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Siebzehntes Kapitel

So hing der Wagen des Gerberhauses wieder fest an seinem Zugblatt, und Agnete schlüpfte nun oft und oft wie früher über die Haustürschwelle des Gerberhauses. Sie tat das mit der ihrem Wesen gemäßen Unauffälligkeit, ja Scheu, als sei der Besuch bei Christel eine anmaßliche Aufdringlichkeit, die am besten der Öffentlichkeit nicht zu dicht unter die Stinknase gehalten wurde. Deswegen auch nahm sie den Weg in das Maechlerhaus nie über den Schloßplatz, sondern kam zwischen den Gärten auf Schrimsteigen von hinten her heran, und zwar meistens gegen den Abend, und vergaß fast nie ein Blumensträußlein aus der Glaeserschen Gärtnerei mitzubringen. Gewöhnlich blieb sie ein Stückchen vor dem Gartenpförtchen unter dem überhängenden Baum stehen, und hörte sie den schweren Schritt des Meisters zwischen den Tonnen oder im Hause, so wartete sie eine Weile, um ihm nicht zu begegnen, weil sie der unheilbaren Feindschaft zwischen ihm und ihrem Manne nicht neue Nahrung geben wollte. Aber einmal, da sie, den Blick nur auf die Haustür geheftet, eilig durch das Vorgärtchen huschte, war der Gerber leise aus der Werkstatt getreten, und sie stand unvermutet dem schweren Mann gegenüber, der sie in herzlicher Freude begrüßte. Agnete fühlte sich wie ertappt und war von der offenen Liebenswürdigkeit des Meisters so beschämt, daß sie allerhand durcheinander stotterte und sich endlich aus der Verwirrung half, indem sie eine Blume aus dem Sträußlein nestelte.

»Bitte, nehmen Sie«, sprach sie zaghaft. »Das soll mein herzlicher Gruß an Sie sein.«

Über Maechlers Gesicht huschte plötzlich eine Dunkelheit, die wie unterdrücktes Erschrecken aussah, und während er Belangloses von Überraschung und unverdienter Liebenswürdigkeit redete, nahm er zögernd die dargebotene Blume, daß die zarte Frau ihn ratlos ansah, weil sie fürchtete, in dem Gerber den Widerwillen gegen ihren Mann wachgerufen zu haben. Aber Maechler achtete auf die Betretenheit nicht, denn er war von etwas Tieferem bedrängt.

»Woher ist die Blume, Frau Agnete?« fragte er aus gespannter Brust mit erzwungen freundlicher Stimme.

Da atmete Agnete glücklich auf.

»Nein, nein«, sagte sie erleichtert, »nicht von uns. Wir haben ja leider keinen Garten. Da hol' ich halt die paar Blümel bei Glaesern, wenn ich hierherkomme.«

»Aus der Glaeser-Gärtnerei, da auf der Feldgasse?« wiederholte der Gerber die Auskunft der Frau Neefe mit weicher, verwunderter Stimme und sah Agnete und dann die Blume groß und verwundert an.

»Nun, so was!« sagte er dann, wie aus einem Krampf erwachend, richtig erschüttert. »Da ist ja alles gutgemacht, alles wieder schön. Gottes Dank, liebe, liebe Frau Agnete.«

Damit drückte er der Betroffenen die Hand, trat jäh von ihr zurück und verschwand fast fluchtartig wieder in der Werkstatt, deren Tür er fest hinter sich zuzog, damit nichts von außen her ihn in der glücklichen Erlöstheit störe, die mit dem Blumengeschenk der klingend unschuldigen Agnete über ihn gekommen war. Denn für den innerlich tief verschlungenen Meister war nun der letzte Schatten verschwunden, der heimlich immer aus der Glaeserschen Gärtnerei ihm ins Innere gedämmert hatte, und mit jedem Besuche wurde der Schimmer stärker, der seit je von Agnete in sein Haus getragen worden war, so daß der verhaltene Wohllaut wieder fast vollkommen hergestellt wurde, von dem früher alle Tage durch das Maechlerhaus getragen worden waren.

