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Neuntes Kapitel

In der Etagenwohnung des Fremdenheims »Bazar«, in der Freiherr Franz von Schillingkhoff genannt Korff mit Frau und Tochter seit Jahren sein verbittertes und verschuldetes Dasein fristete, herrschte seit mehreren Wochen eine noch gespanntere Atmosphäre als gewöhnlich. Sessi, die seit Ostern aus dem Lyzeum entlassen war und sich daher unmittelbarer als je zuvor in das häusliche Leben einbezogen sah, fühlte, wie ihre gesunde, jugendliche Wehrhaftigkeit, mit der sie sich bisher über die hoffnungslos verfahrene Situation zwischen ihren Eltern hinweggespielt hatte, in dieser nachgerade tragisch-düsteren Luft mehr und mehr erlahmte. Aber während sie vordem dazu geneigt war, nur ihre Mutter zu bedauern und alle Schuld an dem häuslichen Elend dem Vater und seiner Haltlosigkeit und Exaltation seines ganzen Wesens zuzumessen, stiegen ihr jetzt allmählich doch immer häufiger Zweifel darüber auf, ob der Vater nicht vielleicht doch nur ein bedauernswertes Opfer seines glänzenden Geistes und der bewußten Verkennung seiner militärischen Talente war. Denn in dem Maße, in dem sich der politische Horizont verfinsterte und die Gefahr eines Zweifrontenkrieges abzeichnete, vollzog sich mit Korff eine völlige Wandlung seiner Lebensweise, ja seines ganzen Wesens, die auf die beiden Frauen um so beklemmender wirkte, als sie ihnen zunächst gänzlich unverständlich blieb. Leonie wie Sessi hatten es schon längst als etwas Unabänderliches hingenommen, daß Korff, abgesehen von seinen periodisch wiederkehrenden nächtelangen Zechereien im »Goldenen Greif«, wie ausgenommen und gänzlich untätig, aber in galligster Stimmung zu Hause herumsaß und die Familie die Erkenntnis seines elenden und verpfuschten Lebens entgelten ließ. Einen Tag nach dem Attentat in Sarajewo änderte sich dies mit einem Schlage.

Nachdem ihm Leonie noch am Abend zuvor widerwillig genug von ihrer ausnahmsweise wieder einmal durch einen Zuschuß beträchtlich erhöhten Rente einen Hunderter zur Begleichung seiner dringendsten Zechschulden ausgehändigt hatte, war es im »Greif«, wo Korff Sonntag für Sonntag und so auch an diesem letzten des Monats inmitten der Wilkauer Adelsgilde als sprühender Meteor glänzte, hoch hergegangen.

Nur in diesem Kreise konnte man es noch erleben, daß sich das hochgeschwungene, geistsprühende und bezaubernde Wesen wieder ans Licht wagte, um dann freilich um so blendender zu funkeln, das Korff einst in den Jahren seiner zu höchsten Erwartungen berechtigenden Generalstabstätigkeit kennzeichnete und ihm die leidenschaftliche Liebe Leonies eintrug, seitdem aber zugleich mit dem bunten Rock, den er ausziehen mußte, von ihm abgefallen war, so daß es Leonie schon fast vergessen hatte. Und Sessi konnte sich den Vater auch in ihrer Erinnerung überhaupt nie anders als die Verkörperung eines ständig überreizten, tief gekränkten und hochfahrenden, lebensfeindlichen Mannes vorstellen.

An solchen Abenden indes, doch nur nach reichlichem Weingenuß, wenn er das Feuer, das ihn innerlich verzehrte, gelöscht hatte, wurde der Ausdruck seiner großen grauen Augen, deren Lider sich gewöhnlich in jenem Zustand der Erschlaffung befanden, welche der eigentlichen Entzündung vorauszugehen pflegt, und deren Blick wie auf der Flucht vor der inneren Glut immer ungewiß und streifend war, zusehends wieder weich; sie glänzten in jugendlichem feuchtem Schmelz, und ihr Blick wurde betrachtsam, voll geistiger, durchdringender Güte. Seine sonst knarrende, die Worte wie Fetzen herausschleudernde Stimme wurde angenehm und wohlklingend. In gewählten, pointierten Sätzen erzählte er mühelos, als lese er aus einem guten Buche. Es war, als hätten die Wogen des Weines das Grab seines verschütteten Lebens weggeschwemmt und das bezaubernde Wesen seines früheren Daseins steige als verklärter Geist, und zwar noch vertiefter, verschönter wieder unter die Menschen.

