peitschenden Zweige vor seinem Gesicht auffing und auf den Grabenübergang trat, um die Straße zu gewinnen.

In diesem Augenblick hörte er ganz nahe das keuchende Heranrasen eines Menschen von Trennsdorf her, und ehe er sich's versah, stand mit dem fast sprengenden Atem der Angst Selma Mosig vor ihm. Nein, sie stand nicht vor ihm, sie drang auf ihn ein, ergriff mit beiden Händen seinen rechten Arm, drehte ihn um, stemmte ihren vor Übermüdung fast stürzenden Körper gegen ihn und drängte so den Überraschten gewaltsam in das Innere des Strauchloches zurück, indem sie, wie völlig von Sinnen, immerfort stotterte:

»Zurück, zurück! ... Um Gottes willen ... lieber ... liebster Herr Damian ... zurück!«

So sank sie mit ihm auf die Bank, röchelnd und wimmernd über seine Knie geworfen, haschte leidenschaftlich nach seiner Hand, grub sie gegen ihr Herz und flüsterte dabei ekstatisch hauchend, als verliere sie die Besinnung:

»Gott sei Dank, liebster ... liebster, liebster Damian ...«

Seinen Namen sprach sie so leise, so daß er vor Erschöpfung fast süß klang.

Bestürzt hielt Damian sie in seinen Armen:

»Aber so fassen Sie sich doch ... Was ist denn geschehen? ... Sprechen Sie doch bloß ...!« Statt dessen schmiegte sie ihren Körper nur noch fester an ihn, sinnlos stotternd, mit wie versagendem Atem:

»... Nein, das ist zuviel ... ich hätte es nicht ... ich vergehe ... bitte ... bitte, liebster Damian ...«

Da raste das Wildfeuer von vorhin über Damian und überloderte das aufgelöste Wesen neben ihm, daß sie sich beide darin verfingen.

Als Damian aus den dunklen Flammen erwachte, war er allein und wußte nicht, was geschehen war, suchte wieder nach dem Stock, den er gar nicht bei sich trug, fühlte seine Taschen nach dem Hausschlüssel durch, trat endlich in einer Taumelbenommenheit auf die Landstraße hinaus, als erwarte er etwas, ging um das Landhaus herum auf das Feld der Wilkauer Ebene und horchte mit einer aufs höchste gespannten Sinnenschärfe auf das seelenleise Brausen, mit dem die Gipfel des Riesengebirges in undurchdringlicher Finsternis zu schlafen pflegten. Indessen wurde sein Inneres von einem Chaos durcheinandergewühlt, daß er fürchtete, mit lauten Schreien durch die Welt gejagt zu werden, wenn er sich nicht an dieses seelenleise Brausen in der hohen Finsternis hingebe.

Solange drängte er sich in die inhaltlose Sinnengespanntheit dieses Horchens, bis der chaotische Wirbel in ihm zusammenfiel und das geschlossene Gefühl seiner selbst ernüchternd in ihm aufkam. Dann tastete er mit den Händen seinen Körper ab, als wollte er feststellen, daß er noch in seiner Leiblichkeit vorhanden sei, und trat langsam den Heimweg an.

Unterwegs befestigte sich in Damian die Überzeugung, daß er wieder einmal die Beute des Oberfalls jener Daseins- und Nervenverwirrung geworden sei, die ihm von seiner Grabenverschüttung zurückgeblieben war.

Allein in der unbeirrbaren Tiefe seines Wesens wußte er, daß das nicht stimmte. Aber dieser Vorwurf war so hauchleise, daß er nur wie ein Geisterwind an dem Willenshaus seines Bewußtseins einen Augenblick hinwehte.

*

Mit dem ergebnislosen nächtlichen Unternehmen gegen Anderseck hatte Damian auch nach außen hin erreicht, was er wollte, sogar noch mehr; denn Selma Mosig ließ sich von da ab nicht mehr im Volksrat blicken; und da Damian seinen Männern gegenüber mit gutem Gewissen darauf hinweisen durfte, daß er auf Grund persönlicher Nachprüfung keine Verfehlung des Hauptmanns Anderseck hatte feststellen können, fiel ein solcher Schatten auf Selmas Verhalten gegen den Hauptmann im Volksrat, daß die von ihr angefachte Erregung der Gemüter seiner Mitarbeiter bald abflaute, ja einer schweren Verstimmung gegen die Frau Platz machte, die sich selbst aus der erst so leidenschaftlich ergriffenen Volksratsarbeit ausgeschaltet hatte.

Aber auch der Hauptmann ließ sich nicht mehr blicken. Wie Damian nach einiger Zeit erfuhr, hatte Selma Mosig Eingang in den Junggesellenhaushalt des Hauptmanns gefunden und war seine mehr oder weniger offen erkorene Freundin geworden, mit der er nach Eintritt des Winters mehrfach auf tagelangen Gebirgspartien gesehen wurde. Jetzt erst merkte Damian, daß er von der geriebenen, listigen und verschlagenen Person nur dazu benutzt worden war, den Hauptmann in ihren heißhungrigen Schoß zu treiben.

