Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Was Maechler erwartet hatte, geschah. Die Ereignisse der Zeit verschütteten vollkommen das Andenken an alle gruseligen, abenteuerlichen Geschichten, die in der Siedehitze von Kriegsfurcht und Kriegsbegeisterung wuchernd aus der erregten Phantasie des Volkes hervorgebrochen waren. Die Friedensfeiern rauschten über das Land, und auch in Wilkau sang und tanzte man nach der schweren Beklemmung in ein neues, hoffnungsfreudiges Leben. Maechler wurde zum besoldeten Gemeinde- und Amtsvorsteher ernannt und in den Kreistag berufen. Sein grades und unerschrockenes Wesen, seine strenge Redlichkeit und vielgewandte Klugheit öffneten seinem gemeinnützigen Wirken immer weitere Kreise. In Wilkau selbst verstummte fast jeder Widerspruch, und als auf sein Betreiben dem Gastwirt Kammel, seinem hartnäckigsten Lästerer, ein Ämtchen in der Gemeindeverwaltung übertragen wurde, regte sich zwar bei manchen der Unwille, alle aber bewunderten seine große Güte und Menschenklugheit, diesem geheimen Schleicher und intriganten Widerling durch ein Ehrenpflästerchen das giftige Mundwerk zu versiegeln. Keiner aber ahnte den wahren Beweggrund, aus dem Maechler den unangenehmen Hämling so auszeichnete, und die Antworten, die er dem und jenem besorgten Neugierigen unter seinen Vertrauten gab, führten weit von der geheimen Veranlassung ab, weswegen er dem Gastwirt zu diesem kleinen Würdeschein verholfen hatte. Er redete vom Flügelstutzen einer diebischen Dohle, von einem Streifen Kuchen, der, klatschsüchtigen Weibern in den Mund gestopft, ihr Schwätzen beende, und stimmte heiter in das Gelächter ein, das er mit solch spaßhaften Vergleichen seiner Handlungsweise erregte. In Wahrheit hegte er die dunkle Hoffnung, sich Kammel so zu verpflichten, daß er nie wieder die Geschichte von dem brünstigen Weibe auf dem Gebirge aufrühre und vielleicht gar von dem Erschrecken erzähle, das er als einziger Mensch an ihm damals in der Gaststube des »Grünen Baumes« erlebt hatte.

Diese törichte und zugleich beklemmende Erwartung nötigte ihn, den unverträglichen Mann gütig zu behandeln, seine ewigen Verletzlichkeiten gelassen auszugleichen und oft sogar ihm gegenüber zuvorkommend zu sein. Denn das Bewußtsein der ungesühnten Schuldverfallenheit an Paula Großmann seit der abgerungenen wilden Nacht in der Bradlerbaude verließ ihn nie, minierte weiter, ja stieg höher und höher, breitete sich wie eine geheime, schleichende Krankheit aus, die durch alles Stillschweigen verstärkt wurde, durch alle Unterdrückung an Spannkraft zunahm. Es nutzte Maechler nichts, daß sein äußeres Leben von Erfolg zu Erfolg schritt, daß es ihm gelang, die leidenschaftliche Feindseligkeit zwischen dem katholischen und evangelischen Geistlichen des Ortes auszugleichen, zum Obermeister der Gerberinnung erwählt und als Sprecher einer Handwerkerdeputation zum Minister des Innern nach Berlin gesandt zu werden. Dieser klare, verstandesscharfe, überlegene Mann war hilflos gegen die andere Seite unseres Daseins, welche nicht der Intelligenz, sondern dem Glauben, nicht der Klarheit der äußeren Sinne, sondern dem unklaren Gefühl der Sympathie und Antipathie, nicht der Entscheidung des Verstandes, sondern dem unbewußten Treiben des Instinktes, nicht dem Leben des sonnenhellen Tages, sondern dem vieldeutigen Schattenwogen der Nacht entspricht. Wieviel Siege darüber er sich in seinem kämpfereichen Leben auch ertrotzt und abgerungen hatte, in diesem Falle versagte seine angespannte Wachsamkeit, sein immer angestachelter Wille zur Überwindung alpischer Dunkelheiten vollkommen.