Dann wurde er der Mittelpunkt seines gespannt lauschenden Zuhörerkreises; denn seine Liebenswürdigkeit war nie fade, sein Witz geistreich, seine Keckheit dezent, sein Scharfsinn nie prahlerisch, sondern wie beiläufig, aber treffend, und seine große Überlegenheit klang bescheiden, ja hatte oft einen Ton von Schüchternheit.

Niemand konnte dieser blühenden Beredsamkeit widerstehen. Aber wenn das Ende seiner ekstatischen Erzählungsanfälle herannahte, erhoben sich alle jene, die ihn kannten, schlichen sich vom Tisch und verschwanden unauffällig aus dem Lokal. Die Neulinge blieben in der Erwartung noch größerer Enthüllungen sitzen und fielen dann sicher der immer neuartig aufgezogenen Brandschatzung Korffs zum Opfer, der meistens ohne einen Heller in der Tasche in der Weinschenke erschien. Zuletzt, wenn alles glücklich abgerollt und die um so manche Taler erleichterten Neophyten davongegangen waren, saß Korff allein am Tisch und bestellte sich von dem gepumpten Geld eine neue Flasche Wein nach der anderen. Dann wurde der Ausdruck seiner Augen vor der unabwendbaren Glut des Innern abermals starr, und sie begannen wieder wie eingesperrte Tiere in dem Gefängnis ihrer Höhlen ruhelos umherzuirren.

Hin und wieder lachte er in verzweifelt wilder Lustigkeit mit einem so konvulsivischen Stoß auf, als zerreiße er, goß den Wein wie Wasser durch die Kehle und machte sich endlich, hustend wie ein Schwerkranker und vor sich hin fluchend, im fahlen Morgen auf den Heimweg.

Auch an diesem letzten Junisonntag lief im »Greif« äußerlich alles genau so ab. Doch im Verlauf des Abends trat etwas ein, was Korffs Wesen traf wie ein elektrischer Schlag. Es war die am späten Abend zur Kenntnis der Tischrunde gelangende Nachricht von dem Mord in Sarajewo, die zwar eifrig besprochen und kommentiert wurde, aber doch nur für Korff der Blitz war, der das auf seiner Seele lastende Gewölk mit solcher Gewalt durchbrach, daß er ihn als körperlich spürbarer Strahl durchfuhr und unversehens jenes Feuer von neuem entzündete, das seit Jahren in ihm nur noch schwelte, weil er es immer wieder gewaltsam in sich ausgetreten hatte und obendrein mit Bächen von Alkohol wie in Wetterstürzen gelöscht zu haben glaubte.

Spät am Morgen des auf diese letzte Saufnacht folgenden Tages erschien zum Staunen Leonies und Sessis Korff zum Frühstück in der Hauptmannsuniform, die seit Jahren in irgendeinem Schrank vermottet gehangen hatte, in jedem Zoll wieder der einstige, zusammengeraffte Generalstäbler mit den karmesinroten Streifen. Ohne ein Wort der Erklärung darüber begab er sich eine halbe Stunde später in sein Arbeitszimmer, aus dem er, außer zu den Mahlzeiten, weder an diesem Tag noch in den nächsten Wochen mehr zum Vorschein kam und bis tief in die Nächte hinein, unwillig über jede Störung und buchstäblich in allerlei kriegswissenschaftliche Werke und Karten vergraben, an seinem Schreibtisch saß und las, Skizzen anfertigte und wie in der Zeit seiner Arbeit an dem Werk »Unter dem Preußenadler«, das ihm in der Folge seine Karriere und mehr gekostet hatte, an einem Manuskript arbeitete, dessen Blätter er vor jedem Verlassen des Zimmers mit peinlicher Sorgfalt in die Schreibtischlade verschloß.

