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Fünfzehntes Kapitel

Mit der Stunde, in der Damian hinaus in den Krieg gefahren war, hatte Sessi den Zugang zum seligen Geheimnis der Welt und ihres Inneren verloren. Es war ihr, als habe sie der himmlische Traum von sich selbst, in dem sie gelebt hatte, solange sie sich zurückerinnern konnte, verlassen, und die Wirklichkeit, zu der sie erwachen mußte, erschien ihr so kahl und nackt, daß sie sich tagelang, selbst in wärmster Kleidung, obwohl sich der Frühling ungewöhnlich milde anließ, kaum der Frostschauer zu erwehren vermochte, von denen sie, als kündige sich eine tückische Krankheit an, heimgesucht wurde. Sie fühlte sich überhaupt körperlich so matt und elend, so als habe sie Nächte am Bett eines Schwerverwundeten durchwacht, daß sie nicht mehr fähig war, ihrem Dienst im Lazarett nachzukommen, sich krank meldete und einstweilen wieder nach Hause übersiedelte.

Aber dieser ihr unbegreifliche Frost hatte auch ihre Seele ergriffen, und zwar dermaßen, daß sie das ständig wie auf Stelzen schreitende Wesen ihrer Mutter, deren betont vornehm-herablassendes Gebaren im Umgang mit jedermann, gleichviel ob einfachen oder höheren Standes, ihr eigenes Kind nicht einmal ausgenommen, einfach nicht mehr wie früher zu ertragen und zu übersehen imstande war, sondern sich, aufs äußerste davon gereizt, zu rücksichtslosen, heftigen Angriffen gegen sie hinreißen ließ.

In einem solchen, ihr selbst unübersehbaren verstürzten Zustand vor der Mutter bisher nach Damians Rat nicht getragen, aus dem holte sie den von Damian zur Verlobung erhaltenen Ring, den sie Kästchen, in dem sie ihn aufbewahrte, zog ihn vor deren Augen über den Finger, hielt ihr jäh die Hand hin und schleuderte ihr ins Gesicht:

»Dieser Ring aus fürstlich Shayn-Winternitzschem Familienbesitz war gut genug, um bei einem gewissen Herrn Rauch versetzt zu werden, und sein Gegenstück ist nun auch gut genug, um von einem gewissen Damian Maechler getragen zu werden, der beide Ringe erstand.«

Vor diesem Ausbruch erstarrte Leonie. Ihre Sessi, dieses wohlerzogene, in ihrem Wesen bis vor kurzem so gleichmäßige und gutartige Mädchen, hatte sich offenbar völlig von diesem jungen Phantasten aus dem Gerberhaus umgarnen lassen und, was noch schlimmer war, auch ihr ganzes Standesbewußtsein vergessen, das sie, Leonie, doch von Jugend auf in ihr geweckt und von dem sie geglaubt, daß es ihr in Fleisch und Blut übergegangen sei. Dieser Erschütterung über den Zusammenbruch ihres ganzen Erziehungsgebäudes hielt selbst das starre Gerüst ihrer Selbstbeherrschung in allen Lebenslagen nicht stand und stürzte unter einer hemmungslosen Flut verletzender Schmähungen ihrer »ungeratenen« Tochter und der »Sippe dieses Beutelschmierers von der Feldgasse« mit so vernehmlichem Getöse in sich zusammen, daß Sessi sich erst einmal durch einen raschen Blick vergewisserte, ob auch Tür und Fenster geschlossen seien.

Als Leonie endlich von ihrer eigenen Alteration erschöpft auf einen Stuhl sank und, nicht ganz ohne Berechnung, in Tränen ausbrach, schaute Sessi sie nur wortlos an und ging hinaus. In der eisigen Einsamkeit, die ihr das Herz umschnürte, erreichten sie weder Schmähungen noch Tränen. Mechanisch trat sie in ihr Zimmer, schloß sich ein, entledigte sich ihrer Kleider, legte sich zu Bett und lag mit offenen starren Augen, regungslos, einer Toten ähnlicher denn einer Lebenden, bis der Tag zur Neige ging und sich unter dem dunklen Tuch der Nacht auch ihre Lider schlössen.

Fortan gingen sich Mutter und Tochter geflissentlich aus dem Wege, ohne daß zwischen ihnen noch ein Wort über Damian Maechler oder den Ring fiel, den Sessi nicht mehr ablegte.

