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Fünfzehntes Kapitel

Lange noch ging Jochen Maechler voll unfaßbarer sonniger Benommenheit durch sein Haus, seit er mit seiner Christel an das Bett des kleinen Damian getreten war, der mit einem so glückhaft verklärten Lächeln dalag, als sei er von dem Sonnenschein allein aus der Todesversunkenheit des nahen Grabes gehoben worden. Jawohl, er sah es ein, hier war ein Wunder geschehen, wenn ihm der Gedanke auch zuwider war, daß Sessi seinen Jungen aus dem Grauen des Todes ins Leben gerufen und geführt haben sollte, Sie, dieses schöne Mädchen eines prahlhänsigen, lebensentgleisten Adligen, sie allein? Jochen schabte fleißig die Häute in der Werkstelle, wischte das Aas von dem zweihändigen Schermesser und schwappte es aus der Hand auf die nassen Fliesen zum anderen Unrat. Und nachdem er zehn Häute gereinigt, geschweift und lohreif gemacht hatte, war sein Kopfschütteln doch noch nicht vorüber. Seine Christel behauptete das, was er nicht glaubte. Na schön! Sie war Damians Mutter, gut; aber eben ein Weib, ja, und die können aus dem Rocke halt nicht heraus. Mochte sein Christel mit ihrem hellen Geist auch alles hell sehen. Kann Hellsehen nicht auch täuschen? Nein, nein, Jochen, mach diesen Irrgang nicht mit! Bleib fest in dem Schritt, zu dem du gleichsam schon vor deiner Geburt bestimmt worden bist. Denn das Schicksal des Menschen fängt schon mit ihm zu laufen an, noch ehe er auf die Welt gekommen ist. Die Wiederaufrichtung Damians kann, ja darf nicht einmal von diesem Mädchen Sessi kommen. Das wäre widersinnig und gottunwürdig, wenn gleichsam durch einen Trunkfälligen und Wüstling der Weg seines Hauses ins Glück gewendet würde. Dann wären das Vermächtnis seiner leibhaftigen Mutter und die Warnung des vertanen Lebens seines glücklosen Vaters ja eine Narretei gewesen, diese Schicksalskräfte, die ihn, Jochen Maechler, zur ernsten Werkarbeit am Wohlergehen seines Hauses so verpflichtet hatten, daß er sich nur darum, um sonst nichts in der Welt gekümmert hatte.

Nachdem er mit seinen grundwasserlichen Gedanken sich bis hierher durchgerungen hatte, kam eine gewisse Lebensgeborgenheit über den Gerber, allerdings nur eine solche, die etwa der Sicherheit eines Mannes gleicht, der auf der Flucht vor Gefahren eine Tür hinter sich angelehnt hat und nun an der Wand steht, um seinen Atem wieder in Ordnung zu bringen. Mit Freude erlebte er es, als Damian so weit gekräftigt war, daß er das Bett verlassen und sich nach und nach in der Wohnküche und dann auch in dem Vorgärtchen ergehen konnte. Das deuchte ihn sehr gut, denn auf diese Weise kam das Junglein zu Kräften, um einst tapfer auf die Gerberei zuzumarschieren und von dem Wahn loszukommen, das Mädchen Sessi habe ihn in das Leben zurückgeführt. So werkte der Gerber wieder heiter am Schabbaum, in den Tonnen, durch das Vorgärtchen, über die Feldgasse ans Heidewasser und wieder zurück. Alles gut, meditierte Jochen Maechler, wenn er von ferne oder hinter der Tür sein Weib und das Damianlein singen hörte oder den Jungen allein über eine Blume geneigt beobachtete, wie er verträumt das Sessilied im Kröpfchen spielen ließ. Wie ein Schluck guten Wassers waren solche Beobachtungen für Jochen, und in seiner breiten Brust machte es sich der Atem wieder bequemer.

Eines Tages war die Zuversicht des Gerbers in das endliche Gelingen seiner Lebenshoffnung so stark, daß er eine Probe wagte, wie weit des Jungleins Seelenwurzeln in seiner Gerberwelt bekleibt waren. Er fuhr auf einer Radwer zwei schwere Häute vom Heidewasser zurück in die Tonnen, den Rührhaken mit dem langen Stiele querüber gelegt. Am engen Pförtchen verfing sich die Stange, wurde noch einige Schritte mitgeschleift, blieb aber dann auf dem Weglein liegen, und immer kräftig weiterschiebend, rief er Damian, der wie der an dem schmalen Blumenbeet versonnen hinging, über den Rücken zu, den Haken aufzuheben und ihm nachzutragen. In der Anstrengung war seine tiefe Stimme etwas lauter als sonst geworden, so daß das Christel unter die Tür trat, um zu sehen, was es gäbe, daß ihr Mann in solcherlei Lärmen verfallen sei. Jochen hatte indes die Radwer mit den Häuten an der offenen Lohtonne abgesetzt, und der kleine Damian bemühte sich um den Rührhaken, der quer über das Weglein lag. Sein Stiel war naß und von dem Fett der Häute glitschig, daß der Junge ihn vorsichtig, aber mit Ekel anfaßte, doch bald wieder die Hände zurückzog und an den Höschen abwischte.

»Fest zupacken, Damian!« schrie der Gerber, den der Zorn zu übermannen anfing wegen der Zimperlichkeit des Jungen und dem Gelächter seiner Frau. »Anpacken und herbringen! Los! Du bist doch kein Pappekind, sondern ein Gerber«, schnaubte er nun in richtiger Wut, daß der Kleine erschrocken und ratlos an dem widerspenstigen Handwerkszeug herumgriff und hob und endlich in Weinen ausbrach, bis Christel hinzueilte und den gequälten Jungen liebevoll und tröstend ins Haus zurückleitete. Der Gerber aber zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen, schmiß das Gartenpförtchen zu, daß die Zaunlatten schwirrten, und holte den Rührhaken selber.