Diese geklärte Atmosphäre verhalf auch Damian wieder ganz in sein früheres Leben und Wesen. Wie vorher polterte sein Freund Reinhard Neefe nun fast alle Tage fröhlich über die Holztreppe in die Mansardenklause zu Damian hinauf, und die beiden Jungen kramten oder lernten darin oder schäumten auch in eine unbändige Lustigkeit miteinander, die oft durch das ganze Gerberhaus tönte. Und immer wie früher schon war es der listenreiche Reinhard, dessen verstecktes Feuer aus tausend Nähten züngelte, der Damian aus seiner heimlich gesammelten Vertiefung in allerhand bunte Streiche, ja zu schwärzestem Vagabundieren durch ganz Wilkau riß. Freilich ertrug der Gerberjunge diese bedenkenlose Ungebundenheit stets nur wenige Tage, dann wurde er wieder von seinem Wesenszwange zu geruhiger, stiller Sammlung gefangengenommen und war trotz aller Hänseleien Reinhards nicht davon abzubringen, der, vielfältiger als Damian veranlagt, alle Arbeiten mit leichtem, schnellem Zuschnappen packte und spielend beendete, während dieser in langsamer Besonnenheit alles Erlernte zu unverlierbarer Innigkeit vertiefte und so seinen quirlend jähen Freund mit gehaltener Sanftmut und sinniger Heiterkeit oft in die Gewalt bekam.

Diese, den Gerberjungen von innen her regierende Art war auch der Grund, daß der Lehrer Miecke ihn noch im Auge behielt, nachdem durch den Schuleintritt Damians der Nachhilfeunterricht in Wegfall gekommen war. Trotzdem, ja gerade deswegen fand sich der Lehrer wie ganz zufällig im Maechlerhaus ein, saß mit der Frau Christel plaudernd auf der Bank und stieg auch dann und wann in Damians Mansardenklause hinauf, um, wie er lächelnd sagte, sich davon zu überzeugen, in welcher Weise der kleine Gelehrte sein Studio eingerichtet habe. Damian war von jedem Besuche Mieckes hoch erfreut, den er als Lehrer verehrte, ja, wie einen älteren Freund liebte, und dem er bald ohne Scheu seine Schulsorgen und alle Zweifel anvertraute, die durch den Unterricht in ihm geweckt worden waren. Dann artete der Besuch Mieckes oft in eine richtige Lehrstunde aus, die, mochte sie noch solange gedauert haben, Damian selten ganz zufrieden zurückließ. In dem Jungen rumorte ein Wissensdurst und eine geistige Sucht, die ihn oft richtig traurig machte, weil sie durch den Schulunterricht nicht befriedigt werden konnte. Traf der Lehrer beim Weggange auf einen Augenblick mit Christel zusammen, dann schüttelte er verwundert und bekümmert zugleich über Damian als einen der merkwürdigsten Jungen, die ihm je vorgekommen waren, den Kopf. Und einmal sagte er der Gerbersfrau geradeheraus seine Meinung, daß es so mit dem Jungen nicht weiterginge. Auf der Schule werde er nicht viertelssatt, und überließe man ihn so ungeführt seinem ruhelosen Ungenügen, bestünde die Gefahr, daß er sich in sich selbst verfinge und zu einem nutzlosen Grübler, komischen Kauz oder unnützen Phantasten würde. Denn man habe ja Beispiele genug, sogar in allernächster Nähe hier in Wilkau, daß gerade tiefe, ungewöhnliche Menschen deswegen in ein verrammeltes Leben geraten, weil man sie nicht zur rechten Zeit in eine gehörige geistige Zucht und Pflege genommen habe. Nur mit weichen Federn lerne der Vogel das Fliegen. Seien die Kiele hart geworden, so sei es für immer verpfuscht.

Auf diese Art redete Lehrer Miecke mit Frau Christel an der Gartenpforte, und die Maechlerin spürte gar wohl, welchen Mann der achtsame Schulmann meinte, der aus Mangel an der rechten Bildungsleitung zu einem seltsamen Dämmerungsfahrer geworden war.