Als die neue Woche begann, nahm Sessi wieder ihren Dienst im Lazarett auf, konnte aber nicht mehr im Langen Hause nächtigen, da dort infolge stärkerer Belegung mit Verwundeten das Pflegepersonal um einige Berufsschwestern von auswärts vermehrt worden war, die man nur dadurch unterbringen konnte, daß man die aus Wilkau stammenden freiwilligen Schwestern nach Hause ausquartierte.

Nur durch diese Pflege der Verwundeten, der Sessi sich instinktiv noch leidenschaftlicher als zuvor hingab, gelang es ihr, allmählich wieder an das Wesen ihres Damian heranzudringen und so Atemzüge ihrer alten Wesensverzauberung zu trinken. Eine geheimnisvolle Hoffnung blühte in ihr auf, und von ihr lebte sie, die Hoffnung, daß sie, je hingebungsvoller sie ihren Dienst an den Wunden und Krüppeln des Krieges versah, um so gewisser ihren Herzensverlobten vor eigener Verwundung bewahren könne. Je mehr dieser oder jener Kriegsverletzte Damian ähnelte, um so aufopfernder pflegte sie ihn, um so größeren Aufwand an Sorge häufte sie auf ihn und fühlte darin sicher und sicherer die Wirkung der Abwehr eines grausen Geschicks von dem Geliebten draußen im Felde durch ihre tätige Barmherzigkeit an seinen leidenden Kameraden in der Heimat. So geriet sie in eine von Woche zu Woche sich steigernde inbrünstige Entschwundenheit, die anfangs wie ein beglückender Taumel nur schnell über sie hinhuschte, durch Wiederholung dieser vollkommenen Selbstentäußerung jedoch sich vertiefte und sie schließlich so erfüllte, daß sie in einer Art Entrücktheit um jene Gebrechlichen diente, die sie, sei es durch den Ton der Stimme, die Farbe der Augen, den Schnitt des Gesichts, durch Gebärden oder Eigenheiten der Bewegung, an ihren Verlobten erinnerten.

Die Verwundeten aber, die Sessi in ihrer stürmischen, verheimlichten Liebesbesessenheit so mit dem ersten Glück schwärmerischer Leidenschaft überströmte, schrieben ihren Händen und Augen heilende Kräfte zu und verehrten sie wie eine Heilige.

*

Der Sommer kam, das Ringen im Westen steigerte sich zur Sommeschlacht, und Damian ward mit in sie hineingerissen. Der Sommer verging, das Jahr verging, und Damian, der geliebte Grabenkämpfer, hatte es überlebt, obwohl die Division, zu der sein Regiment gehörte, dauernd im härtesten Einsatz stand. Nach kurzen winterlichen Ruhewochen hinter der Front begann der Totentanz im aufsteigenden Lichte der Frühlingssonne nach dem Naturgesetz des Krieges abermals, und wieder wirbelte er auch Damian von Frontabschnitt zu Frontabschnitt, durch Höllen und durch Todesnöte.

So ging ein volles Jahr an Damian und Sessi vorüber, in welchem beide, nur durch Gedanken und Briefe miteinander verbunden, pausenlos dem Tode gegenüberstanden und ihn, jeder auf seine Weise, überwanden. Aber während Damians Wesen in den Trommelfeuern der Schlachten um und um geschmolzen, geglüht und gehärtet wurde, verlor sich Sessi, in der ständig aus dem Grunde ihrer Seele ins Bewußtsein drängenden Befürchtung, daß der geheime Vertrag, den sie für Damians Leben mit dem Tode abgeschlossen, nur so lange seine Zauberkraft behielte, wie sie ihn mit aller Inbrunst, deren sie fähig war, einhielte, so tief ins Mitempfinden, ja Mitleiden der Zerstörungen und Entstellungen der bresthaften Körper, denen ihre Hände schmerzlindernd oder hilfreich dienten, daß ihr Herz statt wehrhafter immer wehrloser wurde. Dort, wo sie in der ersten Zeit nach Damians Abreise ins Feld der Eisblock in der Brust quälte, daß sie nicht wußte, ob er wohl jemals schmelzen würde, trug sie jetzt ein Gebilde so weich wie Wachs und wünschte sich manches Mal, daß sie es härten könnte.

In diesem seelenweichsten Zustand aller ihrer Lebensjahre widerfuhr Sessi das Erlebnis mit dem Fähnrich Balling, das die bedeutsamsten Folgen sowohl für sie wie für Damian nach sich ziehen sollte.