An diesem Tage ging die nur angelehnte Tür seines Lebensvertrauens wieder ein Stück weiter zu, und Jochen war so bedrückt, daß er in der Nacht sich in die Mutterkammer tastete, lange Zeit auf dem wackligen Stuhl saß und auf den Zuspruch seiner längst verstorbenen Mutter wartete. Als der aber ausblieb, war es ihm einen Augenblick, daß er in der Finsternis nicht wußte, wo er sich befand. Auch nachdem er sich erhoben und durch Tasten an den Wänden sich überzeugt hatte, daß er in der Mutterkammer sei, war diese unbegreifliche Weltverdunklung noch nicht ganz aus ihm geschwunden. Erst als er die an der Stange hängenden geldgefüllten Strümpfe durchgegriffen und -gezählt hatte, beruhigte er sich wieder in der Sicherheit seiner Existenz. Allein immer noch den Kopf schüttelnd, schlich er über die Treppen hinunter in sein Bett. Lange lag er wie in einer ausgeräumten Stube, und als ihn die Ermüdung traumhaft tiefer in sein zurückgelegtes Dasein führte, schenkte sich ihm die vergangene Wirklichkeit, aber nicht im deutlichen Lichte, sondern im zerblasen-schwachen Mondschein der Erinnerung, in dem er nicht ganz heimisch war.

Dieses Selbstentgleiten, mit dem er in den Schlaf sank, war am andern Morgen noch nicht erloschen, und verwundert schaute er sich in seiner Stube um, die ihm in einer geheimnisvollen Weise fremd erschien. Merkwürdig, wie sein Christel ging und redete, was Damian für lange dünne Beine hatte, die er, auf der Bettkante sitzend, baumelnd bewegte. Er saß wohl mit beiden am Frühstückstisch, und plaudernd ging das Gespräch hin und wider. Aber die Stimmen der beiden klangen ganz anders wie sonst. Wie sie nach dem Brot langten, die Tasse zum Munde führten – jede ihrer Gebärden, die er doch kannte, war ihm neu, wie noch nie gesehen, daß er diesen Spuk nicht mehr länger aushielt, unvermittelt aufsprang und aus der Wohnküche hinaus an die Arbeit lief.

Wenn das Erinnerungsvermögen Jochen Maechlers bis in seine frühe Knabenkindlichkeit gereicht hätte, so würde er sich in seiner jetzigen Daseinsverwirrung genau in der gleichen Beschäftigung gesehen haben, über die sich einst Vater und Mutter verwundert hatten, ohne je eine Erklärung dafür zu finden oder von ihrem Söhnchen zu erhalten. Wie oft hatten die beiden Eltern beobachtet, daß ihr einsamer Klapphösling plötzlich sein Wagen- oder Pferdchenspiel im Garten oder auf dem Wege unterbrochen hatte, nicht anders, als sei er von irgend etwas angerufen worden. Nach rastlosem, großäugigem Umhersehen nach allen Seiten war jedesmal über den Kleinen etwas wie das Erschrecken eines erwachsenen Menschen gekommen, so, daß sich sogar in sein kindliches Gesicht die Züge eines früh Gealterten eingegraben hatten.

Aus dieser rätselhaften Gebanntheit war er durch nichts, durch keine Liebe und kein Locken und Zureden aufzuscheuchen gewesen, und weil man erfahren hatte, daß dieses Starren immer auf dieselbe Art endete, verwunderte man sich wohl lächelnd über den kleinen Sonderling, kümmerte sich aber weiter nicht um ihn; denn seine Entrücktheit löste sich allemal auf die gleiche Weise. Er begann erst spielend und dann richtig arbeitseifrig eine Grube zu buddeln, bis sie eine gehörige Tiefe erreicht hatte. Dann saß er lange unbeweglich davor und betrachtete das Loch in der Erde mit einem fast gramvollen Erstaunen, von dem er endlich mit einem tiefen Atemzug in sein gewohntes Leben fand.

In dieses Lebensloch, das sich Jochen Maechler, ohne daß er wußte wie, durch sein instinktives unterirdisches Wesen in langen Jahren gegraben hatte, starrte er hinein und fand keinen Ausweg. Ja, nach Wochen wurde es noch schlimmer.

Der Krankheits- und Heilweg des kleinen Damian hatte über ein Jahr gedauert, und so war er in seinem schulmäßigen Fortkommen dermaßen zurückgeblieben, daß er ohne Nachhilfe nicht in den Schulbetrieb eingegliedert werden konnte. Deswegen setzte sich Christine mit jenem Lehrer in Verbindung, dem der eigenartige Gerberjunge mit großer Liebe zugetan gewesen war. Ihren Mann weihte die kluge Frau in diese Vorbereitungen nicht ein, weil sie wußte, daß er mit solchem Lehr- und Lerngepränge, das einem einfachen Handwerker nicht zukomme, nicht einverstanden sein würde. Und weil das Junglein den verehrten Lehrer nicht nur beglückt empfing, sondern mit leidenschaftlichem Ungestüm am liebsten sofort mit der Lernarbeit begonnen hätte, kam die feste Abmachung zustande, daß es an vier Tagen der Woche zum Wiedereintritt in die Schule gefördert werden sollte. Um unnötigen Tratsch zu vermeiden, unterrichtete Christine den Lehrer davon, daß das im Einverständnis mit ihrem Manne geschehe, der bis über die Ohren in seinem Geschäft stecke und sich mit solchem »Schulgefuchse«, wie er es nenne, nicht abgeben möge.