»Jaja, Jochen, vielleicht hat der Lehrer nicht so unrecht«, murmelte Frau Christel gedankenvoll, während sie Miecke zögernd davongehen sah. Aber im nächsten Nu hatte sie sich auch schon resolut gefaßt, rief entschlossen den Lehrer zurück, sah sichernd in das Gärtlein und auf das Haus und sagte dann unter lächelndem Zwinkern: »Sie wissen ja, an welchem Seile die Geschichte hängt. Von mir aus geb' ich, Ihnen vollkommen recht und bitte Sie, alles mit Damian zu tun, was notwendig ist. Damit Gott befohlen und herzlichen Dank, lieber Herr Miecke.«

Nun nahm der Lebensweg des Gerberjungen eine entschiedene Wendung. Der Lehrer kam noch einigemal zu ihm auf Besuch in die Mansardenstube und blieb dann ganz aus. Äußerlich war Reinhard Neefe daran schuld. Schon einigemal war er während des Zusammenseins des Lehrers mit Damian in die Mansardenstube geprellt und hatte sich nach einer Zurechtweisung Mieckes ärgerlich und geduckt davongemacht. An einem Tage aber polterte er herein, hörte sich den Tadel des Lehrers mit höhnischem Gesicht an, fand es nicht nötig, sich zu entschuldigen, senkte nur den Kopf und murmelte trocken: »Soso.« Dann machte er kehrt und schlug die Tür hinter sich zu. Zornig sprang der Lehrer auf und rief ihn zurück. Aber Neefe, in dem der Rüpel aufgesprungen war, achtete auf den Zuruf Mieckes nicht, lachte grölend auf und stob über die Treppe hinunter aus dem Hause.

Dieser Zusammenprall war der äußere Anlaß, weswegen Damian nun alle Tage mit seinen Schularbeiten in die Junggesellenwohnung Mieckes wanderte und das mit Hilfe seiner Mutter so geschickt bewerkstelligte, daß der Vater kein Unheil wittern konnte, wenigstens einige Wochen nicht. Als ihm aber doch trotz des Trubels seines ausgebreiteten Häutehandels das tägliche Lernwandern Damians auffiel, beruhigte ihn das Christel leicht mit dem Hinweis, daß das rüpelige hinterhältig-wilde Wesen Reinhards eine zeitweilige Absonderung Damians notwendig mache und schon manche Ungleichheiten in der Art ihres Jungen ausgeglichen und geglättet werden müßten. Der Meister Jochen hörte sich die Erklärung seines Weibes gedankenvoll an, nickte zustimmend und sagte: »Jaja, ganz recht. Das vermaledeite Neefeblut treibt's halt in dem Jungen weiter, und Damian ist doch zu schade dazu.«

Seit dem Tage hatte es der Maechlerjunge nicht mehr nötig, seine Hefte und Bücher unter die Jacke zu stecken, wenn er zu dem Lehrer Miecke schlich. Jetzt konnte er sich offen und frei aus dem Hause in die Stunde trällern und sogar vor dem Vater, dann und wann, von dem Schönen schwärmen, zu dem er von dem Lehrer hingeführt worden war. Seine Mutter sah es mit heimlicher Beglückung, wie in ihrem Jungen eigentlich erst jetzt die Krankheit überwunden wurde und sich ein helleres Lebenslicht in ihm entzündete, vor allem in dem vertieften Schimmer seiner großen blauen Augen.

Nach kurzem hatte es der Lehrer heraus, daß der merkwürdige Junge von einer leidenschaftlichen Sucht, nein, Liebe zur lateinischen Sprache besessen war, die er sich nicht erklären konnte, weder aus seiner Umgebung noch von seinen Vorfahren her. Durch jedes neue lateinische Wort wurde Damian in eine solche Beglückung versetzt, daß er dessen Rhythmus und Lautgebung wie eine kostbare Frucht genießerisch mit dem Munde schmeckte und seinen Klang mit den Ohren trank.

Nach einigen spielerischen Vorübungen schritt Miecke zur wirklichen Arbeit an der neuen Sprache und geriet in immer wachsendes Staunen über die leichte Auffassungsgabe und das treue Gedächtnis Damians. So kam der Lehrer zu der Überzeugung, daß es ein Verbrechen an dem Jungen wäre, ihn mit seinen glänzenden Anlagen nur dem Volksschulunterricht und damit der halben Erstickung auszuliefern, und er begann, Damian systematisch auf das Gymnasium vorzubereiten. Vorerst sagte er nichts von diesem Vorhaben, weder dem Schüler, noch den Eltern, noch den andern Lehrern, noch irgendeinem Wilkauer.