Die Uniform trug er fortan regelmäßig, aber die Wohnung verließ er nicht mehr, ja, als namens der adligen Tischrunde im »Greif« nach einiger Zeit schriftlich angefragt wurde, wann man dort endlich wieder einmal mit seinem Erscheinen rechnen könne, stieß er nur sein rauhes, gereiztes Gelächter aus und mokierte sich in einigen so verletzenden Worten über diese abgeschabte Gilde wackliger alter Herren aus der adligen »Rumpelkammer«, daß Leonore, die adelsstolze geborene Gräfin Shayn-Winternitz, mit ihrer Entrüstung über diese Entgleisung nicht hinter dem Berge halten konnte. Aber Korff schnitt ihre Empörung mit einer wegwerfenden, beinahe überheblichen Handbewegung ab und sagte nur: »Ihr habt ja alle keine blasse Ahnung«, worauf er wieder in seinem Arbeitszimmer verschwand.

An dieser neuen Lebensweise änderte sich auch nichts bis zu dem Tage, da die österreichische Kriegserklärung an Serbien bekannt wurde. Am gleichen Abend rief er Leonie und Sessi in sein Arbeitszimmer, nötigte sie zum Sitzen und begann vor seinen beiden Zuhörerinnen, so sachlich, als hielte er einen Vortrag vor hohen Militärs oder einer Kommission von Politikern, die Verlesung seines Manuskripts, einer Art Denkschrift, an der er in diesen letzten Wochen gearbeitet hatte.

Und doch richtete sich das, was er darin ausführte, als eine einzige Anklage und zugleich unheilverkündende Prophezeiung eigentlich an die unsichtbar vor ihm sitzenden Verantwortlichen jenes Systems, das hinter einer glänzenden monarchischen Fassade weder die nötige Einsicht in die außenpolitische Entwicklung noch in die militärischen Folgerungen daraus aufgebracht hatte. Die Staatsführung, der von dem genialen Strategen Schlieffen ein Feldzugsplan in die Hand gegeben war, der alle denkbaren Festlandskoalitionen vorausberechnete, hätte die Pflicht gehabt, durch entsprechende Aufrüstung und Aufstellung der unbedingt erforderlichen Anzahl von Armeekorps, diesen Plan in jeder Beziehung vorzubereiten. Aber gerade in dieser Hinsicht seien heute nicht mehr gutzumachende Fehler begangen worden.

Als enger Mitarbeiter Schlieffens genau über dessen Operationsplan und seine militärischen Vorbedingungen unterrichtet, schilderte Korff in seinen Aufzeichnungen zunächst alle jene Unterlassungssünden, die bei dem parlamentarischen Kampf um die Genehmigung der Heeresvorlagen seit Jahren begangen worden waren. Sodann verurteilte er mit überzeugenden Argumenten die kaiserliche Wahl zum Nachfolger Schlieffens, die seiner Ansicht nach nur um des Namens willen auf den, übrigens selbst widerstrebenden, jüngeren Moltke gefallen war, dem jetzt die schwere Aufgabe zufallen würde, dessen Erbe zu verwalten, ohne seinen Geist in sich zu fühlen. Schließlich entwarf er, bis in jede Phase vorausschauend, aus der genauen Abwägung der gegenseitigen Kräfteverhältnisse und der wahrscheinlichen operativen Entschlüsse der Generalstäbe unerbittlich jenen Verlauf der Ereignisse, der schon nach den ersten Kriegswochen durch das Nichtvorhandensein der drei immer wieder vom Generalstab geforderten zusätzlichen Armeekorps die von Schlieffen geplante große Umfassung und Vernichtung des Feindes im Westen vereiteln, in der Folge zum Stillstand der Operationen und damit zweifellos überhaupt zu der Unmöglichkeit führen sollte, den Krieg rasch und siegreich zu beenden.

Wenn auch Korff bei seinen gespannt lauschenden Zuhörerinnen mit dem größeren Teil seiner Vorlesung, der sich in zahlreichen taktischen und strategischen Einzelheiten erging, nicht das Verständnis fand, das er bei Fachleuten geerntet hätte, so hinterließen seine Ausführungen, die er mit Ernst und Nachdruck vortrug, als Ganzes doch auch auf die beiden Frauen einen außerordentlichen tiefen Eindruck. Denn weder Leonie noch Sessi vermochten ihre Bewunderung für sein ungebrochenes Wissen und die zwingende Logik seiner Kombinationen und zugleich die Erschütterung über das Unheil zu verbergen, in welches das Reich mit offenbar mathematischer Sicherheit hineinsteuern würde, sobald erst einmal die Waffen sprachen.