Balling traf Mitte Juni mit einem neuen Verwundetentransport im Langen Hause ein. Er war durch einen Granatsplitter am Kopf schwer verwundet, so daß er, auf der linken Körperseite gelähmt, mit wohl äußerlich geheilter Wunde nach Wilkau geschickt worden war, um durch den Gebrauch der Bäder und der mechanischen Bewegungskur bei Doktor Relper geheilt zu werden. Sein Aufenthalt war auf Monate berechnet. Aber unter Sessis Pflege, die ihre Wesenssonne noch wirksamer, als es Doktor Relpers Apparate vermochten, und noch voller, als sie es bisher je zuwege brachte, auf den verschlossenen, ganz in sich gescheuchten schönen Jüngling wirken ließ, zerstreute sich der Druck, der auf ihm lastete, und gab ihm von Tag zu Tag reicher die Hoffnung auf ein unverstümmeltes Leben zurück, so daß er zum Verwundern der Ärzte schon nach sechs Wochen, erst mit dem Stock und dann ohne Unterstützung, zu gehen imstande war.

Nach einigen kleineren Spaziergängen im Badewäldchen in Begleitung Sessis verlockte es den jungen Menschen, zur stillen Feier seines Geburtstages, wie er Sessi fast schüchtern anvertraute – es war der erste August und ein besonders schöner und warmer Hochsommernachmittag –, weiter gegen das Gebirge hin zu wandern. So führte ihn Sessi auf einem buschverkrochenen Steig bis an die Grandorfer Teiche hinaus, die lautlos und spiegelglatt wie riesige Fladen Himmel zwischen den Bäumen lagen und durch das Gesträuch die beiden anschimmerten. Wie spielend leichter Wolkenflug strömte der wuchtige Zug des Gebirges vor ihnen hoch in der Ferne in der durchsichtigen Verklärtheit eines hauchgrünen Himmels selig hin. Das Entzücken des jungen Kriegers über die Schönheit dieser Welt, der er sich zum ersten Male seit Kriegsbeginn wieder hemmungslos hingeben durfte, war so echt und ungekünstelt, daß es Sessi ergriff. Wie sehr seine Beglückung aber noch durch sie selbst erhöht wurde, konnte sie, die, gleich darauf wieder in ihre geheime Liebesverzauberung durch Damian verstrickt, still neben dem Fähnrich hinging, nicht einmal ahnen. Ihm erschien sie so still und rein wie die Teiche, die da vor ihm lagen, und so erdentrückt und verklärt wie die einzige schillernde Wolke, die eben, windlos, nur vom eigenen Traum getrieben, über ihm am Himmel hinschwebte. Und was er bisher noch nie in all den Wochen zu irgendeinem Menschen getan, er fing an, ihr von seiner Vaterstadt Köln zu erzählen, wo er als Sohn eines vermögenden Fabrikbesitzers eine glückliche Kindheit und schattenlose Jugend verleben durfte. Noch während er erzählte, brach der Abend herein, plötzlich, grandios wie ein Feuerüberfall. Die Berge rauchten in Flammen, die Teiche funkelten rot wie riesige Tümpel frischen Blutes, die Zirruswölkchen füllten wie blinkende Geschosse den Himmel.

Verblüfft von dem plötzlichen Hereinbruch dieser Weltallsröte, unterbrach Balling seine Erzählung und betrachtete staunend schon eine Weile den Himmelsbrand, als ihn unvermittelt eine Erinnerung überwältigte, die Erinnerung an den nächtlichen Feuerüberfall, bei dem er verwundet worden war.

»... ja, genau so war's«, brach er los, »gnädiges Fräulein, genau so wie jetzt. Feuer überall, in der Ferne, am Himmel, um uns, vor uns, hinter uns, Teufel noch mal!«

Tief erschrocken sah Sessi den Fähnrich fragend an. Aber Balling, von der Wucht seines aus der Erinnerung aufsteigenden grausig-schönen Erlebnisses überströmt, achtete nicht nur nicht auf das Erschrecken des verehrten Mädchens neben ihm, sondern ließ sich von dem furchtsamen Glanz ihrer großen Augen, dem Erbleichen ihres schönen Gesichtes und nicht zuletzt von einem heißen Stoß, der plötzlich aus seinem Herzen über ihn hereinbrach, noch weiter fortreißen:

»Jawohl, wie ich es Ihnen sage, so war es um uns, damals am achten April ... Na ja, ein bißchen anders war's freilich doch, denn es donnerte, blitzte, krachte um uns, über uns – und unter uns zerbarst die Erde. Aber daran erinnere ich mich jetzt noch genau: Ich hörte nichts. Für mich war es geisterhaft still. Ich sah die Granaten geräuschlos fliegen, die Kameraden lautlos fallen, schreie und habe keine Stimme, laufe, stolpere, stürze in Trichter und wate doch wie über Watte, in Wolken und wie von Sinnen, in einem tollen Traum, und plötzlich sehe ich meine Jugendgespielin vor mir stehen, die Tochter des Medizinalrats Kemmler, welche die Geliebte meiner Jugendjahre war. Sie lächelt mich an, fängt eine Granate mit den Händen auf und wirft sie im weiten Schwung von mir fort. Dann legt sie mir schützend die Hand auf den Kopf. Ich greife hinauf, um sie zu erhaschen und dankend zu küssen. Als ich meine Hand zurückziehe, ist sie voll Blut. Ich sehe, daß ich am Boden liege, spüre einen reißenden Schmerz im Kopfe und verliere die Besinnung ...

Aber was ist Ihnen denn, gnädiges Fräulein? Um Gottes willen, Fräulein Sessi ... Sessi, geliebtes Wesen?«

Sie wankte. Er fing sie auf. Ihre Augen waren weit geöffnet und flammten. Inbrünstig stammelte sie: »Oh, Geliebter, nein, das darf nicht sein ...«

Dabei klammerte sie sich unwillkürlich und vor Erregung zitternd an Balling, der, selbst seiner nicht mehr mächtig, ihr Gesicht mit glühenden Küssen bedeckte und dabei immerfort ihren Namen stammelte.

So sanken beide im Gebüsch zur Erde, Balling von Sorge, Angst und Leidenschaft in sinnlosen Rausch gestürzt; Sessi von der Inbrunst ihrer Liebe und verzweifelten Angst um Damian ohnmächtig, willenlos in den Feuerwirbel drängend, der sie umlodert und stoßend in sie eindringt.

Als Sessi nach langem erwachte, sah sie sich im Gebüsch liegen und verstand nicht, was geschehen war. Ihr Bewußtsein war ein einziger Taumel, in dem ihr Spaziergang als eine Halluzination schwamm; und als sie durch diesen Taumel bis zur Erkenntnis dessen, was mit ihr vorgefallen, durchzudringen versuchte, loderte alsbald auch jener Flammenwirbel um sie und in ihr wieder auf. Es war ihr einfach unmöglich, aus diesem Trubel ihres Inneren einen Ausweg zu finden. Endlich zog sie mechanisch das in Unordnung geratene, bis übers Knie heraufgerutschte Kleid herunter und erhob sich schwerfällig. So auch schleppte sie sich heim, unter einem Himmel, dessen Feuerrasen inzwischen vollkommen in eine aschfarbene Dunkelheit erloschen war, welche die Traumschatten, die sie noch immer umfangen hielten, zwar ins Undurchdringliche formte, hinter denen sie aber Gestalten sich bewegen sah, die sie durch nichts als den Rhythmus ihrer Bewegungen voneinander zu unterscheiden vermochte. Bald sich selbst, bald den Fähnrich, bald Damian ahnungsvoll witternd, verursachte ihr der Rhythmus dieser geheimnisvollen Bewegungen eine Wollust, die sie durch alle Adern, bis in ihren Schoß hinein fühlte.

Zu Hause angekommen, legte sie sich, angekleidet wie sie war, in ihrem Zimmer aufs Sofa und überließ sich einer Lethargie, die dem einschläfernden Behagen gleichkam, das eine schwüle Sommernacht über den Körper des Menschen bringt. Doch von Zeit zu Zeit schreckte sie aus diesem Schummern in den Angstzustand auf, in den sie durch die Schilderung Ballings von dem gespenstischen Nachtkampf geraten war, kurz bevor ihr die Sinne schwanden. Und wieder ist das feurige Rasen um sie, in das sie sich mit der waghalsigen, verzweifelten Angst stürzte, um ihren Damian dem Tode zu entreißen. Und wieder hört sie sich von seiner inbrünstigen Stimme gerufen: »Um Gottes willen, Sessi, liebste Sessi«, fühlt sich von seinen Armen umschlungen und klammert sich mit einer Liebesraserei an ihn, daß sie vollkommen ausgelöscht wird.