Die jahrhundertealten Gemütsgründe, die er mit dem Blute seiner Ahnen, der Böhmischen Brüder, geerbt und gegen die er sein ganzes bewußtes Leben lang angekämpft hatte, brachen als seelenleiser Wirbel in ihm auf, daß er zeitweise dem Dämonenglauben verfiel und an die verderbliche Macht jener Gebirgsdrude über ihn und die Seinigen glaubte, der er einst in der abgerungenen Wildheit einer rasenden Liebesnacht zum Opfer gefallen war. Dann klang das Echo ihres Namens, den die drei trunkenen Freibeuter nach der abendlichen Siegesfeier ausgerufen hatten, leise in den nächtlichen Gassen Wilkaus auf, und er fürchtete das Wiedererscheinen der Wolkenfratze auf dem Kamm, die er einst im ersten Morgenlicht gesehen, wie sie in unheimlichem Beschwören ihre ausgebreiteten Schattenarme herübergestreckt hatte.

Immer entraffte er sich diesen rätselhaften Überflutungen und schalt sich einen kindhaften Narren, denn wenn eine solche Fernwirkung überhaupt möglich war, so begann ihr Einfluß offenbar nachzulassen. Jedenfalls an seinem Jochen hatte sich die verderbliche Macht schon erschöpft, so daß er fast, nie mehr unter der Berückung seelischer Verdunkelungen litt. Er ging der Vollendung des vierzehnten Jahres entgegen und war ein wohlgeordneter, umsichtiger, wenn auch nicht von sonderlichem Geiste beflügelter Junge geworden, dem überall, wo man ihn an einen Scheideweg praktischer Tätigkeit stellte, der unfehlbar sichere Griff in der Hand lag. Und seine liebe Lotte wurde nie mehr von der rätselhaften nächtlichen Schlafstarre bei offenen Augen heimgesucht, weil das unheimliche Wesen seine Besuche aus dem Unraum eingestellt hatte. Sie war wie verwandelt. Aus ihrer Kühle wurde eine ferne Lieblichkeit des Herzens. Das gefährliche Glimmen auf dem Grunde ihrer grau-grünen Augen verlor sich und machte einem stillen Schimmer Platz, der wie mütterliche Güte bezaubernd und manchmal wie überlichtete Resignation ergreifend wirkte. Von den jähen Überfällen der Leidenschafts- und Liebesausbrüche, unter denen sie so oft gelitten hatte, war sie erlöst. Aber damit war ihr auch das berückende Schweben des Schrittes, das wogende Spiel ihres Ganges abhanden gekommen. Sicher, ja schon etwas matronenhaft bewegte sie sich in dem Hause umher, in einem aufopferungsvollen Fleiß, der sie schon manchmal ermüdete, daß sie auf den Treppen stehenbleiben und nach Atem ringen mußte. An einem Tage, kurz nach der Entlassung Jochens aus der Schule, im Frühjahr 1868, rief sie ihren Sohn und ging, einen Arm auf seine Schulter gelegt, in den kleinen Lustgarten, zu dem Maechler den früheren Werkplatz umgewandelt hatte, und sprach, die wenigen Gänge hin und her wandelnd, so recht mütterlich von der entscheidenden Wendung, die nach dem Verlassen der Schule in seinem Leben eingetreten sei, von der behüteten Traumzeit, die hinter ihm, und dem ersten Tummeln und Schaffen, das vor ihm liege. »Du warst ein guter Junge und hast uns nie Schmerzen und Enttäuschungen bereitet«, sagte sie zum Schluß, »jetzt aber betrittst du den Weg, auf dem du ein guter Mann werden sollst, tapfer, treu, gewissenhaft, und niemals werde du dem Glauben abtrünnig, in dem du erzogen worden bist.« Dann griff sie in das Mieder und übergab ihm als Vermächtnis und zu steter Mahnung den abgegriffenen uralten Zettel, auf dem das Gebet der Maechler geschrieben war. »Solange du diese Worte in Ehren hältst, wirst du auch dein Leben in Ehren halten«, sprach sie. »Verwahre ihn gut, und nun komm, ich habe dir noch etwas zu sagen.«

»Aber, Mutter, was ist denn das ... warum sprichst du so«, stotterte der Junge erschüttert und mit überströmten Augen.

»Weil es Frühling ist und heute so schöne Sonne«, sagte sie heiter und strich ihm zärtlich über den blonden Scheitel.

Dann faßte sie seine Hand, überschritt die Feldgasse, ging durchs Haus und machte an den Tonnen halt. Dort nahm sie Jochen das feierliche Versprechen ab, nie anders als auf einer solchen Tonne durch die Welt zu kutschieren, so – aber das sagte sie nur zu sich – wie sie ihn einst als kleines engelhaftes Wesen im Augenblick der feuerroten Liebesempfängnis gesehen hatte. Mit einer schnellen, leidenschaftlichen Umarmung trennte sie sich von Jochen, der lange dastand und mit dem benommenen Tiefsinn umhersah, der ihm noch immer eigen war.