»Jetzt können wir nur noch auf die Gerechtigkeit unserer Sache wie auf die Tüchtigkeit, den Mut und die Ausdauer jedes deutschen Soldaten und den vollen Einsatz jedes einzelnen auch in der Heimat vertrauen«, meinte Korff, als sie, gegeneinander aufgeschlossen wie schon seit langem nicht mehr, zu dritt noch lange beisammensaßen und er es für angebracht hielt, den Schock zu mildern, den er den Seinen mit der Bilanz seiner Darlegungen versetzt hatte.

*

Als Graf Schilling schon in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch das »Lange Haus« der Militärverwaltung mit allem nötigen Mobiliar für Lazarettzwecke zur Verfügung stellte, dessen Leitung eine unverheiratete Schwester des Grafen übernahm, sowie zur freiwilligen Teilnahme junger Mädchen an der Ausbildung als Rote-Kreuz-Helferinnen aufgerufen wurde, meldete sich Sessi sofort und ging alsbald mit solcher Hingabe in dieser Aufgabe auf, daß sie ganz ins Lange Haus übersiedelte. Auch Leonie übernahm mit der Leitung der Bahnhofsmission des Vaterländischen Frauenvereins ein Arbeitsfeld, das ihre Zeit so sehr in Anspruch nahm, daß Korff binnen kurzem so gut wie ganz auf sich angewiesen war und sich nun erst recht völlig vereinsamt und unnütz vorkam.

Nach tagelangem, in sich verschlossenem Grübeln, wie er, der mit Schimpf und Schande hatte aus dem Heer ausscheiden müssen, es doch noch bewerkstelligen könne, wenigstens seine Verwendung als Truppenoffizier durchzusetzen, überwand er die auch in ihm noch immer nicht ganz erstorbene, seit Jahrhunderten von den Schillingkhoffs genährte Feindseligkeit gegen die katholische Bruderlinie und stattete seinem Vetter, dem Reichsgrafen, der, wie er wußte, über die besten Verbindungen verfügte, im Schloß einen Besuch ab, notgedrungen wieder in Zivil, von dem er nach einer reichlichen Stunde nach Hause zurückkehrte. Am Abend eröffnete er seiner Frau, ohne näher als in vagen Andeutungen vom Inhalt der Unterredung zu berichten, daß der Graf versprochen habe, sich für ihn bei den in Frage kommenden Stellen einzusetzen, und sich auch bereit gefunden habe, ihm für seine feldgraue Equipierung mit einer entsprechenden Geldsumme unter die Arme zu greifen.

So fand es Leonie auch nicht verwunderlich, daß Korff in der nächsten Zeit mehrfach mit der Straßenbahn nach Rehberg hineinfuhr, um schließlich eines Tages, angetan mit der neuen Uniform eines Infanteriehauptmanns, von dort zurückzukehren. Er habe Glück gehabt und sei wieder so weit rehabilitiert, daß er an die Front dürfe. Das Regiment, dem er zugeteilt worden sei, stehe bereits weit jenseits der lothringischen Grenze. Genaues wisse er jedoch nicht, er würde sich aber schon bis zu ihm durchfragen.

Den letzten Abend verbrachte Korff nicht daheim, sondern im »Goldenen Greif«, von wo er wieder erst gegen Morgen zurückkehrte und, wie es Leonie schien, noch schwerer geladen hatte als je. Als er sich dann sogleich mit einem beinahe scheuen Kuß auf die Stirn hastig von ihr verabschiedete, um den ersten Frühzug zu erreichen, erschrak sie geradezu, ohne sich klarzuwerden, warum, vor der grimmigen Entschlossenheit seines übernächtigten und irgendwie verfallenen, gleichsam über Nacht gealterten Gesichts. Es war am Morgen des achtzehnten August.

*

Sessi von Schillingkhoff trug nun schon seit Jahr und Tag das Geheimnis ihres liebessehnsüchtigen Mädchenherzens, das sich mit traumhaften, seligen Empfindungen an Damian gebunden fühlte, verschlossen in sich. Auch vor Damian bewahrte sie es trotz der scheuen Erwiderung seines Kusses auf der Weihnachtswanderung noch immer im Gewande einer zwar sehr herzlichen, aber doch nur harmlosen Jugendfreundschaft. Vor ihren Eltern, vor allem ihrer adelsstolzen Mutter, war sie ohnehin genötigt, jeglichen Umgang mit ihm, dem Sohne des »Beutelschmierers«, zu verbergen.

