Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

So durch den Geist Nathanaels in seinem Wollen bestätigt und sogar noch darüber hinausgeführt, trug es Damian beschwingt durch den nächsten Tag und in die Gründungsversammlung im »Braunen Adler«.

Der Saal war wieder bis zum Brechen voll, aber diesmal hatte sich neben den Arbeitern auch das Bürgertum in weitaus größerem Umfang eingefunden. Als Damian die Versammlung eröffnete und sogleich das Wort zu seiner großen Rede ergriff, herrschte atemlose Stille, und kein Zwischenruf fuhr ihm störend in seine aus dem Stegreif vorgetragenen Gedanken. Gegen das Ende seiner Ansprache ging Damian dazu über, die Grundsätze zu erläutern, nach denen seiner Meinung nach bei der Bildung des Volksrats verfahren werden müsse. Es handele sich hier nicht um ein Parlament, um die Vertretung der verschiedenen Parteien und ihrer Interessen, sondern ausschließlich darum, daß Männer berufen würden, die auf Grund ihres Berufes oder ihres Gewerbes und ihrer genauen Kenntnis der örtlichen Verhältnisse in der Lage wären, sofort durch praktische Maßnahmen an die Beseitigung der obwaltenden Mißstände heranzugehen, und zwar so, daß jedermann in Wilkau überzeugt sein könne, es werde für das Gemeinwohl gearbeitet. Mit Sonderinteressen könne und dürfe sich der Volksrat nicht befassen. Die Gemeinde habe sich im übrigen bereit erklärt, für Unkosten, die dem Volksrat aus seiner Tätigkeit erwachsen würden, aufzukommen, doch sähe er es als seine Pflicht an, diese Unkosten in den bescheidensten Grenzen zu halten.

An dieser Stelle bekundete die Versammlung zum ersten Male durch ein allgemeines Beifallsmurmeln ihre lebhafte Zustimmung.

In diesem Sinne, so fuhr Damian fort, schlage er im Einvernehmen mit den Gewerkschafts- und Parteiorganisationen und bereits im Besitz der Zusagen der von ihm ins Auge gefaßten Persönlichkeiten sechs Männer vor, über deren Wahl zu ständigen, und zwar ehrenamtlichen Vertretern sich die Versammlung nunmehr schlüssig werden möge. Die absolute Mehrheit solle entscheiden. Der Einfachheit halber bitte er diejenigen, die sich bei der folgenden Verlesung jeweils mit dem einen oder anderen Namen nicht einverstanden erklären könnten, sich von ihren Plätzen zu erheben.

Dank seiner umsichtigen Vorverhandlungen und der psychologischen Überlegung, daß im allgemeinen niemand gern öffentlich gegen eine offensichtliche Mehrheit auftritt, glückte es Damian daraufhin, ohne Widerspruch zu ernten, seine sechs Kandidaten, sich inbegriffen, einen nach dem anderen als einstimmig gewählt erklären zu können.

Und schon war er dabei, vom Rednerpult abzutreten und den Gewählten, die sämtlich anwesend waren, im Namen der Versammlung für ihre Bereitwilligkeit zur Übernahme dieses Ehrenamtes zu danken, als im Saale von einer bestimmten Ecke ausgehend eine merkliche Unruhe entstand, die er sich nicht erklären konnte. Nach einigem scheinbaren Sträuben erhob sich, als er in die Versammlung hinein fragte, ob jemand noch irgendeinen wichtigen Vorschlag zu machen habe, aus einer Gruppe weiblicher Teilnehmer ein junges, ihm zuerst gänzlich unbekannt erscheinendes Wesen. Indem sie sich weniger an Damian als an die Versammlung wandte, warf sie ohne eine Spur von Befangenheit mit klarer Stimme die Frage auf, wer denn unter den gewählten Volksratsmitgliedern gewillt und dazu geeignet sei, sich für die schließlich stimmenmäßig die gute Hälfte der Einwohnerschaft Wilkaus ausmachende Zahl der ja im neuen Staat gleich- und wahlberechtigten Frauen einzusetzen und ihre wahrhaftig in diesen Zeiten nicht gerade rosige Lage, sei es als Arbeiterin, Haus- oder Geschäftsfrau, verständnisvoll zu berücksichtigen.