Auf diese Weise begann in dem Gerberhause auf der Feldgasse ein Lehr- und Lerntreiben, das ebenso von dem Wesen des Knaben wie dem beglückten Herzen der Mutter getragen wurde. Wie Christine es vorausgesehen hatte, machte Jochen dazu erst große Augen, lächelte dann abschätzig über das unnütze Getue, wagte sich aber nicht in eine Auseinandersetzung mit seiner Frau, die federnd, mit leuchtenden Augen und singend durch das Haus wirtschaftete, als fahre das Gerberhaus jetzt geradenwegs in seine höchste Erfüllung. Jochen Maechler aber war anderer Meinung, und seine schwere Stirn verwulstete sich immer tiefer mit Falten der Unlust, ja des Kummers. Noch einmal schlich er sich in die geheime Kammer, um nach dem Zuspruch seiner Mutter zu ringen, und als ihm von daher keine Hilfe kam, lief er durch Wilkau und aufs Feld, um in der Welt zu einer beruhigenden Sicherheit seines Lebens zu gelangen. Es war umsonst, denn alles, was er sah, die Gassen und Häuser von Wilkau, die Felder und Teiche, die Wälder, durch die er, Ruhe und Sicherheit suchend, streifte, und der riesige Zug der Berge unter den Wandelgestalten der Wolken, alles trug wohl noch die Züge seines Erlebens, doch so, als beginne es von ihm zu weichen, wie ein Mensch uns den Rücken zukehrt, dem wir einst ins Gesicht geschaut haben.

Jochen Maechler, der innen Umgetriebene, war so wirklich in eine Wesensnot geraten, deren Ausweg er sich durch sein Warten immer mehr verbaute. Deswegen führte er trotz mancher Bedenken eine Unterredung mit Christine herbei, die mit einem Male alles ins klare bringen sollte. Er hatte sich vorgenommen, von der Leber weg alles zu sagen, womit er sich in dieser langen Zeit herumgeschlagen hatte, um seinem Weibe klarzumachen, daß mit der Führung Damians, so wie sie sie begonnen hatte, notwendig der Weg beschritten werde, der in dem Unglück aller, des ganzen Hauses, enden müsse. Natürlich durfte er nichts von der Überlegenheit preisgeben, die der Mann eben dem Weibe gegenüber besitzt. An einem Nachmittag also, während der Lehrer den kleinen Damian wieder für die Schule zurechtritt, trat er wie von ungefähr aus dem Gärtchen von den Gerbertonnen her in dem Augenblick durch die Tür auf den Hausflur, als Christine eben eine Kundin freundlich über die Schwelle der Lederausschnittstube geleitete. Die Fremde schlüpfte eilig grüßend an dem Meister vorbei, der seinen kurzen Beinen einige bedeutsam lange Schritte abnötigte, um noch zu Christine zu gelangen, ehe sie die Ausschnittstube abschloß.

»Nun ja«, sagte er entschlossen, öffnete mit entschiedenem Schwung die Tür und strich sein Weib mit der andern Hand in die Stube zurück, die er hinter ihr ins Schloß drückte.

Dann kehrte er ihr den Rücken und begann unruhig unter dem Ledervorrat in den Regalen zu kramen, hob dies und das auf und ließ es wieder geringschätzig fallen. Endlich drehte er sich unvermutet um, stieß beide Hände tief in die Hosentaschen und sah seine Christine mit solch bohrender Düsterkeit an, daß sie doch verdutzt wurde.

»Das wird immer weniger dahier in den Regalen werden, liebes Christel, das kann ich dir sagen«, begann er leise.

»Nun ja«, antwortete sein Weib, das wohl ahnte, wohin Jochen hinauswollte, leichthin lächelnd, »und das ist gut, denke ich, denn es bringt Geld ein.«

»Und wenn alles weg ist, was dann?« fragte er finster.

»Ach Gott, ich versteh' dich nicht. Dann bringst du eben neues herein«, antwortete sie.

»Ich?«

»Nun, wer denn sonst?«

»Immer?«

Der Gerber war versessen und bohrte hartnäckig an dem Lebensloch weiter, das sich in ihm gebildet hatte. Christine rückte dies und das auf dem Ladentisch hin und her, griff den Schlüsselbund durch und schüttelte dann den Kopf, indem sie übermütig lächelnd fragte: »Ja, sag mir mal, heute ist doch ein schöner Tag, nicht? Da hat doch so was keinen Sinn.«

»Mein' ich eben, Christel, hat keinen Sinn. Gar keinen. Meine Arbeit nicht und deine, nimm mir's nicht übel, auch keinen – wenn das so weitergeht.«

»Was geht so weiter?«

»Das Lerngetrudel mit Damian, als ob das der richtige Weg zu einem rechten Gerber wär'.«

Christine schüttelte energisch den Kopf, schwieg erst eine Weile, mit weiten Augen den Ladentisch betrachtend, und begann dann mit großem Ernst ihrem Manne alles darzulegen, was sich in den Wochen in ihr zurechtgeschoben hatte: daß der zartgebaute Damian überhaupt, von Natur aus, nicht zum Gerber bestimmt sei, daß seine, Jochens, ewige Unzufriedenheit und sein fortdauerndes Gemäkel den Jungen in seine Seele hinein dergestalt gequält habe, daß er endlich in diese geheimnisvolle Krankheit verfallen sei, mit der selbst der Doktor sich keinen Rat gewußt habe, und wenn nicht die Engelshilfe des lieben schönen Mädchens, Sessi von Schillingkhoff, gekommen wäre, dann läge er sicher heute schon im Grabe. Sei es denn notwendig, daß Damian deswegen Gerber werden müsse, weil er der Sohn eines Gerbers sei?