*

Nachdem so Mutter und Kind noch einmal von dem Engel tief zusammengeführt worden waren, vor dessen schlaflos-himmlischen Augen die verborgensten Wege der Menschenschicksale offen wie am hellen Tage daliegen, brach das Unheil, von dem kein Mensch etwas ahnte, auf das Gerberhaus in der Feldgasse zu Wilkau nieder.

An diesem Tage hatte Maechler den gesamten Gemeindevorstand zu einer Abendsitzung in dem Gemeindehaus zusammengerufen. Es sollte, wenn irgend möglich, nach den vielfältigsten Vorberatungen die Beschlußfassung über eine neue Wasserversorgung Wilkaus herbeigeführt werden. Bisher war das Grundwasser durch ein Pumpwerk in einen Turm gehoben und durch hölzerne Röhren in große Steinbütten geleitet worden, die an drei Stellen des Ortes errichtet waren. Aus dem fließenden Wasser dieser primitiven Brunnen deckten die Häuser ihren Bedarf. Die am Zacken liegenden Gebäude schöpften aus dem Fluß ihr Koch- und Trinkwasser. Mit dieser urväterlichen Einrichtung sollte gebrochen werden. Graf Schilling hatte sich bereit erklärt, ein Drittel der Aufwendungen für eine neue, den gesundheitlichen Anforderungen entsprechende Wasserversorgung Wilkaus zu übernehmen. Außerdem war von ihm die Anregung ausgegangen, die Anlage einer Hochquellwasserleitung ins Auge zu fassen, wodurch alle Schäden mit einem Schlage beseitigt würden. Ein Sturm des Unwillens und dann der Entrüstung hatten daraufhin die Wilkauer gepackt, und man kämpfte gegen diese Neuerung mit den abgegriffenen Gründen, daß eine Anlage, die so lange bestehe und sich doch bewährt habe, nicht so mir nichts dir nichts auf einen Wink abgebrochen werden dürfe, als ständen die Tausendtalersäcke in Wilkau auf der Straße offen herum. Außerdem führte man ins Feld, wieviel der Ort mit dem Verschwinden der Rohrbütten an lauschiger, biedermeierlicher Schönheit verlieren würde. Mit zäher Ruhe und gelassener Gemächlichkeit hatte Maechler auf einen Umschwung der Stimmung hingearbeitet und so langsam die Verständigen mit der unumgänglichen Notwendigkeit einer Änderung anzufreunden gewußt, indem er auch rechnerisch nachwies, daß nach einer langfristigen Anleihe bei der Provinz die Kosten in zwanzig Jahren, kaum merklich, von den Bürgern gedeckt werden könnten. Dem Widerwillen gegen eine Hochquellwasserleitung begegnete er mit dem Hinweis, daß sie erheblich billiger sein werde als jede andere Art der Wasserversorgung, weil dann alle Hebe- oder Druckwerk- und Filteranlagen von selbst in Wegfall kämen. Die überzeugende Darlegung des sicher zu erwartenden Aufschwunges des Bades, an dessen Gedeihen der ganze Ort interessiert sei, tat das übrige, den wankenden Kleinmut zu beseitigen und die Scheu zu entkräften. Nur einige wenige nörgelten unbeirrt weiter und erhitzten sich im Gefühl der Nutzlosigkeit ihres Widerstandes nur immer giftiger und bösartiger. Unter ihnen war zum Leidwesen Maechlers der Gastwirt Kammel der rührigste, und wenn auch nicht der gefährlichste, so doch unbequemste Gegner.