Das junge, blonde, vollschlanke und gut gekleidete Wesen machte sofort solchen Eindruck auf sämtliche weitaus in der Überzahl im Saale befindlichen Männer, daß sie ihr teils stürmisch zuklatschten, teils in einer Weise zulachten, die einer ausgesprochenen Anerkennung ihres so mutig-selbstbewußten Auftretens gleichkam.

Auch auf Damian verfehlte das Auftreten und die Erscheinung der jungen Frau nicht die von ihr beabsichtigte Wirkung. Er ließ sich daher zu einer höflichen Erwiderung herbei, die in die Gegenfrage auslief, ob sie bei ihrem Vorstoß denn eine bestimmte Absicht im Auge gehabt habe.

»Ja«, erwiderte sie rasch und freimütig, »ich meine, daß in den Volksrat auch eine Frau als Vertreterin unseres Geschlechts hineingehört und daß darüber zumindestens einmal abgestimmt werden müßte.«

Damian konnte sich zwar ein Lächeln über die Resolutheit dieser keineswegs unsympathisch wirkenden Person nicht verkneifen, überdachte dabei aber blitzschnell und ernsthaft die neue Situation, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte. Vielleicht war es wirklich ein Fehler, wenn man keine Frau in den Volksrat aufnahm? Es wäre gewiß kein Schade, auf diese Art von vornherein dem weiblichen Element in Wilkau das Gefühl zu geben, daß es nicht übergangen wurde, und es würde auch tatsächlich einer im Zuge der Zeit liegenden Tendenz entsprechen, der er selbst in gewissen Grenzen recht geben mußte. Warum er nur nicht schon von selbst rechtzeitig daran gedacht hatte! Jetzt würde es kaum sogleich möglich sein, der Versammlung die richtige Person vorzuschlagen. Oder sollte man einfach diesem blonden Wesen da einen Sitz im Volksrat antragen und darüber abstimmen lassen? Aber er kannte sie doch überhaupt nicht!

An diesem Punkt seiner hastigen Überlegung angekommen, wandte sich Damian kurz entschlossen den noch um ihn herumstehenden eben gewählten Volksratskollegen zu, um in Erfahrung zu bringen, mit wem man es eigentlich in dieser hübschen Person zu tun habe, die so entschlossen für ihr Geschlecht eintrat. Aber er konnte nur noch mit halbem Ohr heraushören, daß sie eine tüchtige Schneidermeisterin sei, da es im Saal von neuem lebendig wurde und sich immer mehr Stimmen vernehmen ließen, die ihm zuriefen: »Wir stimmen für diese dort!«, und andere: »Wir wählen Selma Mosig!«, bis es schließlich klar war, daß die Stimmung der Männer im Saale ziemlich einhellig die Wahl dieser Frau forderte.

Damian glaubte sich verhört zu haben, als ihm der Name Mosig entgegenschlug, aber nun erkannte er sie wieder, tatsächlich, es war Selma Mosig, die er als Vierzehnjährige bei einer schon mehr als verfänglichen Situation mit seinem Freunde Neefe betroffen hatte. Gleichviel, das lag heute mehrere Jahre zurück, schoß es ihm durch den Kopf, und war schließlich eine Jugendverirrung. Seine Entscheidung durfte, ja konnte er angesichts der Stimmung im Saale nicht davon beeinflussen lassen.