Aber so geht es nun immer im Leben der Menschen. Das ganz Geheime und Verborgene bohrt sich schneller und tiefer durch die Leute als eine laute Ankündigung. Genug, nach einiger Zeit tuschelte es sich in Wilkau herum, mit dem Maechlerjungen solle es höher hinausgehen. Vielleicht rührte das gerade von Reinhard Neefe her, den die Bevorzugung Damians durch den Lehrer Miecke erst erbittert hatte und der dann seiner leidenschaftlichen Natur nach in einen unüberwindlichen fressenden Neid getrieben wurde, als ihm die Erkenntnis aufging, Damian werde mit Absicht von ihm ferngehalten. So gerieten die beiden Jungen zueinander in ein gespanntes Verhältnis, und Reinhard Neefe ließ keine Gelegenheit vorübergehen, seinen Freund zu hänseln, ja lächerlich zu machen und sogar wegen Überhebung und Prahlerei zu verhöhnen, wenn der arglose Damian in seiner Freude dies und das aus seiner Stunde bei dem Lehrer Miecke ausplauderte. Dazu kam, daß das ruhige, stille, in sich gekehrte Wesen Damians ihn von allen anderen Knaben fernhielt und in den Ruf der Liebedienerei und Streberei brachte. Als gar Damian von Reinhard durch den Lehrer getrennt und an den ersten Platz der Klasse gesetzt wurde, vertiefte sich die Gegensätzlichkeit der beiden zum richtigen Rangstreit, woran indes der Gerberjunge durchaus nicht schuld war. Er nahm die Auszeichnung in Dankbarkeit, ja Betretenheit hin und ging einfach seine abseitigen Wege weiter, während Reinhard hinter ihm herschmälte, was sich denn so ein Schaber und Häutewender eigentlich einbilde. Zur ausgesprochenen Feindseligkeit aber ließ es der Sohn des pensionierten Grubeninspektors nicht kommen, sondern zeigte, wo es nur ging, das Gesicht der Freundschaft und ungebrochenen Zusammengehörigkeit. Freilich hinter dem Rücken lästerte er weiter hämisch an ihm herum, und gar zu Hause, vor Vater und Mutter, kochte seine Erbitterung oft wild und ungezügelt über. Die sanfte Agnete bemühte sich redlich, den Zorn des Erbosten zu begütigen. Sein Vater aber, der alte Neefe, hockte während der Ausbrüche seines Jungen auf einem abseitigen Stuhle, den rechten Arm über die Lehne gehängt, um seine eingeschlagene Körperseite zu stützen, und von Mal zu Mal wurden seine Augen größer, leuchtender und drohender beim Anhören der Empörung Reinhards über seine Zurücksetzung und Erniedrigung, die er in der Schule erfahren mußte. Hatten zuletzt die sanften Vorwürfe und Ermahnungen der guten Agnete das ihrige getan, daß der erbitterte Junge beschämt und ernüchtert dasaß, sann der Alte vor sich hin, nickte verstehend mit dem Kopfe, erhob sich dann und strich beim Hinausgehen liebkosend über den gesenkten Scheitel Reinhards. Wenn der alte Neefe auch aus Klugheit es so einzurichten wußte, daß er dieses heimliche Lob hinter dem Rücken Agnetes spendete, der Junge sog es als Ermunterung in sich, und die häuslichen Ausbrüche seiner Unzufriedenheit mit der Schule nahmen an Leidenschaftlichkeit und Zahl zu, daß die Mutter ratlos und richtig bekümmert wurde.