Als Sessi sich am dritten Tage etwas gekräftigt fühlte, ging sie gegen Abend ins Lange Haus, um von Balling Auskunft über den Vorfall zu erlangen und ihm Vorhaltungen zu machen, daß er eine Ohnmächtige so roh verlassen und sich nicht mehr um sie gekümmert habe. Aber Balling war schon nicht mehr im Lazarett. Von seinen Kameraden erfuhr sie jedoch das Folgende:

An jenem Abend, zur Zeit des Abendessens, sei der Fähnrich atemlos, kreidebleich, vollkommen aufgelöst in den gemeinsamen Speiseraum hereingestürzt und habe geschrien: »Sie liegt draußen, Kameraden, das gnädige Fräulein, Schwester Sessi, liegt bei den Teichen, vielleicht schon tot, und ihr Viecher sitzt da und freßt in aller Ruhe! Gott im Himmel, und ich bin wohl schuld an ihrem Tode!«

Es sei unmöglich gewesen, aus dem Aufgeregten, der immer in kurzen Abständen von Schluchzen geschüttelt worden sei, etwas Klares herauszubringen. Endlich habe ihn eine starre Ruhe überfallen, und mit unnatürlich gesammelten Augen, deren Ausdruck sie gleich erschreckt habe, sei er auf den liebevollen Vorschlag einiger Kameraden eingegangen, sie doch an die Stelle zwischen den Teichen zu führen, wo er das Fräulein liegengelassen habe.

»Jaja ... Ihr habt recht«, habe er fortwährend vor sich hin gemurmelt, während sie über die Treppe hinuntergestiegen seien. Als man gemerkt habe, daß er vor Schwäche oder Schwindel taumelte, hätten sie ihn vorsichtig am Arm genommen, was er auch duldete, sich aber dabei schon ganz sonderbar benahm. Denn sowie er fühlte, daß ihn jemand anfaßte, habe er ausgerufen: »Gut, gut! Verhaftet mich nur, ich hab's verdient.«

Beim Betreten der Straße habe er plötzlich gestutzt, grauenvoll aufgeschrien und sogleich sinnlos, verzerrten Gesichtes auf seine Begleiter eingeschlagen. Nun sei kein Zweifel mehr daran möglich gewesen, daß bei dem Fähnrich der Wahnsinn ausgebrochen war. Man habe ihn überwältigt, und noch am selben Abend sei er in die Nervenklinik nach Breslau abtransportiert worden.

Kaum hatte Sessi die letzten Worte von diesem Bericht über das Schicksal Ballings vernommen, als sie ohnmächtig auf einen Stuhl sank. Als sie erwachte, fand sie sich im Ordinationszimmer auf die Chaiselongue gebettet und blickte in das besorgte Gesicht des Oberstabsarztes Doktor Freitag.

»Na«, sagte Doktor Freitag erleichtert, »Sie haben uns ja einen schönen Schrecken eingejagt, Baroneß. Über zwei Stunden bewußtlos, das kommt nicht aus heiterem Himmel. Wie fühlen Sie sich denn jetzt?«

Er hielt ihr Handgelenk: »Der Puls ist ja wieder normal.«

»Noch ein wenig schwach fühle ich mich schon, Herr Oberstabsarzt«, sagte Sessi, indem sie sich aufrichtete, »aber ich denke, das wird auch bald vorübergehen. Ich danke Ihnen sehr, daß Sie sich meiner so angenommen haben.«

»Nichts zu danken, Baroneß«, wehrte Doktor Freitag ab, »aber vielleicht können Sie mir jetzt...«

»Ich will es wenigstens versuchen, Herr Doktor«, unterbrach ihn Sessi überlegend, »denn mir ist in meinem Leben noch nie etwas so Merkwürdiges passiert, nicht diese Ohnmacht vorhin, nein, Sie haben ganz recht, die hängt wohl mit etwas anderem zusammen...«

Und Sessi begann, dem Arzt mit leiser Stimme, aber völlig gesammelt und so, daß Doktor Freitag staunend erkennen mußte, wie klar sie schon wieder zu denken vermochte, von dem aufwühlenden Erlebnis zu erzählen, das sie vor drei Tagen gehabt hätte, als sie gegen Abend mit dem Fähnrich Balling draußen zwischen den Grandorfer Teichen spazierengegangen sei.

Von den hereinbrechenden Feuern des Abendrots sei der Fähnrich zu einer so grauenvoll-gespenstischen Schilderung des nächtlichen Feuerüberfalls veranlaßt worden, währenddem er seine Verwundung erhielt, daß sie von einer fürchterlichen Angst ergriffen worden und gleich darauf wie ohnmächtig zusammengebrochen sei. Aber in diesem ohnmachtähnlichen Zustand habe sie unbegreiflicherweise jemanden, den sie liebe, und der auch als Soldat im Felde stehe, dicht über sich gesehen. Er habe aus dem Feuerbrand heraus, beim Donnern der Geschütze und dem Heulen berstender Granaten solange angstvoll nach ihr gelangt, bis sie ihn mit verzweifelter Anstrengung vom Tode errettet habe.