Als darum heut bei Beginn der Beratung der Platz Kammels unbesetzt blieb und bald darauf die Nachricht von ihm einlief, daß er geschäftlich verhindert sei, aber wenn irgend möglich noch erscheinen werde, atmeten Maechler und mit ihm die meisten Gemeinderatsmitglieder erleichtert auf, denn nun war die Aussicht auf ungestörte und sachliche Verhandlung frei, und bei gutem Willen konnte die Entscheidung vor dem Eintreffen des spitzfindigen Querläufers gefallen sein. Nach der Eröffnung der Sitzung stellte Maechler den Wasserbaudirektor Milch aus Waidenburg vor, der gern dem Ruf gefolgt sei, die ganze Summe der Fragen fachmännisch und auf Grund langjähriger Erfahrung und wissenschaftlicher Einsicht erschöpfend zu beantworten. Der Herr, ein Mann unter Mittelgröße, mit einem blassen, fetten Gesicht, in dem zwei kleine Augen starr, unbeweglich und schwarz wie Nagelköpfe standen, erhob sich, machte mit etwas linkischer Bedeutsamkeit eine Verbeugung, sprach einiges von Dank und bereitwilliger Freude und setzte sich wieder. Während der nun folgenden Rede Maechlers über die Ursache, die Entwicklung und vielen Schwierigkeiten der ganzen Angelegenheit machte sich der fremde Wasserbaumeister eifrig Notizen. Als der Gerber geendet hatte und fragte, ob jemand noch irgend was zur Ergänzung oder Berichtigung seiner Darlegungen hinzuzufügen habe, schwiegen alle, weil sie diese Rede Maechlers schon oft gehört und an seinen Gründen genugsam ihren Scharfsinn umsonst erprobt hatten. Sie stimmten seinen Ausführungen zu und gaben damit dem fremden Direktor die Bahn zu einer Rede frei, von der alle überrascht waren. Denn dieser subaltern und hölzern aussehende Mann besaß die so seltene Gabe des frischen, ungezwungenen, aber treffenden Wortes. Leicht und gefällig, oft sogar witzig, floß seine Rede dahin, nie seicht und phrasenhaft, sondern immer kernig und sachlich, und als er auf die Scheu der meisten Menschen jener Zeit vor Hochquellwasserleitungen zu sprechen kam, ließ er seinen Humor die Zügel schießen, der merkwürdigerweise in einem so fetten Kopf und hinter diesen starren Knopfaugen wohnte, wo doch sonst gewöhnliche Langweiligkeit und gereizte Säuerlichkeit hausen.

Seine Rede unterrichtete gründlich und war zugleich spannend wie eine amüsante Erzählung. So sprach er eine Stunde, und als er endete, brach ein Beifall los, der bei diesen kleinbürgerlich verknorrten Männern ungewöhnlich und in diesem kahlen Amtsstall unerhört war.

Herr Milch dankte kurz, und kaum hatte er sich gesetzt, so war er wieder der eingekapselte bürokratische Mann wie vorher.

Nach einigen Fragen aus der Versammlung, die der Wasserbaudirektor sitzend, also ausführlich, amtlich und stilecht beantwortete, schritt man zur Abstimmung. »Einstimmig wurde dem Antrag des Herrn Vorstehers Maechler stattgegeben, den Bau einer Hochquellwasserleitung für Wilkau bald in Angriff zu nehmen.«

Das Protokoll wurde verlesen, genehmigt und zur Unterschrift herumgereicht. Es ging fröhlich zu, und man legte der Befriedigung keine Zügel an, ohne Kammel ausgekommen zu sein. Der Bogen war bei dem Maurermeister Wohlseck angelangt, als eilige und etwas polternde Schritte die Treppe heraufkamen. Der Maurermeister unterschrieb schnell und schob das Schriftstück dem nächsten mit den Worten zu: »Der Laps in der Fabel. Aber nu fix.« Da ging auch schon die Tür auf, und der kleine Mann stürmte ein wenig diagonal herein. Er war ziemlich angetrunken und wurde mit allgemeinem Gelächter empfangen, raffte sich aber zusammen und nahm gewichtig seinen Platz ein, den ihm Maechler sich gegenüber angewiesen hatte, um den Unruhigen mehr in der Hand zu haben. Während er sich nochmals entschuldigte, durch das Geschäft so lange abgehalten worden zu sein, ging das Unterschreiben weiter, und plötzlich sah er, immer noch sprudelnd, das Protokoll vor sich liegen. Da verstummte er und sah verblüfft rundum in die Gesichter, die kaum das Lachen verbeißen konnten.

»Was soll das?« fragte er leise und mit drohendem Erstaunen.

»Nun, Sie sollen unterschreiben«, sagte Wohlseck munter. »Das heißt, wenn Sie wollen.«

»Wie denn? Ich verstehe nicht«, fragte er abermals und schnappte ein paarmal mit Daumen und Zeigefinger von der Nase, eine Gebärde, die alle an ihm vor dem Ausbruch der Erregung kannten.

Maechler sah ihn groß und gelassen an. Dann sagte er gütig: »Lieber Herr Kammel, wir haben auf Sie schmerzlich gewartet und mußten dann doch in Rücksicht auf den verehrten Direktor Milch, dessen Zeit kostbar ist, mit der Beratung der heutigen Tagesordnung über die Anlage der Hochquellwasserleitung beginnen. Der Herr Direktor hat durch seine, ich muß sagen, hervorragenden Darlegungen alle Bedenken so gründlich zerstreut, daß der Gemeinderat einstimmig die Ausführung des Projekts beschlossen hat. Ich meine nun, es würde uns allen eine Freude bereiten, wenn auch Sie mit Ihrer Unterschrift den Beschluß nachträglich gutheißen, trotzdem die heutige Sitzung schon aufgehoben ist.« Während Maechler sprach, hatte er fortwährend gütig und dringend den Gastwirt im Auge behalten. Aber es nutzte nichts.