Eines Tages nun, das Jahr war schon tief in den Oktober gerückt, hatte sich das Schulgerede um den Maechlerjungen so geklärt, daß an seinem Marsch auf das Gymnasium zu nicht mehr zu zweifeln war, und Reinhard Neefe kochte, noch ehe er den Schulranzen vom Rücken streifte, seinen Eltern diese Neuigkeit vor. Der alte Neefe stand diesmal am Fenster und gab sich den Anschein, als höre er nicht auf den Wortschwall seines Jungen, sondern achte nur auf das Leben drunten auf der Straße. Sowie aber Reinhard in bitterlichem Hohn von der ausgemachten Tatsache sprach, daß der Gerberjunge in die Rehberger Hohe Schule dränge, riß der Alte erregt das Fenster auf, brüllte einen unflätigen Wutruf auf die Gasse hinunter, als sei da irgend etwas Ungehöriges geschehen, wendete sich umständlich nach dem Zimmer um, musterte sein erschrecktes Weib und den betroffenen Jungen blassen Gesichts und sagte dann nach einem Kopfwenden auf die Gasse zu:

»Jaja, natürlich! Das hätt' ich mir denken können von dem Aas! Erst hat er mir den Leib von der einen Seite eingeschlagen, nun holt er aus, mich auf der anderen Seite kaputt zu machen. – Täusch dich nicht, Hundchen! Meine Halde ist noch nicht abgeräumt.«

Das sprach er leise, als sei er am Ersticken, ging vorsichtig über die Stube, schloß geräuschlos die Tür hinter sich, stieg ebenso die Treppe hinunter und verließ das Haus. Denn er sah in der Angelegenheit der heimlich betriebenen Vorbereitung Damians auf das Gymnasium nichts als die ausgeklügelte Böswilligkeit des Gerbermeisters, ihn und seine Familie vor ganze Wilkau im Wert herunterzusetzen. Das durfte und durfte nicht geschehen. Unter Aufbietung aller Verbindungen gelang es ihm vorerst, von dem Grafen Schilling die Zusage einer beträchtlichen Unterstützung zum Studium seines Sohnes zu erlangen. Dann rückte er den Kirchenrendanten Greff für sein anderes Ziel zurecht, einen Lateinlehrer Reinhards zu gewinnen. Der hasenborstige Greff war in kurzem und leicht ergattert und versprach Neefe, den neuen Pfarrer, Herrn Pensel, für seinen Reinhard, das helle, wendige Kerlchen, zu interessieren. Und wenn zur rechten Zeit Neefes Frau, Agnete, die ja doch als Schwester des verstorbenen hochwürdigen Herrn Kelvel sozusagen mit dem Pfarrhof verwandt sei, in echt christlicher Demut Herrn Pensel anliege, so werde es sicher zu erreichen sein, daß entweder der Pfarrer selbst oder der Kaplan die Vorbereitung Reinhards für das Gymnasium übernehme.

Neefe eilte sofort nach Hause, riß triumphierend die Stubentür auf, warf seinen Hut im Schwung irgendwohin und rief mit lachendem Ausatmen: »So, gemacht!«

Dann rüttelte er den verblüfften Reinhard zu frischem Aufwachen.

»Kopf hoch, Junge, nun geht's los! Was ein Gerber macht, kann ein Inspektor schon lange.«

Seiner Agnete erstattete er nach dem Zubettgehen ausführlichen Bericht über alles und gab ihr bis ins kleinste Anweisungen über das, was sie nun zu tun habe, um das Heraufkommen Reinhards zu erreichen. Die liebe Seele wagte nicht im mindesten zu widersprechen, sondern sagte zu allem ja und amen. Für sich aber geriet sie wegen der neu aufflammenden Feindschaft der Familien in solche Dunkelheiten des Gemütes, daß sie sich geräuschlos gegen die Wand kehrte und leise in sich hineinweinte.

*

Bei Damian Maechler, dem Gerberjungen, war es mit der Wanderung auf das Gymnasium etwas anderes als bei Reinhard Neefe, der in der Person des Kaplans Heusler zu seinem Vorbereitungslehrer kam. Keine Scheelsucht, kein Gift, nichts dunkel Vergrabenes, nichts von hämischer Ehrsucht; nur eine lichtvolle Beseligung des Knaben über die immer neuen Wunder, in die er durch seinen Lehrer Miecke geführt wurde, der kaum die Nähe des Ostertermins erwarten konnte, an dem er seinen Schüler zur Aufnahmeprüfung nach Rehberg geleiten konnte, die mit dem glücklichen Erfolg des Reifebefundes für die Quarta endete. Beschämt nahm Damian die Verkündigung des Urteils auf. Draußen auf dem Flur der Anstalt aber fiel er im Rausch des Glückes seinem Lehrer Miecke an die Brust, und auf der Heimfahrt in der elektrischen Straßenbahn stahl sich die Hand des Knaben immer wieder in die Hand seines Lehrers.