»Das war es«, schloß Sessi ihren Bericht, »was ich erlebte und was mich so erschüttert hat, daß mich, heute, als ich erfuhr, was inzwischen mit dem armen Fähnrich geschehen ist, zum zweiten Male eine mir sonst gänzlich unerklärliche Schwäche befiel. Mehr kann ich Ihnen, Herr Doktor, auch nicht sagen; doch als Arzt werden Sie sich das Ganze ja bestimmt erklären können. Ich habe wohl nicht nötig, Sie um vollkommene Diskretion über das, was ich Ihnen eben anvertraut habe, zu ersuchen.«

Damit stand Sessi fast brüsk auf, verharrte noch ein paar Augenblicke in versunkenem Schweigen und sagte dann plötzlich, den Kopf schüttelnd, mit verlorener Stimme: »Gott im Himmel, dieser schreckliche Krieg reißt die Welt ein, warum sollte es nicht auch möglich sein, daß die Grenzen des Lebensraumes zwischen zwei Menschen eingerissen werden!«

Nachdenklich betrachtete Doktor Freitag das schöne junge Mädchen, deren Aufopferung im Dienst an den Verwundeten er seit langem bewunderte.

»Tja, Gnädigste, damit ist ja alles klar, und es wäre herzlos von mir, Sie noch mit weiteren Fragen belästigen zu wollen. Meiner Verschwiegenheit übrigens konnten Sie sowieso sicher sein, denn als Arzt bin ich dazu sogar verpflichtet. Und nun schonen Sie sich mal ausgiebig, Baroneß, damit diese Anfälle wegbleiben.«

Mit einem Lächeln schmerzvoller Verwunderung reichte ihm Sessi die Hand, öffnete die Tür und ging davon, ohne sie zu schließen. Doktor Freitag sah ihr nach. Mit ihrem hohen schwebenden Gang ging sie sicher über den langen Korridor und verschwand über die Treppe. ›Wie eine Schlafwandlerin‹, dachte der Arzt unwillkürlich. Dann schloß er die Tür seines Arbeitszimmers, setzte sich an den Schreibtisch und murmelte, während er mechanisch in irgendwelchen Akten blätterte, vor sich hin: »Ziemlich klarer Fall... wird nicht leicht daran zu tragen haben ... sehr bedauerlich ... armes liebes Wesen.«

Nachdem Sessi Doktor Freitag ihr Erlebnis mit dem unglücklichen Fähnrich geschildert hatte, war sie überzeugt, daß es sich genau so abgespielt habe, und in dem Ruf: »Sessi, um Gottes willen, geliebte Sessi«, glaubte sie nur den Klang der angstvollen Stimme ihres Damian zu hören. Sie brauchte bloß die Augen zu schließen, und eine Inbrunst ergriff sie von so seliger Gewalt, daß ihr ganzer Körper davon erfüllt wurde, von einem solchen fast wollüstigen Glück, daß es sie auf einen Sessel drückte und sie geradezu nötigte, die betend geschlossenen Hände in den Schoß zu bohren.

Noch am gleichen Abend teilte sie den Vorfall mit genauer Angabe von Tag und Stunde ihrem Verlobten mit und trug den Brief noch in der Nacht in den Postkasten.

Von ihrer Pflegetätigkeit im Lazarett hielt sich Sessi einstweilen, nicht nur um sich nach dem Rat Doktor Freitags zu schonen, sondern geflissentlich fern. Denn sie fürchtete, durch den Anblick der Verwundeten noch tiefer in ihre fortschwelende Furcht gerissen zu werden, Damian sei an der Front ein Unglück zugestoßen oder ihm gar das Letzte geschehen.

Doch schon nach kaum einer Woche überkam sie, als sie sich auf einem Weg durch die Straßen gerade in der Nähe des Langen Hauses befand, eine ihrer weichen, gütigen Seelenregungen, der sie auch nachgab. Sie stieg die wenigen Stufen zur Pforte hinauf, trat ein und stand eben im Begriff, die Tür in eines der im Erdgeschoß gelegenen Zimmer zu öffnen, um dort einen ihrer bisherigen schwerverwundeten Pfleglinge zu besuchen, als sie oben auf dem Treppenflur einen Soldaten sah, der, auf einem Bein hinkend, sich ziemlich mühselig mit zwei schweren Eimern schleppte. Hinter ihm her tänzelte ein anderer, den linken geschienten Arm in der Binde, der ausgelassen lachte und dem Hinkenden grölend zurief: »Fall hin, fall hin«, um sogleich im Flur nach dem Leichtverwundetensaal zu verschwinden.