In dieser Erkenntnis schlug Damian jetzt ohne weiteres Zögern der Versammlung den Namen Selma Mosigs zur formalen Beschlußfassung vor, und wieder ergab sich infolge der Scheu einer zweifellos vorhandenen, aber geringen Minderheit zur öffentlichen Ablehnung der Favoritin die einmütige Annahme seines Antrags.

Damit war die eigentliche Wahl glücklich beendet, und Damian, dem rein durch die von ihm ausgegangene Initiative zur Gründung des Volksrates dessen Leitung zugefallen war, ohne daß es darüber überhaupt noch einer Klärung bedurft hätte, konnte sich, indem er von neuem das Wort ergriff, der Darlegung seiner Organisation zuwenden, über die er sich schon in den letzten Tagen klargeworden war. Diese gipfelte in der Erklärung, daß er vorbehaltlich der Zustimmung seiner Mitarbeiter dafür sei, die anfallenden Aufgaben in Dezernate aufzuteilen, und zwar in der Weise, daß jedes Volksratsmitglied das ihm gemäße Gebiet übernehme.

Nachdem er sich noch im einzelnen darüber ausgelassen hatte, welche Dezernate ihm vorschwebten, richtete er angesichts der Versammlung an jeden seiner neuen Mitarbeiter die freilich schon in den Vorverhandlungen abgesprochene Bitte, ein bestimmtes Aufgabengebiet zu übernehmen, und verkündete alsdann die Bildung des Volksrats in folgender Zusammensetzung für vollzogen: Vorsitzender und Dezernent für allgemeine Fragen: Damian Maechler. Stellvertretender Vorsitzender und Schriftführer: Buchhändler Siebel. Kohlendezernent: Kohlenhändler Jakob Prause. Lebensmitteldezernent: Kolonialwarenhändler Julius Lemke. Arbeitnehmerdezernent: Werkmeister Josef Melchers. Arbeitgeberdezernent: Hauptmann a. D. Gutsbesitzer und Fabrikteilhaber Richard Anderseck. Dezernent für Frauenfragen: Schneidermeisterin Selma Mosig.

An diese Vorstellung der neugebildeten Körperschaft, deren erste Sitzung er gleich auf den kommenden Montag in das Vereinszimmer des »Braunen Adler« anberaumte, knüpfte Damian zunächst noch die Mitteilung, daß er jederzeit namens des Volksrates zur Entgegennahme vom Wünschen und Beschwerden aus der Bevölkerung bereit sei, zu welchem Zweck er einen Briefkasten im Flur des Gemeindehauses anbringen lassen werde, eine Mitteilung, die mit lang anhaltendem Beifall aufgenommen wurde. Endlich konnte Damian fortfahren:

»Liebe Männer und Frauen, Menschenkameraden! Ehe ich nunmehr diese denkwürdige Gründungsversammlung für geschlossen erkläre, möchte ich euch allen meinen besonderen Dank für das uns entgegengebrachte Vertrauen dadurch abstatten, daß ich mich euch gegenüber klar und unmißverständlich zu der Auffassung bekenne, die ich von unserer Zeit und unserem neuen Staat hege, und von der ich zuversichtlich hoffe, daß sie, ganz gleich an welcher Stelle jeder von euch politisch stehen mag, in euren Herzen widerhallen und aus diesem Saale in alle Häuser Wilkaus hinausdringen wird. Es ist meine tiefe Überzeugung, daß allein durch eine solche idealistische Auffassung und Aufgeschlossenheit des Herzens unser ganzes Volk aus dem Unglück, in das es geraten ist, den Weg in eine glückliche Zukunft finden kann.