Frau Maechler drehte lachend ihren Jungen um und um, als sei ihr das Kind entrückt und reicher wiedergeschenkt worden. Zuletzt schob sie ihn von sich, musterte ihn mit großen Augen von Kopf bis zu den Füßen, als erblicke sie ihn zum erstenmal, und nahm dann feierlich mit beiden Händen seine beiden Hände.

»So, mein lieber Damian«, sagte sie mit seelentiefer Stimme, »nun stehst du auf deinem Wege. Er wird nicht immer leicht sein. Aber sollte es einmal besonders schwer gehen, so greif auf deine linke Herzensseite. Da steht unverrückt deine Mutter.«

Mit einem Kuß besiegelte sie die Worte, richtete sich dann entschieden auf und sagte: »Nun wollen wir sehen, wo der Vater steckt.«

Sie fanden ihn in der Mansardenstube, am Arbeitstisch Damians sitzen, den Kopf auf eine Hand gestützt und auf die Tischplatte stierend. Er regte sich nicht, als die beiden eintraten. Selbst da Christine ihn an der Schulter rüttelte und beglückt sprach, als müsse sie einen Schlafenden aufwecken: »Jochen, du, Jochen, da bringe ich dir den neugebackenen Studenten!«, nickte er erst nur mit dem Kopfe, ohne seine Haltung zu verändern. Dann erhob er sich schwer, ergriff die Hand des Jungen, fuhr streichelnd an seiner Wange nieder und sagte mit einem erzwungenen Freudelächeln:

»Nun – nun – lieber, lieber Damian, da ist ja alles gut – da ist – ja alles geglückt.« Eigentlich wollte er sagen: da ist euch ja alles geglückt, verschluckte aber das »euch«, um seine beiden lieben Menschen zu schonen und sich selber zu bewahren. Aber als er die Ratlosigkeit und Enttäuschung auf dem Gesicht der beiden gewahrte, die auf einen beglückten Ausbruch seiner Freude warteten, schüttelte er müde den Kopf.

»Verzeiht mir, ich kann nicht dafür. Ich habe einen wahnsinnigen Schmerz über der Stirn. Laßt mir noch Zeit. Ich glaube, es wird bald vorüber sein.«

Und als Christine stracks nach der Türklinke griff, um nach einem Mittel hinunterzueilen, hielt er sie energisch zurück und sagte frei auflachend:

»Ach wo, Christel, nichts mach' ich. Geht hinunter, lacht und springt und laßt mich alten Knaster noch ein wenig hier sitzen. Ich komme bald nach.«

Damit schob er die beiden launig hinaus und riegelte die Tür ab.

Nun war die Entscheidung endgültig gefallen, sein Junge für immer von den Gerbertonnen fortgewendet, alle schwache Hoffnung erloschen, an der er in diesem Jahr trotz allem noch nicht ganz verzweifelt war.

Wie betäubt saß er bis zur einbrechenden Dämmerung. Da sah er beim Aufblicken in dem Baum vor dem kleinen Fenster eine Amsel, die eben mit glücklichem Flügelschwung von dem Zweig abstrich und laut aufjubelnd in das abendrote Licht stürzte. In einem gewalttätigen Ruck sprang er vom Stuhle auf und eilte die Treppe hinunter zu Frau und Sohn, die bekümmert am Tisch der Wohnküche saßen.

Er riß die Tür auf und rief strahlenden Gesichts:

»So, Kinder, nun ist's vorüber! Und nun wollen wir ein Freudenfest feiern, und das nicht zu knapp. Los, Christel, tisch auf und bring alles, was du hast!«

Dann holte er schwingenden Schrittes, als sei er selber eine Amsel, den kleinen Schlüssel vom Brett, stieg in den Keller, griff aus dem winzigen Weinvorrat zwei Flaschen und stellte sie, über die bestürzte Christel lachend, zwischen das Geschirr mitten auf den Tisch.