Sessi, deren Unterbewußtsein noch immer unablässig um ihr Erlebnis zwischen den Teichen kreiste, glaubte, der Übermütige habe ihr, als er sie unten stehen sah, den Namen »Balling« zugerufen, fand sich dadurch bloßgestellt, ja beleidigt, raste über die Treppe hinauf, rief schrill nach der Oberschwester, machte der ängstlich Herbeigeeilten in fast maßloser Härte Vorwürfe über mangelhafte Aufsicht der Verwundeten und verlangte, vor den Schuldigen geführt zu werden, der bei ihrem Anblick so höhnisch den Namen des Fähnrichs gerufen habe, als mache er sich lustig über sie und den armen Unglücklichen.

Aber als schließlich der herbeigerufene Pönitent, ein biederer Bauernbursch aus Hessen, vor der kalkweißen, hochatmenden Erzürnten stand und erschrocken ihre Anklage gehört hatte, zog sich sein ganzes Gesicht zu einem breiten Lachen auseinander. Denn er war, wie sich herausstellte, erst vor drei Tagen mit seinem zerschossenen Arm im Langen Hause eingetroffen und hatte noch nichts anderes über den Fähnrich gehört, als daß er plötzlich »meschugge« geworden sei. Das sagte er Sessi in karger Treuherzigkeit und endete tröstend: »Ach Gott, Schwester, er hat halt plötzlich das Hopsen gekriegt, wie manche da draußen im Trommelfeuer zu tanzen anfangen. Das gibt sich wieder. Aber ich über so was lachen? Da müßt' ich ja ein Hundeherz haben.«

Lange sah Sessi dem biederen Burschen mit seinem geschienten Arm durchbohrend ins Gesicht. Ihr Blick hatte dabei eine Schärfe des Erschreckens und Ertapptseins, die sie von innen her als ein Grauen ins Auge steigen fühlte und vollkommen ratlos machte. Gewaltsam riß sie sich zusammen, brachte in ihrem Gesicht ein gütiges Lächeln hervor und sagte:

»Nun, da ist ja alles gut. Aber bitte nicht mehr so laut lachen hier im Lazarett, nicht? Da liegen manche am Tode, denen wird das Sterben durch so was nur noch schwerer.«

Dann erkundigte sie sich mit einer solchen Herzlichkeit in der Stimme nach der Art der Verwundung des jungen Soldaten, daß der Hesse in seiner Bestürzung, dieses blasse schöne Wesen wenn auch unwissentlich verletzt zu haben, nichts zu sagen wußte als:

»Ach, der Krieg, liebes Fräulein, der Krieg ist an allem schuld.« Das murmelte er gesenkten Kopfes vor sich hin. Als er endlich wieder aufzusehen wagte, stand er allein im Flur und sah eben Sessis Kleid nach der Treppe zu langsam verschwinden.

Nach diesem Vorfall vermied Sessi es sogar, das Lange Haus auch nur von ferne zu sehen.

Auf ihren Brief, den sie Damian geschrieben, erhielt sie erst nach langer, vergeblicher und zermürbender Wartezeit eine Antwort, die sie aufs neue in einen Zustand tiefster Verzweiflung zurückwarf. Die Antwort, die sie erhielt, war ihr eigener Brief an Damian, der als unbestellbar an sie zurückgelangte. Darüber verfiel sie in die tote, stille Finsternis des Glaubens, Damian sei nicht mehr unter den Lebenden, entweder verschollen, wie ein heller Jugendschrei spurlos in die Luft verhallt, oder vom Krieg in Atome zerrissen und verschluckt. Nur von dem Erbteil ihrer adligen Abkunft her fühlte sie sich zeitweise wie durch einen hellen Lichtstreifen am Horizont ihres wieder nächtlich verdunkelten Daseins in den Stolz hinaufgehoben, ihr Verlobter sei als heldisches Opfer fürs Vaterland gestorben. Aber es wollte und wollte ihr nicht gelingen, sich mit allen Fasern ihres Wesens in diesem gramvoll-glücklichen Stolz zu beruhigen. Denn außer dem Schmerz gähnte es vor ihr als ein ihrem Begreifen vollkommen unzugänglicher Abgrund auf, daß, wenn Damian nicht zurückkomme, sie unweigerlich in Schande verfallen müsse.