»Ich denke gar nicht dran«, brauste er los. »Ich beantrage, nein, ich verlange, den Beschluß aufzuheben und eine neue Sitzung anzuberaumen. Das wäre noch schöner, über einen Geschäftsmann hinwegzugehen, der sich redlich um sein Durchkommen müht! Ich protestiere gegen diesen wahnsinnigen Bau, der Wilkau an den Bettelstab bringen muß.«

Von allen Seiten drang man auf den Gastwirt ein, doch Vernunft anzunehmen. Er war im Schäumen und rief: »Ich habe Vernunft, und gerade deswegen widerspreche ich. Ich bin übertölpelt, ich bin beiseite geschoben, hinters Licht geführt worden. Alles ist abgekartetes Spiel.«

Maechler verlor die Ruhe nicht, und wenn der Tumult, der entstanden war, sich ein wenig legte, redete er weiter gelassen und beherrscht auf den Erbosten ein, freilich mit dem Erfolg, daß sich Kammels Zorn zuletzt ausschließlich gegen ihn, als den Drahtzieher des Komplotts, wendete.

»Mit Ihrer Ruhe, Herr Vorsteher, geht's nicht, es muß durchgegriffen werden«, schrie er.

Die Anwesenden erhoben sich, denn sie sahen, daß der Gastwirt in einem Zustand angekommen war, der jede Verständigung unmöglich machte.

»Bleiben Sie sitzen, meine Herren«, sprach er gemäßigter. »Die Sitzung ist geschlossen, gut! Das andere wird sich finden. Vorbei, einverstanden! Einen Augenblick Gehör. Ich will Ihnen etwas erzählen, was heute auf dem Gebirge passiert ist, und das Sie, Herr Maechler, nach der Unterredung bei mir vor zwei Jahren, Sie werden sich erinnern, besonders interessieren dürfte.«

Der Gerber erbleichte leicht und fuhr sich über die Haare.

Man nahm wieder halbwegs auf den aus der Ordnung geratenen Stühlen Platz, weil jeder der Meinung war, daß Kammel sich auf diese Weise aus der Verwicklung ziehen wollte, in die er durch seine blinde Wut geraten war.

Allein dem Gastwirt war nichts von Geducktheit anzumerken. Mit verkniffenen Lippen und bohrenden Augen starrte er bösartiglauernd auf den ihm gegenübersitzenden Maechler und verharrte in diesem drohenden Schweigen auch noch, nachdem sich alle niedergelassen hatten.

Endlich riß dem rundlichen Wohlseck die Geduld. Er wischte sich den überhängenden Schnurrbart vom Munde und rief:

»Also losgeschossen, Kammel. Wir können doch nicht hier auf den Stühlen über Nacht bleiben.«

»Nein, nein, Gott bewahre«, sagte Kammel ironisch, aus seiner Zornbenebelung erwachend. »Aber es wird Ihnen anders werden, wenn Sie die Geschichte gehört haben. Jawohl, anders. Vor allem Ihnen Herr Vorsteher, verstehen Sie mich. Na, aber gut. Vielleicht kennen einige den alten Lauschner von drüben aus den Leierbauden. Er sitzt noch bei mir im ›Grünen Baum‹, jawohl. Ich hab mir die Geschichte nicht aus den Fingern gesogen. Lauschner ist sozusagen Augenzeuge gewesen. Geht da heute vormittag das achtjährige Mädchen des Holzschlägers Mader aus dem Brän in den Wald hinauf, um Beeren zu sammeln. Auf einer Blöße kommt plötzlich aus dem Walde ein junger Bursche auf sie zu, fragt, was sie da mache, und sieht es doch, das Aas, bittet sie um ein paar Beeren, fängt an schön zu tun. Nun, wie es solche Hunde eben machen, und wie das Kind Angst kriegt und davonlaufen will, packt sie der Kerl, hält ihr den Mund zu, schleppt sie in den Wald, fällt über sie her, mißbraucht sie auf viehische Weise und ist gerade darüber her gewesen, ihr vollends den Garaus zu machen. Waldarbeiter hören ihr leises Stöhnen, laufen darauf zu und sehen den Unhold noch wie der Satan bergauf rasen und verschwinden, wie von der Erde verschluckt, ratzekahl weg, keine Spur. Aber soviel haben sie doch gesehen, daß es ein Kerl von drüben war, die kennt man doch auf hundert Meter, diese Schlurkse! Wie sie dann zurückkommen, finden sie das arme Mädchen schrecklich zugerichtet, nicht zu sagen. Es schlägt noch einmal die Augen auf, verliert das Bewußtsein und ist dann schon auf dem Transport in das Haus ihrer Eltern gestorben. Was sagen Sie zu einer solchen Scheußlichkeit? Aber den Kerl hat man schon, allerdings nicht lebendig. Am Nachmittag, so zwischen vier und fünfe, kommt ein junger Mensch vom hohen Rade heruntergeprescht, daß die Steine fliegen, mit glasigen Augen und verzerrtem Gesicht, schießt auf die Gruben zu und stürzt sich hinunter, ehe es die Leute verhindern konnten. Als man den Zerschmetterten mühsam heraufzieht, der alte Lauschner hat mitgeholfen, erkennt man in ihm den ungefähr sechzehnjährigen Sohn der ledigen Großmann, die einsam und wild in der kleinen Bradlerbaude am Bärengrunde haust. Und das ist wahr, wie Amen in der Kirche. Kein Wort hab ich dazugemacht.«