Wir werden in den Staat geboren, leben und sterben im Staatsschiff, und wenn wir Freiheit, Kameradschaft und andere hohe Volkselemente als Äußerungen der Volkswesenheit nicht im Staate finden können, so sind sie eben einfach nicht vorhanden. Was nutzt es da, den Staat zu zertrümmern? Dadurch entstehen sie sowenig, wie ein leerer Topf sich mit Milch füllt, wenn ich ihn zerschlage. Nein, an uns liegt es, die grundlegenden Ideen der Volksgemeinschaft zur Wesens- und Lebenswirklichkeit in uns selbst zu machen, dann wird mit eins als Nebenwirkung dieser unserer inneren Revolution der Staat unserer Sehnsucht vorhanden sein, nicht mehr als ein Leiden aller, an dem doch keiner sich als mitverantwortlich und schuldig fühlt, sondern als ein Glück aller, das durch die Selbstverantwortlichkeit jedes einzelnen zur Pflicht der Wahrheit und Treue immer mehr befestigt und höher getragen wird.

Liebe Freunde, Kameraden! Der deutsche Mensch war es müde, nur ein Untertan, eine Art Knecht, das zu sein, was uns ein Ziegel in einem Hause ist. Ihr wollt Gleichheit! Gut, so begebt euch rüstigen Fußes von dieser Stunde an auf den einzigen Weg, der zu ihr hinführt, auf den Weg wahrer Kameradschaft in allem Guten, in aller Werktätigkeit ehrenhafter Gesinnung, daß Freiheit nicht Zügellosigkeit, Streben ohne Ehrsucht und Mißgunst, Menschengüte ohne Berechnung sei. Je besser uns das gelingt, desto näher werden wir der Gleichheit in diesem Ideal der Gleichheit kommen, das von sich zu fordern jeder die Pflicht hat. So und nicht anders stürzt euch innerlich um, so revolutioniert euch! Nur so ist Revolution eine heilige Angelegenheit, an deren Erfüllung wir alle Kräfte setzen müssen. Anders wären wir alle nur eine aufsässige Horde von Sklaven im Joch ihrer eigenen Bosheit, Gier und aller gemeinen Leidenschaften.

In diesem Sinn soll der Staat zur Sache des ganzen Volkes werden, eine wahre Republik. Sie lebe hoch, hoch, hoch!«

Während die Menschen schon aus dem Saale strömten, war Damian, sowenig es ihm lag, genötigt, die persönlichen Glückwünsche der mit ihm gewählten Volksratsmitglieder zu dem so erfolgreich verlaufenen Abend und besonders zu seinen Schlußworten entgegenzunehmen. Dabei empfand er zu seiner Erleichterung, daß sich Selma Mosig bei diesem ersten Zusammentreffen mit ihm nach langen Jahren nicht im mindesten betroffen zeigte. Aber daß sie ihn so frei und mit solch kameradschaftlicher Erfreutheit und Zuneigung begrüßen würde, als seien sie beide durch das Zauberspiel gemeinsam verlebter Kindheit verbunden, hätte er doch nicht erwartet. Dabei blitzten ihn ihre stahlblauen, ein wenig unruhigen und doch fest zupackenden, dabei sinnlichen Augen so kühn an, daß er spürte, wie er ihr gegenüber in der Erinnerung an den Lasterschatten, aus dem er sie einst gerissen, geradezu betreten und unsicher wurde. Unwillkürlich behandelte er sie daher höflicher, ja liebenswürdiger, als er eigentlich vorhatte, und duldete es sogar, daß sie sich ihm nach dem Verlassen des Saales, als sich die Herren des Volksrats bereits verabschiedet hatten, auf dem Heimweg anschloß und eine Straße lang, vollkommen unbefangen plaudernd, an seiner Seite blieb.

Er hütete sich wohlweislich, den Namen Neefes zu nennen, und sie redete, als ob es diesen Menschen nie zwischen ihnen gegeben, von ihren Ansichten über die Rechte der Frau in den neuen Zeitläuften, von der Notwendigkeit, den Klang des weiblichen Gemüts über dem Trommelwirbel des veränderten Aufmarsches der Menschheit nicht zu überhören, mit einem Wort: Phrasen, die sie unbeschwingt und leidenschaftlich wie ein gut gelerntes Gedicht vortrug.