In ihrer Ratlosigkeit und Verstörung, die sie doch vor ihrer Mutter verheimlichen mußte, trieb es Sessi eines Tages auf die Feldgasse und in die Arme Mutter Christels. Ihr konnte sie wenigstens ungescheut ihre ganze Sorge um Damian anvertrauen. Auch im Gerberhaus war man seit Wochen ohne jedes Lebenszeichen von Damian, aber Christels von Grund auf zuversichtlichem Wesen lag es so wenig, schwarz zu sehen, daß sie sich beinahe unbekümmert das Schweigen Damians als ein fast untrügliches Zeichen seiner Unversehrtheit auslegte.

»Nein, liebes Kind«, sagte sie schlicht zu Sessi, die sich zitternd und verscheucht auf die Ofenbank gedrückt hatte, »nein, ich müßte es wissen, hier im Herzen müßte ich es spüren, wenn er gefallen wäre. Ich bin ja seine Mutter. Also lebt er, und das ist das Wichtigste. Es kann ja sein, er ist gefangen oder verwundet und kann noch nicht schreiben. Wir müssen halt noch ein bissel Geduld haben.«

Zwar gelang es auch Christels Zuspruch nicht, Sessi aus ihrer Verdüsterung zu lösen, die ja nicht bloß ihrer Angst um Damians Leben, sondern ebensosehr ihren quälenden Gesichten jenes Erlebnisses an den Teichen entsprang, von dem sie um keinen Preis auch nur ein Wort vor Damians Mutter über die Lippen gebracht hätte, aber es glückte dieser wenigstens, Sessi zu bestimmen, solange bis Nachricht von Damian käme, ins Gerberhaus überzusiedeln. Von seiten Jochens war kein Einwand dagegen zu erwarten. Seit der Verschreibung des Hauses und Betriebes auf Christel respektierte er alle ihre Entschlüsse und Maßnahmen und hielt sich von jeder Einflußnahme auf den Gang des Hauswesens zurück. In diesem Falle mischte sich in sein Verständnis für Christels Gedanken, dem armen unglücklichen Mädel hilfreich beizuspringen, noch eine Befriedigung darüber, daß Damians adlige Braut noch vor ihrer Ehe das bürgerliche Maechlerhaus zu ihrer Zuflucht wählte.

Das Zusammenleben Sessis mit ihrer Mutter, zumal seit Sessi wieder bei ihr wohnte und sich vorläufig auch nicht mehr dazu entschließen konnte, ihre Tätigkeit im Langen Hause wiederaufzunehmen, war für beide Teile so unerträglich geworden, daß diese Lösung von der Mutter um so näher lag, als Leonie zu ihrer Tochter schon mehrfach ernstlich von einer Trennung gesprochen hatte.

Wenn Leonie auch, als ihr Sessi ihren Entschluß verkündete, sich äußerlich beherrschte und sie frostig ziehen ließ, so loderte in ihr doch noch einmal ihre Empörung gegen die Maechlersippe auf, die es nicht nur verstanden hatte, ihre Tochter ganz in ihre Netze zu ziehen, sondern sie obendrein vor den Augen der Wilkauer in unerträglicher Weise bloßstellte. Daher bemühte sie sich unverzüglich, aus ihrem Gesichtskreis, vor allem dem des Wilkauer Adels, zu verschwinden, bei dem sie nach dieser »proletarischen Verirrung« ihrer einzigen Tochter unmöglich geworden zu sein glaubte. Kaum vierzehn Tage nach Sessis Aufnahme im Gerberhaus zog sie von heut auf morgen nach Scherichsdorf in ein kleines Häuschen am Scholzenberg, ohne Rücksicht darauf, daß Sessi nur erst von einem voraussichtlich auf ein paar Wochen berechneten Besuch auf der Feldgasse gesprochen hatte.

Gegen Anfang Oktober, knapp vier Wochen nach Sessis Obersiedlung ins Gerberhaus, traf dort ein Telegramm ein, darin Damian für den übernächsten Tag seine Ankunft in Wilkau anzeigte. Als er, mit dem Eisernen Kreuz auf der Brust, inzwischen zum Vizefeldwebel avanciert, totenblaß und mager, aber ohne Verwundung, heil am ganzen Leibe, auf dem kleinen Bahnhof aus dem Zuge gestiegen war, fiel er Sessi um den Hals, verbarg sein Gesicht auf ihrer Schulter und schluchzte wie ein Kind.


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