»Das wär' noch schöner, liebes Weib, wenn wir uns nicht über den lieben Jungen freuen sollten!«

Damian, der einen solchen Ausbruch an seinem Vater noch nie erlebt hatte, wußte in Beklemmung nicht, wohin er schauen sollte, und saß blaß und bedrückt auf seinem Stuhle. Dem Meister kam bei diesem Anblick ein kurzes, ratloses Stutzen. Aber da hatte er es schon, was zu tun sei, riß den erschreckten Damian herauf an seine Brust und küßte ihn laut schmatzend ein paarmal irgendwohin in sein Gesicht. Dabei sprach er wie aus vollkauendem Munde:

»Das hast du schön gemacht ... schön ... Teufelskerl ... lieber ... lieber Junge«, daß Christine am Ofen herumfuhr und einen leisen Schrei ausstieß. Da ließ Jochen Maechler seinen Sohn wie einen Gegenstand aus den Armen fallen, sank auf seinen Stuhl und saß wie in großer Ermüdung eine Weile ganz still. Als Christine das fertige Essen auf den Tisch trug, erwachte er wie auf einen Stoß und hetzte sich in neue Lustigkeit, daß ihr Schauer um Schauer über den Rücken liefen. Es nützte nichts, daß sie ihn um Mäßigung bat. Sein Wagen sauste über den Berg hinunter. Er trank schnell Glas um Glas, stieß immer wieder auf Glück und Gedeihen mit beiden an und erzählte krause Geschichten aus seiner Kindheit, Lehrlings- und Gesellenzeit.

Plötzlich fielen ihm die Hände vom Tisch. Sein Körper rutschte zusammen, und er schlief ein.

Schon nach ein paar Atemzügen breitete sich über sein ganzes Gesicht ein tiefer Gram, fast ein Grauen.

Christine machte Damian ein Zeichen, und nach einem lautlosen Kuß ging der arme Sieger schlafen.

Die folgenden Tage hatten das Licht einer Sonne, die hinter dichten Wolken auf- und niederging, nie in Verfinsterung sich ganz verlor, nie aber auch ganz durchzudringen vermochte, obwohl sich Jochen Maechler alle Mühe gab, der lastenden Bedrückung über den endgültigen Fehlschlag seines Daseins Herr zu werden, daß sein einziger Erbe in eine ganz andere Gegend des Lebens wanderte, anstatt als ehrsamer Handwerker zwischen den familienheiligen Lohtonnen zu wurzeln. Die Bezwingung der Schatten, die aus seinem Innern aufstiegen, gelang ihm nicht. Nach zweiwöchigem Kampf geriet der Gerber, dessen eigentliches Wesen von der Kindheit her in einer unterbewußten Unräumlichkeit zu Hause war, in eine vollkommene Ratlosigkeit, dergestalt, daß er eines Tages unauffällig sich aus seinem Haus davonmachte, und das in einer Stimmung, vielleicht nie wieder zurückzukehren. Er lief in dem aufquellenden Frühling auf die Felder, umging die Grandorfer und Trennsdorfer Teiche, ruhte in Strauchhaufen, sann und bohrte über die stillen, himmelssüchtigen Wasserspiegel hin, streifte durch die Wälder unter dem Ägster, witterte mit spürsüchtigen Blicken um die Ruine der alten Burg und geriet über Keilhau hinaus in die Gegend, wo das Riesengebirge energisch zum Steilauftrieb nach dem Kamm in der Gegend der Peterbaude ansetzt. Unverdrossen, aber wie traumumnebelt stieg er unwissend denselben, nun winterverwüsteten Weg bergan, auf dem einst sein Vater vor langen Jahrzehnten vor der wilden Paula Großmann hinunter in den Wilkauer Kessel geflüchtet war. Jochen wußte von all dem nichts. Aber wie das kleine Bergwasser, das eine Zeitlang nahe an seinem Weg zu Tal gestrudelt war, immer tiefer und tiefer drunten zurückblieb und sein Laut nur wie das leise Sausen seines eigenen Blutes in den Ohren klang, spürte Maechler, wie eine unsichtbare Wand sich vor ihm aufrichtete. Eine plötzliche Übermüdung überfiel ihn. Seine Beine wollten keinen Schritt mehr hergeben, und sein Herz wurde von einer solch unbegreiflichen Beklemmung gepackt, daß es ihm geradezu den Atem versetzte. Da sah der Gerber zuletzt ein, daß es ihn nicht weiterließ, und er machte kehrt. Irgend etwas war hinter ihm. Und je weiter er auf dem Wege hinunterkam, desto stärker wurde das geheimnisvolle Drücken hinter ihm, obwohl er beim Umwenden nichts und niemand gewahrte. Deswegen überließ er sich endlich widerstandslos diesem unbegreiflichen Getriebenwerden und geriet zuletzt in eine richtige Jagd, mit Sprüngen über Steine und Anschläge.