Die Männer waren erschüttert und brachten vor Ergriffenheit erst kein Wort hervor. Dann aber ging es durcheinander mit Fragen, Mutmaßungen und Zweifeln, da es doch nicht bewiesen sei, daß der Sittlichkeitsverbrecher im Bräner Walde und der Selbstmörder der Schneegrube ein und dieselbe Person sei. Kammel verteidigte leidenschaftlich, fast triumphierend seine Erzählung.

Maechler saß schweigend, die Hände vor sein gelähmtes Gesicht geschlagen, da und sagte lautlos in sich hinein: »Mein Sohn ... ein Verbrecher ... ein Selbstmörder ... mein Sohn.«

Der Gastwirt beobachtete mit Genugtuung den niederschmetternden Eindruck seiner Erzählung auf Maechler, während er eifrig mit den andern um seine Meinung kämpfte. Sein Gesicht glänzte förmlich auf. Unversehens brach er den Streit mit den andern ab und wandte sich an Maechler.

»Nun, wer hatte recht damals vor zwei Jahren, Herr Vorsteher?« fragte er lieblos, giftig. »Hätten Sie eher zu mir gefunden, so konnte dem verfluchten Weibe das Handwerk gelegt werden. Ich habe Ihnen damals gesagt, fest zugreifen. Aber Sie wollten ja nicht. Jetzt ist das Unglück da, an dem Sie, machen Sie, was Sie wollen, mitschuldig sind.«

Ein Schrei der Entrüstung ging durch die Versammlung.

Maechler fühlte seine Beine stumpf werden. Aber er ließ die Hände sinken, erhob sich kerzengrade und sagte mit einem Lächeln in dem entgeisteten Gesicht:

»Lieber Kammel, Sie wissen nicht, was Sie sprechen, weil Sie nicht in Ordnung sind. Ich bitte, meine Herren, führen Sie den Mann hinaus. Gute Nacht. Ich kann leider nicht mitgehen, da ich noch zu tun habe.« Dann wandte er sich an den Direktor Milch: »Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Mühe, und seien Sie nicht zu ungehalten über die Störung.« Der verdatterte Wasserbaumeister gab ihm die Hand und wurde von Maechler bis zur Tür geleitet, durch die man den schimpfenden Gastwirt gestopft hatte.

Maechler blieb, als er allein war, an der Tür stehen, bis die Schritte der Davongelaufenen verhallt waren. Dann ging er zum Ofen und sah lange eindringlich, angestrengt in den Winkel, als ob er von dorther eine Rettung erwarte. Darauf trat er an den Tisch, löschte die Lampen aus, setzte sich, legte die Arme über die Platte und vergrub sein Gesicht darein.

Während er so lag, dachte und grübelte er nicht. Denn das Tiefste in uns erdenken wir nicht. Es ringt sich durch die tausend Schichten der Erlebnisse, die in ruhigen Zeiten undurchdringliche Wände, unübersteigliche Wälle sind und nun zu transparenten Schleiern werden, in den entscheidenden Stunden des Schicksals unwidersprechbar zu uns herauf, daß wir keine andere Wahl haben, an diesem hellen Licht zu verzweifeln oder demütig uns zu neigen. Wohl hatte Maechler Grauen und Schauer zu überwinden, aber Hadern war in diesem starken Mann nicht einen Augenblick. Als es von dem nahen Turme zwölf schlug, erhob er sich. »Ich habe ein Grab der Unehre zu überschreiten, an dem ich schuld bin«, sagte er entschlossen, »und will es tun.« Dann suchte er, ohne Licht zu machen, seine Sachen zusammen. Während des Hinundhergreifens murmelte er fortwährend: »Und ich will es tun, nein, muß es tun, mag kommen, was wolle, will es tun.«