Beklemmt und doch zugleich von ihrer Schlagfertigkeit und ihren lebensmutigen Ansichten eingenommen, ohne sich einzugestehen, inwieweit er dabei dem Eindruck nachgab, den ihre weiblichen Reize auf ihn ausübten, wurde er sie endlich hinter der Gansertbrücke los, indem er sie behutsam, aber unmißverständlich förmlich abschüttelte. Gleich danach machte er sich aber doch einige Vorwürfe über seine Lieblosigkeit und Nachträgerei: Es konnte doch sein, daß sie gerade aus Betretenheit über ihre ihm wohlbekannte Jugendverirrung sich so anreißerisch herzlich gegen ihn betragen hatte.

Unter solchen Gedanken und entschlossen, sich sofort bei Mutter Christel und Sessi näher nach Selmas jetzigem moralischen Ruf und ihren sonstigen Lebensumständen zu erkundigen, legte er, nun rascher ausschreitend, den Rest seines Heimwegs zurück.

Als er am Gerberhaus ankam, wunderte er sich, daß hinter den Vorhängen der Wohnküche noch Licht brannte, obwohl es, wie er am Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr feststellte, mittlerweile doch schon über halb zwölf geworden war. Sollte denn Mutter Christel noch nicht zu Bett gegangen sein und wieder auf ihn gewartet haben, trotzdem sie ihm beim Fortgehen noch ausdrücklich versprochen hatte, sich keinerlei Sorgen um ihn zu machen? Aber er brauchte, nur einen Blick auf die beiden Frauen zu werfen, als er vom Flur her die Tür zur Wohnküche öffnete, um jählings zu wissen, was sich in der Zeit seiner Abwesenheit ereignet hatte.

Schmerzlich aneinandergeschmiegt saßen sie tränenüberströmt auf der Ofenbank. Im Backenstuhl am Fenster aber lehnte, in der Haltung eines Schlafenden, Meister Jochen noch genau so, wie ihn vor mehr als zwei Stunden der Tod ereilt hatte.

Erschüttert betrachtete sich Damian das im Todesschlaf von aller Lebensbitterkeit erlöste Antlitz seines Vaters, während sich das wahrhaft zu Tode betrübte Christel, von neuem aufschluchzend, bemühte, ihm die letzte notvolle Lebensstunde ihres Jochen und sein seltsam beglücktes Erlöschen zu schildern.

Bald nach dem Abendessen und Damians Fortgang habe der Vater, wie sie es schon seit Tagen gewöhnt war und ohne noch ein Wort zu ihnen über die Bedeutung zu verlieren, die diesem Abend nach ihrer und Sessis Meinung für Damian wie für Wilkau zukam, seinen Backenstuhl aufgesucht und sei dort bald in seinem üblichen traumgepeinigten Schlaf verfallen. Doch diesmal habe sie sich vorgenommen gehabt, ihn nicht so bald zu wecken und seiner Traumfolterung zu entreißen, weil sie der Meinung gewesen sei, wenn sie ihn einmal lange genug an seinem Traum leiden lasse, werde er zuletzt vielleicht doch die Dunkelheiten seiner Schlafberückung überwinden und dann im wachen Leben wieder zu seinem alten sicheren Schritt kommen. Doch da sei es mit der Bedrängnis seiner Traumjagd schlimmer als je zuvor geworden. »Er stöhnte, riß sich vergeblich zum Aufspringen, rang mit fast schreiendem Lallen gegen die Not, und als ich ihn nun doch bestürzt weckte, erwachte er in solch friedevolles Aufleuchten seiner weit geöffneten Augen, wie ich es seit Jahren nicht mehr an ihm erlebt habe, nickte mir zu und murmelte ein paarmal hintereinander richtig glücklich einige Worte, die ich erst gar nicht verstand, bis ich dahinterkam, was er meinte. Er murmelte immerzu: ›... In der Kammer, Christel, in der Kammer ...‹ Da streckte er sich auch schon und war verschieden, so schnell wie man ein Licht ausbläst.«