Da unterbrach Maechler den fliegenden Strom, in den sich Christine hineingeredet hatte, mit der Frage, ob sie wahrhaftig glaube, daß das Mädel des lumpenhaften Hauptmanns allein den Jungen gesund gemacht habe. Worauf die tapfere Frau begeistert und unerschrocken antwortete: »Ja und hundertmal ja! Wer um's Himmels willen denn sonst?«

Jochen Maechler verfiel auf diese Worte Christines in eine Art Versteinerung, daß er sich mit beiden Händen am Ladentisch festhalten mußte. Dann strich er sich langsam über die Stirn und sprach mit unheilvoll leiser Stimme:

»Soso. Da weht von irgendwoher irgend jemand in unser Haus und macht unser Schicksal. Ich gelte nichts und du nichts, und meiner Mutter heiliges Vermächtnis gilt nichts und mein Versprechen nichts und auch das Unglück meines Vaters nichts, der uns auf diesen Weg des ehrlichen Handwerks festgenagelt hat. Christine, Weib, so hat der Boden, auf dem wir stehen, und das inwendige Leben, das wir von unsern Vorfahren haben, keinen Wert vor den Sprüchen, die man aus den Büchern lernen kann.«

Und nach der Erschöpfung, in die er durch diese ungewohnt lange Rede verfallen war, brach er in ein lautes Gelächter aus, das mehr wie ein Verzweiflungsschrei klang. Dann wurde sein Gesicht grau. Er stemmte sich wieder auf den Ladentisch und schloß die Augen.

Christine war von dem Ausbruch ihres Mannes so tief erschüttert, daß sie vorerst keine Worte finden konnte, sondern nur hinübergriff und liebevoll den Kopf Jochens streichelte.

»Lieber Mann«, begann sie dann, unendlich schmiegsam und zärtlich, »du nimmst das alles viel zu schwer. Die Kinder sind immer anders wie die Eltern. Sie können doch nicht dafür und die Eltern auch nicht. Wir bringen sie zur Welt, und Gott macht sie.«

Und nun redete sie von der verwunschenen, nein, wunderbaren Süßigkeit Damians, der eigentlich vom ersten Tage an in einer anderen Welt – ganz gleich und sollte es eine Traumwelt sein – gelebt habe. Vielleicht, nein, sicher sei das von Gott so bestimmt. Ihr erster Junge, der vor der Geburt gestorben war, das werde wohl der Gerber gewesen sein, nach dem Jochen verlange. Und diesen zweiten, dieses Damianlein, habe Gott eben ganz nach seinem Vergnügen gebildet. Ja, und deswegen singe er auch so gern und schön. Und ein adliges Mädchen komme und führe ihn vom Grabe weg wieder in? Leben. Ihre Mutterliebe geriet ins Schwärmen, so daß alles herrlich um ihren Jungen wurde, sogar der entgleiste Hauptmann von Schillingkhoff Würde und Ansehen verdiente. Christine kämpfte wie eine Löwin um die Zukunft Damians, auch mit aller List und Übertreibung.

Jochen war zurückgetreten, lehnte am Regale und hörte mit großen verwunderten Augen seinem Weibe zu, ohne die Lippen zu einem Widerspruch zu rühren oder auch nur mit einer Falte seiner Stirn zu entgegnen. Nur in der Tiefe seines Wesens spann die Dunkelheit fort, in die er geraten war. Dort ereigneten sich Gedanken, für die er keine Worte fand, bohrte ein Sinnen, das ihm entrückt blieb, und während Christine von dem sicheren Fortkommen Damians in der Schule sprach und sich sogar soweit hinreißen ließ, von einer großen Zukunft des Jungen als Gelehrter zu schwelgen, ging in den weiten Räumen seines Unterbewußtseins laut- und wortlos folgende merkwürdige Überlegung in dem Gerber vor sich: Jawohl, aus unbeständigen Treibgebilden des Zufalls besteht diese Welt für euch. Daraus baut ihr eure Häuser auf der Erde. Aber sie zerstäuben in der heißen Zeit der Not, und der Sonnenschein eurer Hoffnung auf eine schöne Zukunft verwandelt sich durch nichts als eure Schuld erst in graue Dämmerung und dann in eine Nacht, die immer schwärzer auf uns eindringt.

Indessen der arme ungefügige Mann an dieser Finsternis seines tiefsten Inneren litt, jubelte förmlich seine Frau von der herrlichen Zeit, in die das Haus auf der Feldgasse steigen werde. Dieser Mißklang erschütterte Jochen Maechler dermaßen, daß ihm Tränen in die Augen traten. Er reichte seiner Frau beide Hände, drückte sie herzlich und stotterte:

»Gut, gut! Alles gut, liebes Christel! Mach's nur. Gott wird's halt so wollen.«

Dann tappte er aus der Stube über den Flur, in den Hof und verschwand in der Werkstatt, unsicher und schwankend, als sei er blind geworden.