Je mehr Zeit verging und je weniger Damian von den Ausstrahlungen des sinnlichkeitsgeladenen Wesens der Mosig getroffen wurde, desto intensiver wurde er in eine innere Unruhe wegen seiner nächtlichen »Verschüttung« mit der heißbeinigen Schneiderin gezogen. Aus seinem dunklen Schuldgefühl suchte er sich nunmehr von neuem, erst zaghaft, dann immer werbender und begehrender seiner Frau zu nähern. Als dieser Versuch eines Nachts jedoch, nicht anders wie der letzte, damit endete, daß sich ihm Sessi unter bitterlichem Schluchzen versagte, besann sich Damian wie ein Verdurstender, der im Wüstensand nach einer Quelle sucht und sie endlich findet, auf die Existenz seines Kindes, von dem er sich bisher ferngehalten hatte, als hätte sich Sessis merkwürdiger körperlicher Widerstand gegen ihn wie ihre ebenso unnatürliche Interesselosigkeit für das kleine Wesen lähmend auf ihn und sein Gefühl für sein Kind übertragen.

Unter Mutter Christels Obhut und zärtlicher Fürsorge war dieses von seinen Eltern solange beinahe übersehene Wesen zu einem zarten, stillen und gesitteten Menschlein herangewachsen, das nun gemach aus jener paradiesischen Jenseitigkeit herauszutreten begann, in der die Menschenkinder nach dem Glauben des Volkes noch mit den Engeln spielen. Der feine Schleier, hinter dem es, wie jedes andere, während seiner ersten Lebensmonate in himmlischer Verborgenheit geatmet, war gefallen, das Leben eines Tages wie aus unbekannten Wassern vor ihm aufgetaucht, und nicht zu früh und nicht zu spät hatte es sein Mündchen zu den ersten Worten geöffnet, mit seinen Beinchen die ersten Schritte gewagt. Ganz wach und ernsthaft bewegte es sich jetzt schon durch die Stuben, um sich mit seinen klaren blauen Augen erstaunt umzusehen, was sich seinem ersten bewußten Schauen und Suchen an Merkwürdigkeiten aller Art darbot. Bei einer dieser eifrig-achtsamen Bemühungen des kleinen Klapphöslings geschah es Damian, daß auch ihm gleichsam eine Binde von den Augen fiel und er in ihm sein Fleisch und Blut erkannte. So unverwandt und nachdenklich pflegte er fortan dem emsigen Treiben seines Sprößlings zur Erforschung und Eroberung seines kindlichen Weltreiches zuzuschauen, als trüge dieses Kind allein die Schlüssel zur Erkenntnis all der Lebensrätsel in seinen kleinen Händen, die er, sein Vater, selbst noch nicht ergründen konnte.

Tatsächlich schöpfte er aus dem Anblick seines Knaben, der seinen blonden Schopf bald ebenso zutraulich Damians Liebkosungen überließ, wie er ihn bisher am liebsten auf Großmutters Schoß in deren Arme schmiegen mochte, Trost und Aufrichtung gegenüber allem, was ihm die Tage an Sorgen und Ärgernissen in der Volksratsarbeit eintrugen.

Nach der durch sein Eingreifen erfolgten Überwindung der kritischen Versorgungsschwierigkeiten war wohl eine spürbare Beruhigung der allgemeinen Stimmung eingetreten, zumal mit zunehmender Festigung der neuen preußischen Regierungsgewalten auch der Behördenapparat wieder über klare Richtlinien verfügte, die sich in Wilkau vor allem in Unterstützungsaktionen für die Arbeitslosen der stillgelegten Maschinenfabrik auswirkten. Dafür aber mußte sich Damian in den jetzt nur noch zweimal im Monat stattfindenden Volksratssitzungen mit einer ständig wachsenden Flut so kleinlicher, ja lächerlicher Beschwerden und Denunziationen befassen und verzetteln, daß er sie täglich angewiderter seinem Amtsbriefkasten entnahm. Als er sich völlig darüber im klaren war, daß es ein hoffnungsloses Beginnen wäre, all diesen Querulanten und Neidhammeln, die sich gegenseitig und den Kaufmann dazu wegen einem Pfund Quark oder zwei Heringen bespitzelten, die der eine mehr oder weniger als der andere erstanden hatte, ihr übles Handwerk legen zu wollen oder sie gar mit ethischen Argumenten zu erziehen, überbrachte er die inzwischen zu dicken Mappen angeschwollenen Volksratsakten kurzerhand seinem Stellvertreter, dem Buchhändler Siebel, und erklärte seinen Rücktritt von der Leitung des Volksrats.

Siebel nahm die Aktenpakete nur mit größtem Widerstreben entgegen und meinte, daß auch ihm nichts daran gelegen wäre, sich noch lange mit dem »Kroppzeug« herumzuschlagen, das glaube, dank dem Volksrat ewig seinen niedrigen Instinkten frönen zu können. Revolution sei schließlich etwas anderes als »permanente Tippelguckerei«. Damit hatte der von Damian vor knapp einem Jahr mit so hohen Absichten ins Leben gerufene Volksrat nach einem, wie man anerkennen mußte, durchaus segensreichem Wirken zum Wohle Wilkaus praktisch sein Ende gefunden.


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