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Achtzehntes Kapitel

Nachdem Jochen Maechler diese Schicksalsentscheidung aus der Welt seiner Vorfahren aufgedrungen worden war, von der nie jemand etwas erfuhr, änderte sich sein Betragen nicht im mindesten. Er war gütig und achtsam gegen seine Frau, väterlich gegen Damian, umgänglich gegen seine Gesellen, voll überlegter Gelassenheit in Geschäft und Handwerk, und doch hatte Christine die nicht beweisbare, aber untrügliche Empfindung, daß in ihrem Jochen eine unaufhaltsame Verwandlung vor sich gehe, die ihn von allem immer weiter abrückte. Das Bild, das sie sich in früheren Jahren von seinem Wesen gemacht hatte, war noch immer gültig. Er war ein weitläufiges Haus, das an seiner Front gegen die Gasse der Welt hin wenige kleine Fenster besaß. Aber langsam wurde jetzt eines um das andere Fenster kleiner, spaltschmaler und erlosch ganz. Und die Laubkronen über dem niedrigen First seines Wesenshauses im Licht einer unsichtbaren Sonne, die ihr im ersten werdenden Mutterglück als Sinnbild seiner Liebe zu ihr erschienen waren, diese Laubkronen der Liebe waren wohl ehemals ein Traum der Wirklichkeit gewesen. Nun verwandelten sie sich aber in einen wirklichen Traum. Und doch ließ Christine nicht nach im Hoffen, daß die Fenster an der öden Wand seines Wesenshauses wieder aufgehen und der ungefüge Mann aus seinem Innern durch die enge Pforte heraus auf sie zukommen werde, dann, ja dann würden auch die Laubkronen wieder grüner und voller werden. Aber es änderte sich nichts. Jochen blieb still, umgänglich, doch abseitig, so, wie er von dem langen ärgerlichen Geschäftsgange zurückgekehrt war, über den sie nichts von ihm erfahren konnte, so schlau sie es auch anstellte. Wenn sie davon zu reden begann und nicht verfehlte, verhalten von seinem veränderten Betragen zu sprechen, wurde er nicht unwillig, sondern hörte alles mit gütigem, etwas traurigem Lächeln an, legte ihr beruhigend die Hand auf die Achsel und sagte:

»Mein liebes Christel, nein, es ist alles, wie es immer gewesen ist. Laß gut sein, geh geruhig deine Haus- und Mütterwege weiter. Die Weiber haben ihr Treiben, und die Männer müssen sich halt mit ihrem Kram auch herumbalgen.«

Nachdem sie so einigemal fruchtlos versucht hatte, in das Innere ihres Mannes zu dringen, wachte sie in einer Nacht auf, weil Jochen unruhig und unter Stöhnen sich im Bett herumwälzte, und dann fing er mit lauter Stimme zu reden an, als streite er sich mit einem Gegner:

»Nein, niemals ... es ist ganz anders ... wir alle sind wie in einer verspundeten Tonne eingeschlossen, die vorn und hinten zwei Löcher hat: Geburt und Tod, durch die wir in die Tonne hineinfahren und wieder heraus. Solange wir leben, müssen wir in der Tonne bleiben und wissen eigentlich gar nichts, nicht woher wir kommen, warum wir da sind, und wohin wir am Ende gehen.«

Dann lag er still, und bald ging sein Atem wieder lang und brausend, wie sie es an ihm gewöhnt war. Am andern Morgen merkte man nicht, daß ihn der Traum leidenschaftlich und quälend in der Nacht getrieben hatte, keine Art von Ermattung oder Unlust, nein, gleichmäßig, in der gewohnten ruhigen Ferne ging er durch den Tag. Und so blieb es, obwohl er noch eine lange Zeit durch, nächtliche Traumkräfte in Tiefen getaucht wurde, von denen Christine nichts in seinem wachen Leben wahrgenommen hatte.

»Wir haben Lichtaugen«, sprach er traumredend in einer anderen Nacht. »Aber nutzt uns das etwas? Unendlichkeitsaugen müßten wir haben, um die Tatsachen zu sehen, von denen wir nicht die mindeste Vorstellung haben. – Jawohl, es muß ein höheres Vermögen als den Verstand geben; denn je weiter wir kommen, desto größer werden die Rätsel, und unser Verstand ist so ungewiß wie unsere Sinne.«

Hin und wieder redete er, wie in großer Furcht, leise, so daß seine Frau, die nun Nacht um Nacht auf der Lauer lag, aufstehen mußte, und zehenfüßig über die Stube an sein Lager schlich, um seine Worte zu hören.

»Was liegt mir daran«, fragte er mit ausgehendem Atem, »wenn es mich nichts mehr angeht? Was liegt mir an dir und dir?« Dann lag er still, ganz still, wie tot, eine lange Weile. Zuletzt sagte er vollkommen trostlos, noch zaghafter: »Was liegt mir an dir? So wird das Leben mich einst fragen.«

In einer anderen Nacht war sein Traumdenken wieder leidenschaftlicher als je.

»Nein, nein«, rief er laut, »es ist klar, daß der Einbruch der Erinnerungen, der auch die Seele unserer Lebensgefährten ergreifen muß, das Zusammenleben erschwert, zumal, wenn die Masse der Personen der Vorfahren auftreten, solche, die in Schönheit gehen, und solche, die in wirrer Großmannssucht verderben, so daß sie sich selber vernichten und noch unser Leben in Gefahr bringen.«

Mit der Zeit wurden die nächtlichen Traumheimsuchungen des Gerbers immer dunkler, so daß seine Frau erlahmte, ihren Schlaf um der unbegreiflichen Reden Jochens zu opfern.

Einmal aber erwachte sie zufällig und hörte ihn etwas sprechen, was sie richtig erzürnte.

»Gott ist dunkel«, sagte der Mann, so sicher, als läse er aus einem Buch, »aber wenn wir ihn auch verraten, müssen wir in ihm den Gott sehen, der von Ewigkeit her unsern Verrat gewußt hat und uns doch nicht davor bewahrte. Allein, Gott kennt sich ja nicht, denn darin wäre er nicht mehr unendlich.«

Über diese Gotteslästerung wollte sie ihn am andern Morgen zur Rede stellen.

Allein der Gerber wachte so heiter und aufgeräumt auf, als habe er in seinen bohrerischen Traumreden eine fröhliche, kräftigende Mahlzeit genossen, daß Christine nicht den Mut fand, ihn wegen seiner Gotteslästerung zur Verantwortung zu ziehen.

In diesen Zeiten der höchsten Daseinsgefährdung Jochen Maechlers strahlte das sein Wesen tragende tiefste Gewässer herauf in sein Traumbewußtsein und fand Ausdruck in Gedanken und Worten, von denen der augenhelle Wachdienst seines Lebens am Morgen nichts, gar nichts wußte.

Allmählich wurden seine Nächte wieder ruhig wie sonst, der Sturm in seiner unbewußten inneren Raumlosigkeit hatte sich ausgerast, und von nun an sah er alles fremde Leben ohne sichtbare Anteilnahme an sich vorüberfließen.

Ja sogar, als ihm Christine meldete, daß Reinhard Neefe auch an der Aufnahmeprüfung im Gymnasium zu Rehberg teilgenommen habe, aber wegen unzureichender Kenntnisse zurückgestellt worden sei, hörte der Gerber ruhig zu, kratzte sich mit dem Zeigefinger hinter dem Ohr, sagte ein gleichgültiges »Soso«, nickte mit dem Kopfe und ging davon.


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