So litt der Gerber an diesem inneren Zwiespalt seines Wesens und Daseins. Wo er ging oder ruhte, bebte dieses Zerrissensein in ihm auf. Unweigerlich schien es ihm, daß das Gedeihen seines Hauses erst in Dämmerung und dann in eine immer schwärzere Nacht gerate, daß sein ganzer Fleiß und seine Hingabe nichts nutze, wenn sein einziger Sohn sich in der Schule und diesem Bücherwesen einniste. Und trotzdem sah er keinen Weg, den Jungen und sein Christel von ihrem aussichtslosen Irrtum zurückzureißen. Ja, je tiefer er sich mit dieser Möglichkeit beschäftigte, desto klarer wurde es ihm, daß er dann das Leben beider zerstören mußte, denn er sah ja seine beiden liebsten Menschen in reiner Seligkeit an etwas hängen, was doch nichts als Unglück bringen konnte. Und doch brachte er es auch nicht über sich, in Güte den beiden ihren Willen zu lassen, weil er über den Gram nicht hinwegkam, von ihnen um den Sinn seines Lebens betrogen zu werden.

Und da er nie gewohnt war, seine Nöte auf die Gasse zu tragen oder sie von dem Herzen eines Freundes liebevoll und achtsam abwägen zu lassen, war er in dieser Kluft auf sich allein angewiesen.

In einer Nacht hatte er einen Traum, der ihn auf diesem verwucherten Wege noch weiter in die Aussichtslosigkeit führen sollte. Er, der noch nie am Meer gewesen war, träumte, auf einer ihm völlig unbekannten Straße in einem fremden Lande zu gehen. Der Weg führte ihn durch einsames, unfreundliches, fast unbebautes Land, Nur in der Ferne tauchten hüben und drüben dann und wann, von verwilderten Büschen halb verborgen, Häuser und Gehöfte auf, die, halb verfallen, offenbar unbewohnt waren. Das bedrückte ihn dermaßen, daß er alle Kraft zusammennahm, so schnell als möglich aus dieser unwirtlichen, melancholischen Gegend zu kommen und endlich an das Ziel seiner Wanderung zu gelangen, das er zwar nicht kannte, das aber nach einem Vorgefühl seines Innern nicht mehr allzu weit entfernt sein konnte. Und wirklich, nachdem er unter zunehmender Beklemmung durch das verwichtelte Dickicht eines Waldes gedrungen war, der ihn unvermutet überfallen hatte, lichtete sich das verschlungene Gehölz immer mehr, und der Weg, der immer schmaler wurde, begann bergan zu führen. Nach einigen Schritten wurde er zu einem Steig, der auch bald ganz erlosch, so daß seine Füße durch spärliches mißfarbiges Gras eine lange Lehne emporgingen. Aber er zögerte keinen Augenblick, obwohl nirgend ein Strauch, ein Baum oder Haus zu sehen war. Kein Vogel, kein Tier regte sich. Er nahm seine letzten Kräfte zusammen und strebte der Höhe des schweren Hügels zu, die ganz nahe war, aber mit jedem Schritte vorwärts immer weiter abzurücken schien. Allein, da es in ihm feststand, ganz nahe an dem unbekannten Ziele angekommen zu sein, ließ er in seinem Vordringen nicht nach und hatte nach kurzer Zeit den flachen Rücken des Hügels erreicht. Da lag dann vor seinen Augen unter ihm das, wonach ihn das abenteuerliche Verlangen seines Innern getrieben hatte: eine schmutzige, vollkommen leere Küste, so weit er sehen konnte, und dahinter das Meer, trübe und wenig bewegt, wie ein riesiger Latrinenabfluß des schwappend grauen Himmels, in den es sich als grauer Rauch verlor.

Mit einem Stöhnen des Entsetzens sank Jochen Maechler zusammen und erwachte. Er hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Aber als er das wie singend leichte Atemspiel seiner Frau und gleich danach das Traumgeflüster Damians hörte, wußte er wohl, wo er war, brachte aber das schwere Traumbild nicht aus sich heraus.

Auch nach dem Erwachen verließ es ihn nicht, trotzdem es nur wie ein Dämmerschleier zwischen ihm und allem stand, worauf er seine Augen richtete. Hinter dieser magischen Dämmerschicht bewegten sich und redeten seine Frau und sein Junge in Eintracht und Glück, ihm wohl zugehörig, aber entfernt, so daß er aus einem Bangen und Verlangen heraus versucht war, sie laut anzureden, um sie zu seinem Kreis herzurufen. Aber aus der Überzeugung heraus, sie dadurch zu erschrecken und ihnen zu schaden, dämpfte er seine Stimme und sprach alles, was zu sagen war, leise, abgewogen und ungewöhnlich höflich mit einem entschuldigenden Lächeln, daß sich endlich Christel nicht mehr halten konnte und ihn geradezu fragte:

»Ja, Jochen, sage mal, was ist dir denn eigentlich?«

Der Gerber legte darauf die Hand auf den Arm. seiner Frau, und nach kurzem Stutzen antwortete er begütigend: »Weißt du, Christel, nimm mir's nicht übel.« Darauf erhob er sich vorsichtig, schob den Stuhl akkurat unter den Tisch, nickte den beiden entschuldigend zu und verließ leise die Stube. Draußen im Vorgarten blieb er eine Weile stehen und sah sich verwundert um, weil ihm alles fremd vorkam.