Nur aus dieser dreifachen Verheimlichung ihrer tiefen Neigung für den Jüngling aus dem Gerberhaus, die teils in ihrem Wesen beruhte, teils ihr aus den Umständen auferlegt war, lassen sich die ungewöhnlichen Wege verstehen, die Sessis seelische Entwicklung im Lauf der Jahre bisher gegangen war.

Ihr jugendliches, unverstandenes und doch schon sinnenhaftes Hoffen, das sie als halbes Kind noch mit schwärmerischer Hingabe an die Schönheiten der Natur und als Verehrung großer Männer in sich genährt hatte, begann sich mit dem Erwachen ihrer Weiblichkeit mehr und mehr in einer fast pathologischen Liebe zu mühseligen, verborgenen Menschen männlichen Geschlechts zu äußern. Auf sie übertrug sie alle ihre unklaren Süchte, in die ihre Unschuld sie verwandelte.

Schon in dem halbwüchsigen Schulmädel brach dieses Verlangen übermäßig durch. Sie hatte vor dem Eingang zum Badepark einen alten, lahmen und halb blinden Bettelmann getroffen, den sie, ungeachtet seiner verschlissenen Kleidung, mit in die elterliche Wohnung heraufbrachte. Und nicht eher ließ sie locker, als bis ihm die Mutter außer einigen Schnitten Brot und einer Suppe noch ein Paar abgelegte Schuhe ihres Vaters gegeben hatte. Diesem Bettelmann galt auch weiterhin ihre ganze Zuneigung, und Sessi ging darin sogar so weit, sich jedesmal, wenn sie ihm wieder im Orte begegnete, eine Weile neben ihm aufzustellen und für ihn in kindlich rührender Weise bei den Vorübergehenden um eine kleine Gabe zu bitten. Bei dieser Beschäftigung überraschte die Mutter sie eines Tages auf der Straße und nahm sie auf der Stelle wieder mit nach Hause. Als sie daheim versuchte, Sessi vorzuhalten, daß sich ein solches Benehmen keinesfalls für ein gesittetes junges Mädchen aus adligem Hause schicke, fand sie bei Sessi nicht nur absolut kein Verständnis dafür, sondern einen so leidenschaftlichen Widerstand, daß sie sich schließlich dazu herbeiließ, sie zu fragen, warum sie sich soweit vergessen konnte. Darauf wußte Sessi keinen anderen Grund anzugeben, als einen brennenden, unwiderstehlichen Schmerz in der Brust, vor dem sie gewiß tot hinfalle, wenn sie sich solch eines armen Menschen nicht erbarme.

Dieses quälende Verlangen, von dem sie stets beim Anblick besonders rat- und hilfloser Männer befallen wurde, die ihr in dem Badestädtchen ja auch in Gestalt von Leidenden und Verkrümmten allerorten immer wieder begegneten, konnte sich jedoch nie bis zu seiner letzten Erfüllung sättigen. Denn hinter jedem Lazarus, zu dem sie sich niederbeugte oder den sie ein Stück Weges hilfreich geleitete, schwebte immer im Unräumlichen in ihr die unbegreifliche, unergründliche Erscheinung, eines herrlichen, seelenhaft anderen, der ihr Mysterium von der Kindheit her war und dem eigentlich der Dienst ihrer Hingabe und Aufopferung galt.

Gegen Frauen und Mädchen indessen war sie gleichgültig, oft sogar ablehnend, ja hochfahrend. Denn sie, die auf eine so geheimnisvoll hohe, reine Art um ihre Liebe diente, empfand aus dem Instinkt ihres weiblichen, aber überaus schamhaften Wesens die hüllenlos einfache, oft brutale Gewalt, mit der Frauen und Mädchen ihre Leibessüße und Schwäche als unwiderstehliches Kampfmittel zur Eroberung des Mannes gebrauchen, als etwas, dem sie sich so fern wie möglich halten mußte, weil ihr schon dessen Ausstrahlung einen gleichsam körperlichen Widerwillen erregte.