›Ich weiß es‹, sann Damian, als die Mutter geendet, immer noch unbeweglich vor dem Dahingeschiedenen verharrend, wortlos und unfähig, sein aufgewühltes Inneres durch Tränen zu erleichtern, ›ich weiß es, diesen Ausgang deines Lebens hätte ich nur verhüten können, wenn ich schon als junger Mensch bereit gewesen wäre, mein Leben zu zerstören, indem ich ein Gerber wurde wie du und jenen Geist in mir erstickte, der mich vom Blute meines Urahnen her in eine Welt drängte, die nicht die deine war. So stehe ich jetzt vor dir, unschuldig-schuldig an dem Gram, der dich aus dieser Welt getrieben. Doch vor den schleierlosen Augen jenes Einen, Einzigen, die über deinen Tod wie über mein Leben wachen, weiß ich mich losgesprochen. Denn wie ein jeder Mensch nur an der Krankheit sterben kann, an der er gelitten, so bist du, Todesbereiter, schließlich nur an dir selbst und an der Erkenntnis der unheilbaren Fremdheit gestorben, die wohl nach dem Willen des Ewigen, doch nicht nach meinem oder deinem, in Jahren zwischen uns erwuchs und endlich gleich einer Wolkenwand sich dunkel türmte, bis sie der Unerforschliche selbst zerriß. Nun, da du in sein ewiges Licht erloschen, ist mir's, als trennte uns erst jetzt nichts mehr voneinander, als seist du mir nur vorausgewandelt in die Ewigkeit, aus der wir Menschen alle geboren werden, in jenes Reich, in das wir im Tode wieder zurücksinken und danach wir uns im tiefsten sehnen, solange wir leben.‹

Das alles dachte Damian nicht eigentlich in eben diesen Worten, es wogte wie in einem Strom aus Gedanken und Gefühlen durch ihn hin, dem er sich anfänglich nur mit Unbehagen, dann aber immer ruhiger überließ. Als er sich seiner wieder völlig sicher war, wandte er sich zu Mutter Christel und Sessi um. Seine liebevoll-besonnene Zusprache, in der er sich von jenen Einsichten weitertragen ließ, zu denen es ihn soeben hingeführt, brachte es denn auch zuwege, daß sich die beiden Frauen nach einer Weile wenigstens soweit zu fassen vermochten, wie es nötig war, um sich mit seiner Hilfe all den Verrichtungen zu widmen, die der ins Haus getretene Tod von ihnen forderte.

Als Damian endlich nach Stunden, schon im Morgengrauen, als letzter im Gerberhause sein Lager aufgesucht hatte, war er so erschöpft, daß er den Schlaf förmlich herbeisehnte; doch der wollte und wollte sich nicht einstellen. Vor seinen geschlossenen Augen trieben in wildem Durcheinander die Bilder der hinter ihm liegenden Stunden vorbei. Er sah sich auf dem Podium stehen, hörte sich zur Versammlung reden, spürte verwirrt Selma Mosigs körperliche Nähe, schaute wieder und wieder in das Antlitz des toten Vaters und geriet davon schließlich in eine solche Ruhelosigkeit, daß er sich vor Herzjagen aufsetzen mußte. Da glitten ihm die ehrwürdigen Verse des uralten Spruches seiner Familie gleich einem Stoßgebet von den Lippen, und als er bei den Worten:

»Stets mein Herr und stets dein Knecht,
Droben Gnade, drunten, drunten Recht«,

angelangt war, spürte er, wie ihn ein unsäglich wohltuendes Gefühl der Geborgenheit überkam, von dem er sich zurücksinken ließ und auch bald in die Ewigkeitsdämmerung des Schlafes davongeführt wurde.


 << zurück weiter >>