Bei vielen Menschen tritt einmal der Zeitpunkt ein, in dem ihre Vergangenheit ein anderes Gesicht bekommt, unüberschaubar, im tiefsten unbegreiflich erscheint, so daß sie sich selbst und die Welt umher nicht mehr verstehen. Die meisten kümmern sich um diese Umwälzung ihres Innern im Trott oder dem Drang des Tages nicht, schwemmen die rätselhafte Unsicherheit mit kräftigerem Trunk fort oder betäuben sie mit gewalttätiger Lustigkeit und lassen die verwandelte Vergangenheit liegen, wo sie liegen mag. Jochen Maechler, der immer einsam in sich selbst verfangene Mann, vermochte das nicht, sondern von Tag zu Tag dringender, unausweichlicher wurde das Traumbild der Nacht für ihn zur Wirklichkeit. Er stand an einet vollkommen leeren Küste, und vor ihm lag unbeweglich ein graues Meer, das sich im Unendlichen in den nebelnassen Himmel verlor. Nach einigen Wochen hielt der Gerber diese Bedrückung nicht länger aus. Eines Nachmittags, noch lange vor dem Feierabend, warf er das Handwerkszeug hin, zog sich eine bessere Kluft an und verließ mit der Ausrede, einen notwendigen Geschäftsgang tun zu müssen, das Haus. Er hatte kein Ziel, sondern ging nur fort. Die Hände auf dem Rücken, schlenderte er die Feldgasse hinunter, trat eine kleine Weile auf die Brücke des Heidewassers und sah dem ewigen Wellengewusel des kleinen Flüßchens zu, mit dem es sich unaufhaltsam fortschob. Hinter ihm trappelte der schwache Verkehr Wilkaus hin und wider; aber er achtete nicht auf ihn, sondern dachte nur: ›Da gehen sie nach Scherichsdorf und Wilkau. Jaja. Das ist halt so.‹ Auch als ihn einer der Vorübergehenden an der Achsel berührte und freundlich grüßend die Bemerkung machte, daß der heiße Sommer das Heidewasser klein gemacht habe, bewegte das den Gerber nicht. Er drehte sich nur um, sah dem Sprecher ins Gesicht, nickte, sprach aber kein Wort, und als dieser ihn am Arme rüttelte, wie um ihn aus der Versponnenheit zu reißen, und lachend fragte: »He, das paßt dir wohl nicht?«, antwortete er zerstreut: »Nein, das paßt mir nicht. Jaja«, und hörte nicht mehr auf das, was der andere noch redete, bis der Mann hellauf lachte und kopfschüttelnd davonging. Maechler aber beugte sich wieder über das Geländer und dachte: ›Das war der Tischler Nerske.‹ Sonst nichts. Daß der Mann ihm die Kücheneinrichtung gemacht hatte und seit Jahren alle Reparaturen im Hause zur Zufriedenheit besorgte, daß er ihn wohl leiden konnte und mit seiner platzdicken zänkischen Frau einst böse zusammengeraten war, alles das lag verschwunden, weit, unerreichbar verschwunden in dem undurchdringlichen Grau seines Innern. »Der Tischler Nerske«, murmelte er leer vor sich hin, klopfte mir dem Zeigefinger auf das Brückengeländer, ging dann, als erinnere er sich plötzlich an etwas Wichtiges, schneller die Feldgasse wieder zurück, trat vor das eiserne Tor der Glaeserschen Gärtnerei, sah scheinbar aufmerksam über die wohlbestellten Beete und bummelte endlich, die Hände wieder im Rücken verschränkt, auf den Schrimsteigen und Gartengäßchen ohne Ziel weiter und verlor sich auf diese Weise stundenlang in und um Wilkau herum.

Als er am späten Abend, in den schon die beginnende Nacht spielte, er wußte nicht wie, sich in seinem Haus auf der Feldgasse einfand, hatte sein Christel schon lange auf ihn gewartet. Sie sah an seinen hängenden Schultern, den müden Schritten, mit denen er sein abgezogenes Jackett an den Kleiderrechen trug, und den gleichgültigen, wie abgetriebenen Augen, daß er einen unbefriedigenden Gang hinter sich habe, wagte aber nicht, ihn direkt nach dem Zweck und Erfolg seiner Unternehmung zu fragen, um mit ihm nicht aufs neue in die Wirrnis der Unterredung in der Lederausschnittstube zu geraten. Als weltwache, entschlossene Frau hatte sie das Vertrauen, daß alle auftretenden Verschlingungen des Lebens endlich vom Leben selbst aufgelöst werden. So trug sie ihm das Abendbrot auf und ließ dabei mit inniger Betulichkeit ihr Zünglein laufen, ohne das arglos behagliche Plätschern in häuslichen Belanglosigkeiten da und dort mit einem Häkchen des Ungenügens zu beschweren. Aber schließlich hätte sie das ruhig tun können, denn Jochen widmete sich mit so ungestört mechanischer Hingegebenheit der Arbeit seiner Sättigung, daß er kaum Zeit fand, dann und wann interessiert aufzublicken oder mit einem Schmunzeln und Nicken sein Einverständnis zu bezeugen. In Wahrheit hörte er gar nicht auf das, was sie sprach. Seine wahre Aufmerksamkeit wachte im Pfadlosen, weit draußen an der leeren Küste und dem grauen unendlichen Meer und Himmel, denen er in dem stundenlangen Fluchtgange hatte entrinnen wollen.

Nach der Mahlzeit zog er sich mit langem, wohligem Ausatmen die Weste herunter und fragte in kaum verhüllter Beiläufigkeit nach dem Ergehen Damians. Da erzählte seine Frau beglückt von dem frohen Arbeitseifer des Jungen, der sich gar nicht genugtun könne, und dem so überaus tüchtigen, liebenswürdigen Lehrer Miecke, der ihr heute gesagt habe, daß Damian sicher zum nächstjährigen Ostern alles Versäumte nachgeholt haben würde, ja wahrscheinlich sogar in die nächsthöhere Klasse eingereiht werden könne.

Maechler hörte die lange Glückslitanei Christines mit weiten, ratlosen Augen und gramvertieftem Gesicht an, und als sie zu Ende gekommen war, schwieg er noch eine lange Weile, nickte dann mit dem Kopfe und sagte:

»Soso. Da ist ja alles gut.«

Aber seine Stimme klang dermaßen brüchig, ja trostlos, daß die liebe Frau erschrak.