Als er alles zusammengesucht hatte, verließ er das Gemeindehaus mit dem Vorsatze, nunmehr reinen Tisch in sich zu machen und seinem Weibe alles zu sagen, zwar jetzt nicht, da sie anfällig war; aber alles bis ins letzte, von seiner Rebellenzeit angefangen. Dies überlegend, ging er auf dem schmalen Steg am Zacken in sein Haus. Beim Aufglucken einer Welle fuhr er zusammen, und da er auf den Spiegel des Wassers sah, geschah an ihm dasselbe, was sich ereignet hatte, als er vor siebzehn Jahren nach der wilden Liebesnacht mit Paula Großmann am Rande der Schneegrube erlebt hatte. Wie damals fühlte er ein Wesen aus sich herausstürzen, das ihm glich und das er doch nicht war, und mit einem Schrei in der Tiefe verschwinden.

»Schon gut, heute sehe ich's ein«, sagte er erschüttert, »aber wie sollte ich es damals wissen?« Dann setzte er seinen Weg fort.

Allein die Gerechtigkeit, die in der ganzen Welt herrscht, hatte dem tapferen Manne noch Schwereres auferlegt.

Als Maechler, zu Hause angekommen, auf den Zehen die Treppe zu dem gemeinsamen Schlafzimmer hinaufsteigen wollte, lehnte im Finstern an dem Geländer eine noch dunklere Gestalt. Es war ein schwarzer Schatten, der, ohne sieh zu rühren, eine feindselig-fordernde Macht auf ihn eindringen ließ, so, als wolle es ihn mit aller Gewalt nötigen, nicht nur die angefangene Treppe wieder hinunterzugehen, sondern aus seinem Hause hinaus, in alle Welt zu entweichen. Doch Nathanael Maechler griff nach einem Stutzen mit bösem Lächeln aus dem Hosensack seine Schwefelhölzer und strich eines auf der Holzstufe an, um den Dunkelwisch zu beleuchten, der noch immer über das Treppengeländer lehnte. »Was kann mir denn noch geschehen?« sann er, während seine Hand die Phosphorkuppe über das Stufenbrett riß und dann erst im blauen Lichtrauch hob, um sich zu überzeugen, ob da vor ihm eine wesenlose Einbildung seines überreizten Hirnes, also ein Nichts oder irgendwer lehnte. Aber kaum hatte sein Auge einen huschend-scharfen Blick durch den blakenden Lichtrauch getan, entfiel der entsetzten Hand das Hölzchen. Maechler mußte das Treppengeländer fassen, um einen Halt in dem Wirbel zu finden beim Anblick dessen, was er da in der finsteren Nacht vor sich sah. Das beinblasse Gesicht der Paula aus der Bradlerbaude starrte aus verzehrend schwarzen Augen, wild zusammengeschraubten Mundes und einer Entschlossenheit zu tödlichem Haß auf ihn. Nathanael schüttelte es vor Grauen, und in einem Schwanken der Furcht trat er das glimmende Holz aus. Dann aber packte ihn der Mut der Verzweiflung. »Verfluchtes Tier«, zischte er und griff mit beiden Händen in die Gegend der Nacht, wo das Gesicht aufgetaucht war, um es zu zerdrücken. Aber die Nägel der Finger gruben sich nur in die eigenen Handteller, und von dem Schmerz zerriß der Taumel, der ihn gedreht hatte. Mit zwei Sätzen war er auf dem oberen engen Flur. Am ganzen Körper bebend, mit kaltem Schweiß auf der Stirn, fing er sich von dem Sprunge auf und brach in ein Gelächter aus, das schrill wie das eines Irrsinnigen klang. Aus dem Schlafzimmer tönte darauf die helle Stimme Lottes, die fragte, was es gebe, ein wenig schalkhaft und spöttisch, so, als glaube sie, sein Haarbeutel sei nicht ganz in Ordnung. Maechler konnte nicht antworten. Er reckte sich tief atmend auf und sagte dumpf: »So, nun muß es geschehein! Keine Gnade mehr, nur Recht.« Dann schritt er entschlossen ins Zimmer, drückte die Tür hinter sich zu und blieb stehen, ohne sich zu rühren.