Aus dieser Grundhaltung ihres Wesens drängte es sie bald nach Kriegsausbruch noch stärker als jede andere deutsche Frau zur Hilfeleistung für die zu erwartenden Opfer des Krieges, und mit einem wahren Übereifer stürzte sie sich auf die Möglichkeit, die ihr sich dazu in dem Helferinnenkursus im »Langen Haus« bot.

Bei dem ersten Zusammentreffen mit Sessi, das Damian einige Tage nach der Abreise ihres Vaters zur Front nur dadurch zuwege brachte, daß er sie gegen Abend aus dem Langen Haus herausbitten ließ und zu einem Gang ins Wäldchen abholte, verhehlte er ihr unterwegs nicht, wie schmerzlich er es empfunden, daß sie nicht schon von selbst einmal seit seiner Rückkehr bis ins Gerberhaus gefunden habe. Doch sie gab ihm in so beweglichen Worten eine Schilderung ihrer neuen, schönen Aufgabe, die sie jetzt ganz erfülle und in Anspruch nehme, daß Damian davon geradezu entwaffnet wurde, sich selbst aber doch erst recht wie nebensächlich oder beiseitegeschoben vorkam. Doch als er ihr daraufhin, doppelt bedrückt von dem Gefühl seiner Zurückstellung, beinahe kleinlaut von diesem Mißgeschick berichtete und es dabei zuletzt nicht unterdrücken konnte, auch ein wenig von seinem Neid durchblicken zu lassen, daß sie, ein Mädchen, sich in den Dienst des Vaterlandes stellen durfte, während er, ein Mann, hier in Wilkau unfreiwillig und unnütz herumsitzen müsse, lachte sie ihm erst einmal übermütig und schalkhaft zu:

»Ein Mann, Damian? Dazu fehlen dir doch wohl noch ein paar Zentimeter Brustumfang, wenn ich dich recht verstanden habe.«

Doch gleich spürte sie, wie sehr sie ihn mit diesen Worten verletzt hatte, und wußte, daß sie ihm das nicht einmal im Scherz hätte sagen dürfen.

Sofort suchte sie es wiedergutzumachen, reichte ihm ihre Hand und sagte:

»Verzeih, ich wollte dich wahrhaftig nicht kränken, liebster Damian. Es war ganz dumm von mir. Ich meine es ja auch ganz anders. Denn im Grunde habe ich noch gar nicht daran gedacht, daß du schon ebenso alt bist wie andere, die mit ins Feld ziehen. Jetzt weiß ich erst wirklich, daß wir keine Kinder mehr sind. Übrigens, ich kann recht gut nachfühlen, wie es euch Männern jetzt zumute ist. Was hat Vater nicht schon gelitten, als es losging und er noch nicht einmal wußte, ob es ihm gelingen würde, wieder aufgenommen zu werden und an die Front zu dürfen. Er hätte es einfach nicht ertragen, nicht mitkämpfen zu dürfen.

Mit dir ist es allerdings noch etwas anderes. Für Vater ist es sein Beruf, aber du bist doch Student.«

Da Damian in diesem Augenblick Miene machte, sie zu unterbrechen, ließ ihn Sessi nicht erst zu Worte kommen:

»Nein, du darfst das nicht falsch auffassen, Damian. Ich verstehe dich ja nur zu gut. Wäre ich ein Mann, ich würde wohl bestimmt nicht anders denken wie du. Aber siehst du, Damian, weil ich...«

Plötzlich hielt sie, wir vor sich selbst erschrocken inne und mußte erst sichtlich einen Anlauf nehmen, ehe sie sich entschließen konnte, fortzufahren:

»... ja, mein Gott, weil ich dich einfach viel zu sehr liebhabe, bange ich schon heute vor dem Augenblick, wenn du einmal hinausziehen müßtest, so stolz ich dann auch auf dich sein würde. Aber vorläufig bin ich dem Schicksal nur dankbar, daß du noch nicht in Uniform steckst. So sind wir halt, wir Frauen!« schloß sie unvermittelt, als zürne sie sich selbst wegen ihres allzu offenen, zum erstenmal ausgesprochenen Bekenntnisses ihrer Liebe.


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