Der Gerber legte ihr begütigend die Hand auf den Arm und brachte mühsam ein gütiges Lächeln auf seinem Gesicht zustande:

»Nein, nein, Christel, wo denkst du denn hin? Es ist so, wie ich sage. Wirklich! Wie sollt' ich denn nicht glücklich sein?«

Aber der arme Gerber konnte nichts dafür, daß seine Beteuerungen sich wie ein Hilferuf anhörten, und als er in seinem Bett lag und lange über sich in die Nacht gestarrt hatte, überwältigte ihn die Gewißheit, mit all seiner Liebe, Sorge, seiner Hingabe und seinem Leben von Christine und Damian einfach beiseite geschoben zu sein. Das würgte ihn mit einer solch schmerzlichen Ratlosigkeit, daß er fühlte, wie ein Schrei sich aus seiner Brust im Halse heraufarbeitete. Um ihn nicht laut werden zu lassen, drückte er sich mit der Hand den Mund und half sogar mit einem Bettzipfel, dem Entweichen eines Lautes entgegenzuwirken. Christine, die gespannt nach Jochens Bett hinüberhorchte, glaubte, daß er in halben Worten mit sich rede, wollte ihm behilflich sein und fragte:

»Was sagst du eben, Jochen?«

Aber da hatte sich der gequälte Mann schon gefaßt und antwortete mit schlaf gemachter Stimme:

»Schlaf du ruhig, liebes Christel! Ich krieg' bloß den Namen des Lehrers nicht heraus, der unserm Damian hilft.«

»Miecke heißt er. M-ie-ck-e, mit ck, weißt du.«

»Aha, Miecke. Soso: Miecke. Ja. – Na, da ist's ja gut. – Gute Nacht!«

Sein Christel drehte sich beruhigt auf die Traumseite, und der Gerber sank wieder unaufhaltsam an die leere Küste und das unermeßliche Graumeer seines Innern, bis der Schlaf sein Wachen auswischte.

Denn nur der Mensch darf sich ohne Gefahr tief in sich versenken, der die Kraft hat, sein eigener Widersacher zu sein. Wer aber seine Gedanken und Empfindungen gleichsam als übernatürliche Offenbarungen glaubt, ohne im mindesten daran zu zweifeln, verirrt sich vollkommen in der Welt dieser Erde und des Menschengeistes, deren Leben ja nur in Widersprüchen besteht, die, alle zusammengenommen, ihre Harmonie in der Zeitlosigkeit ausmachen. Zu dieser Harmonie gelangen allerdings nur Menschen, die ein einfaches Herz oder einen überfliegenden, genialischen Geist haben.

Der Gerber Jochen Maechler besaß beides nicht, geriet darum immer tiefer in die Aussichtslosigkeit seines Daseins und verlor endlich den Sinn seines Lebens. Er verstand sich und die ganze Welt nicht mehr, obwohl er nicht aufhörte, fast alle Tage seine Fluchtwanderungen fortzusetzen. Er ging durch Wilkau wie durch eine fremde Stadt und sah alles, aber so, wie etwa jemand eine Sprache liest, die er einmal gekannt hat und nun nicht mehr begreift.

So ging es wochenlang bis in den tiefen Herbst hinein. Die Wege, die ihm unter die Füße liefen, sprachen nicht mehr zu ihm, sondern waren eben nur Wege. Die Wälder hatten nur Schatten und Rauschen, die Teiche nur regungsloses Wasser. Es war alles nur Gegend, und es wurde auch nicht anders, als er seine Fluchtwanderungen weiter ausdehnte über die Kummerhardte auf der anderen Seite Wilkaus, ja sogar über die Bibersteine hin, von denen aus er einen großen Teil des Riesengebirges überschauen konnte, das aber auch nicht den geringsten Eindruck auf ihn machte. Er nahm alles wahr. Seine Augen wirkten als photographische Apparate, standen aber wie diese mit keinem Empfinden in Verbindung.

Eines Abends kehrte er von Wimmersdorf durch die Trennsdorfer Straße in einer Zeit zurück, da die Fenster schon da und dort erleuchtet wurden. Im »Goldenen Greif« ging es hoch her. Die Fenster strahlten, und eben, da sich der Gerber dem Weinlokal näherte, fuhr eine zweispännige Kutsche mit fast herrschaftlichem Schneid heran und hielt vor dem Eingang, so daß Maechler hätte über die Straße ausweichen müssen, wenn er durchaus sofort weiter wollte. Da ihm aber daran nichts lag, blieb er ein Stück vor den Pferdeköpfen stehen und sah den Inspektor Neefe trotz seiner schiefen Hüfte in dienerhafter Eile von dem Kutscherbock klettern und, den Hut in der Hand, den Wagenschlag aufreißen.

»Bitte, Herr Graf von Plettenstoß«, damit griff er nach dem Arm des ersten aussteigenden Herrn, eines langbeinigen steifen Kavaliers, der wohlwollend mit »Gut, gut, Neefe!« sich die Hilfe des schief geschlagenen Mannes gefallen ließ und ziemlich umständlich auf dem Bürgersteig landete, während gleich darauf der dicke Herr von Kutaschke, früher Major bei den sächsischen schweren Reitern, gleichsam aus dem Wagen kullerte und dem Oberst von Plettenstoß folgte, der militärisch gereckt dem Eingang zuschritt. Die Tür flog unter den Händen Neefes auf, helles Licht schoß auf die verdunkelte Straße. Mit lautem Hallo von drinnen wurden die Eintretenden empfangen, und der Inspektor schloß unter einem tiefen Bückling hochachtungsvoll leise die Tür.