Atemlos kam er aus dem Walde auf einer Wiese an und war so erschöpft, daß er mitten in das junge Gras taumelte und sich dann zu Boden sinken ließ. Er fühlte sich so abgeschlagen, daß er den Körper wohlig wie zum Schlafe ausstreckte. Im Hinschummern trieb ihn plötzlich ein solcher Schreck auf, daß es ihm den Oberkörper emporschnellte, und da er mit befangenen Augen umhervigilierte, erst in der nächsten Umgebung, dann in der weiten Wiesenmulde, in die er niedergesunken war, um die Störung zu entdecken, von der er jäh aus dem Hinschummern aufgerissen worden war, konnte er erst nichts Verdächtiges entdecken, ließ aber in seinem Augenspüren, zu dem er immer banger gedrängt wurde, nicht nach, bis seine Blicke über eine ferne Wipfelwand hinauf gegen den Himmel wanderten. Da ging mit seinem Gesicht eine Verwandlung vor. Hinter oder aus dem Walde stieg langsam ein Graues herauf, das anfangs wie eine Wolke aussah. Im Höherkommen aber formte es sich zu einer so unheimlichen Gestalt, daß ihm, genau wie in der Kindheit, vor Schrecken das Blut gefror. Es war die Drude, das unheimliche Gespenst des Maechlerhauses, das die früheren Jahre seines Lebens so oft erschüttert und ins Finstere gestoßen hatte.

Vor Erschütterung schwanden ihm fast die Sinne, und er mußte sich im Grase krallend festhalten, um nicht von der Erde in den Weltabgrund hinauszufallen.

Als er wieder zu sich kam, war die Drude verschwunden und der Himmel über den Wipfeln vollkommen klar. Jochen Maechler aber wußte nun, daß sein Schicksal sich wirklich endgültig entschieden hatte. Sein Christel und Damian waren ihm für immer entrückt in ein Leben, das sich im Chaos verlor, statt im Sicheren sich werkhaft auszublühen, und ihm blieb für sein ganzes Dasein nur das eine übrig, für die Zeit ihrer unabweichlichen Not als getreuer Hauswalter zu sorgen und zu sparen.

Auf dem Kamm fanden um dieselbe Stunde herum Leute ein uraltes, ganz heruntergekommenes Weib, das, im leidenschaftlichen Wandern aus dem Böhmischen über die Grenze vom Tode gepackt worden war, der sie mit einem Schlage niedergeworfen hatte.

Jochen Maechler war in sein unabwendbares Verhängnis erlöst. Er erhob sich an derselben Stelle, an der er niedergesunken war, reinigte sorgfältig seine Kleider von dürren Halmen, Baumnadeln und Erde. Der Abend begann schon aus den Wipfeln zu rauchen. Deswegen machte er sich auf den Heimweg und kam im ersten Nachtwabern im Maechlerhause auf der Feldgasse an.

Seine besorgte Frau beruhigte er mit der alten Ausrede, von einem ärgerlichen Geschäft so ungebührlich lange abgehalten worden zu sein. Seinem verfallenen Gesicht und den müden, leeren Augen nach sprach er für das Christel die Wahrheit.


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