»Was hat's denn mit dir, Maechler?« rief Lotte lachend, nachdem sie einen Augenblick gewartet hatte. Nathanael rang mit sich, vermochte aber nicht zu reden.

»Aber so sprich doch, was gibt's denn? Mach doch wenigstens Licht«, sagte sie, nun schon ängstlich, und er hörte, wie sie nach den Streichhölzern griff.

»Um Gottes willen, mach kein Licht«, bat er jetzt mit furchtsamer Stimme, und nach einer Weile setzte er hinzu: »Dann vielleicht, nachher, wenn's vorbei ist.«

»Komm doch her. Ich versteh dich nicht!« rief sie jetzt wirklich erschreckt, sprang auf und wollte ihn zu sich ins Bett ziehen. Aber er widerstand, drückte sie aufs Lager, setzte sich auf den Bettrand und fragte nach einigem Stocken: »Lotte, ich bitte dich um alles in der Welt, sag mir, ob du mich wahrhaftig liebst. Ob du mir verzeihen könntest, was immer auch ...« Er konnte nicht weitersprechen. Lotte hatte sich mit einem Ruck erhoben, umarmte und küßte ihn, daß er verstummen mußte.

»Ich danke dir, liebstes Weib. Ich danke dir von Herzen«, sagte er dann in schmerzlicher Beglückung. »Und nun leg dich wieder, gib mir die Hand und hör zu. Es ist viel, was ich dir zu sagen habe.«

Darauf breitete er sein ganzes Leben vor ihr aus, seine Teilnahme an der Revolution, seine ruhelose Umhergetriebenheit im Kampf um das wahre Glück der Menschen, sein Ringen um den Glauben, seine Wanderung von Bamberg und seine Erkrankung in der Bradlerbaude.

»Gott, was ist denn da weiter, du armer Mann«, rief sie aus, als er verlegen eine Pause machte. »Was glaubst du denn? Das hab ich schon lange, von Anfang an eigentlich gewußt, daß es dich anders getrieben hat wie die Wilkauer Schlafmützen. Ha, und wenn du noch Schlimmeres getan hättest.«

»Eben, eben«, fuhr er fort, »das kommt jetzt«, und dann erzählte er ihr von seinem Leben in der Baude, von Paula Großmann und der rasenden, abgerungenen Vermischung mit ihr in der letzten Nacht, seiner Flucht, dem rätselhaften Erlebnis am Rand der Schneegrube, dem Verbrechen und schrecklichen Tode des Menschen, der sicher sein Sohn sei.

Lotte hatte ihre Hand aus der seinen gezogen und lag nun ohne Atem da. Er fühlte das Zittern ihres Leibes.

»Furchtbar. Schrecklich ... schrecklich ...«, sagte sie tonlos vor sich hin. »Was mußt du gelitten haben, armer Mann.« Dabei streichelte sie seine kalte Hand immer wieder aufs herzlichste. »Nun aber geh und schlaf. Ich bitte dich. Ich bin dir gut. Ich liebe dich.« Sie umarmte, küßte ihn und drängte ihn dann vom Bett. Er fühlte, wie ihr ganzer Körper flog und brachte es deswegen nicht über sich, noch von dem Kampf mit der Erscheinung auf der Treppe zu sprechen.

Leise zog er sich aus, horchte auf die Atemzüge Lottes, und als er sie vernahm, überließ er sich seiner Erschöpfung, die aus Gram, Erleichterung und schmerzlichem Glück bestand. Ketten waren von ihm gefallen, Nächte ausgelöscht. O Gott, wenn es nur Lotte überwände! Ehe er sich's versah, hauchte er das Gebet der Maechler über sich in die Nacht, in die schon das erste Morgenlicht tauchte. Und der Schlaf begann wie ein lindes, dünnes Schleierweben über sein Bewußtsein zu rinnen. Plötzlich gab es einen Ruck in Lottes Bett, und ein Schrei klang auf, schrill, hoch, voll einer verzweifelt inbrünstigen Sehnsucht.

Maechler hörte wohl diesen Laut höchster Menschennot, aber der Schlaf sog so stark an ihm, daß es eine Zeit brauchte, bis er sich dem Traumtaumel entrissen hatte und wußte, wo er war. Mit einem Satz des Schreckens sprang er an das Bett Lottes. Aber die lag schon friedlich, gesammelt, abgeklärt, tot.

Er drückte ihr die Augen zu und küßte sie ehrfurchtsvoll wie eine Heilige auf die Stirn.

»Gestorben ... gestorben ... liebste Lotte ... gestorben an mir«, murmelte er dumpf.

Als er sich aber aufrichten wollte, brach er bewußtlos zusammen.


 << zurück weiter >>