Dann richtete er sich aufatmend, wie aus einem seligen Taumel erwachend, so ziemlich in die Höhe und tat, noch versunken, die ersten Schritte nach Hause. Da stand im Schimmer der Fenster des »Goldenen Greif« mitten auf dem Bürgersteig der mächtige Gerber vor ihm. Neefe fuhr bei seinem unvermuteten Anblick ein wenig zusammen, hob scheu den Hut und grüßte. Der Meister nickte nur und sah ihn mit unbeweglichen Augen, wie es dem Inspektor vorkam, höhnisch an.

›Der dicke Affe‹, sagte Neefe in Gedanken, laut aber rief er:

»Ja, mein Gott, Maechler, wie kommst denn du daher?« Und weil der Gerber noch stumm blieb, überstürzte sich der Kleine in Unsicherheit und heimlichem Widerwillen:

»Siehst du, was ich dir damals vor Jahren gesagt habe? Jetzt ist es soweit mit dem Flottenverein. In die Höh' geht es, unglaublich. Jawohl, wir haben's geschafft! Hör mal, wie die drinnen jubeln, Alle Herren vom Vorstande sind drin versammelt, Herr von Machitzky, Oberst Scheetzler, Gesandter von Radschoff und so weiter. Der ganze Adel von Wilkau. Man feiert unseren mächtigen, ruhmreichen Kaiser und seine junge Flotte. Jawohl, merk dir das, Maechler: Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser! Unsere Flotte wächst, und in ein paar Jahren werden wir die Engländer eingeholt haben! Du hast ganz recht, da kann man bloß staunen. Da bleibt einem die Spucke weg. Na, gute Nacht!«

Damit drückte er sich geschickt um den Gerber und hüftelte eilig die Trennsdorfer Straße hinauf ins Dunkel.

Maechler sah ihm gleichgültig nach, und es war ihm nicht anders zumute, als sei eben ein Wagen mit viel Geräusch an ihm vorbeigerattert. Dann setzte er sich wieder in seinem gewohnten Trudeln in Bewegung, hob einen und den anderen Stein, an den er mit den Füßen stieß, auf, trat auf der Heidewasserbrücke an das Geländer und warf erst den einen und dann den anderen Stein hinunter und lächelte schwach, da das Aufklatschen erklang.

Sowie er sich aber zum Gehen wandte, war auch dieser schwache Nachhall des eben Geschehenen in ihm erloschen. Indem er die wenigen Schritte auf der Feldgasse zu seinem Hause tat, wunderte er sich nur, daß es schon Nacht sei, blieb stehen, sah sich um und murmelte trostlos: »Nacht, überall, in der ganzen Welt Nacht«, schauerte zusammen und trappte weiter. Aus den Wohnküchenfenstern der Gerberei blinkte Licht. Trotzdem ging er, ohne zu wissen warum, weiter, bis zum eisernen Tor der Glaeserschen Gärtnerei.

Dort blieb er, wie so oft schon, stehen, als erwarte er etwas, ließ unbewußt den Stock spielend auf das Pflaster klopfen und kehrte dann in sein Haus zurück.

Der folgende Winter dämmte zwar seine Fluchtwanderungen ein; allein ganz unterblieben sie nicht.

Die Wilkauer aber, die das unbegreifliche Gehaben des sonst so lebenssicheren Meisters beobachteten, wunderten sich darüber, horchten und schnüffelten nach rechter Kleinstadtmanier in seinem Geschäft und dem Leben im Hause herum, fanden jedoch weder Bruch noch Unfrieden noch Stunk und beruhigten sich endlich damit, daß Jochen Maechler halt einirdisch geworden sei. Da lasse sich nun eben nichts machen. Auch bei dem tüchtigsten Mann lockert sich mit der Zeit eine Niete.

An dem Gerber und seiner Christel ging solcherlei Getuschel vorüber. Die Frau wußte seit jeher, daß ihr Mann ein Haus mit wenigen kleinen Fenstern auf die Gasse zu sei. Und Maechler kümmerte sich gar nicht darum, sondern ließ es ohne Gegenwehr zu, daß er tiefer und tiefer in die Unfühlsamkeit gegen sich und die Welt versank. Nicht etwa, daß er nicht sah, was geschah, nicht merkte, was sich ereignete, nicht tat, was notwendig war. O nein! Aber alles war belanglos wie eine Einbildung, die er nicht ernst nahm. Sicher war eine Ermüdung über ihn gekommen; aber es war doch keine verzweifelte Ermüdung, wie sie über einer zerstörten Stadt oder einem vollkommen umgebrochenen Walde liegt. Aus der unausgetragenen Tiefe seines Wesens stiegen wie aus klaffenden Erdspalten Dünste, die sein Leben einnebelten, daß er wohl seinen Schritt sah, aber nicht den Weg, den er wanderte. Also glich er einem Wasser, das floß, aber nicht von der Stelle kam. Um seinen kleinen Damian ging er scheu herum. Vor seinem Christel stand er in der Furcht seines Herzens, das sich verwirrt und verwaist fühlte. Die beiden Gesellen nahmen die Veränderung seines Wesens mit geringerer Verwunderung hin als die anderen Wilkauer; denn karg in Worten war der Meister immer gewesen. Da machte es nun nicht zuviel aus, wenn er von Woche zu Woche stets schweigsamer wurde und endlich außer durch Arbeitsanweisungen gar nicht mehr zu ihnen in Beziehung trat.


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