Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Es gibt Nächte, in denen wir mit den geschlossenen Augen eines traumlosen Schlafes über Abgründe unseres Lebens und Verwicklungen unseres Innern wie kühne Springer setzen und beim Erwachen, ohne zu wissen, wie es zugeht, den fremdesten Verhältnissen mit einer solchen Geschlossenheit unseres Wesens, mit dem Gefühl einer solchen Erfülltheit gegenüberstehen, als wären die Ereignisse des ganzen früheren Daseins die sinnvolle Vorbereitung auf dieses Unerwartete gewesen, von dem gestern unser Bewußtsein noch nichts geahnt hat.

So erging es Maechler, als er in seiner Kammer auf der Feldgasse erwachte. Ihm war, als sei er am Ziel seiner Wanderschaft angekommen, und zwar in einem Ort, von dem ihn in der Frühe des vorigen Tages alles fortgetrieben hatte.

Er stand auf und trat, noch im Hemd, an das kleine Fenster, von dem aus er durch die Baumkronen das niedrige Schindeldach des Nachbarhauses sehen konnte, aus dem eine kurze, klobige Esse ragte und in den klaren Morgen gemächlich dicke Rauchschwaden qualmte. Diese drangen schwarz aus den Luken der gedeckten Esse und strebten in die Höh, als hätten sie vor, den blauen Himmel unter ihren mißfarbigen Dunst zu begraben. Aber kaum eine Manneslänge von ihrem Ursprungsort wurden sie von der kühlen Luft und dem Licht ins Nichts verflüchtigt. Alles blieb klar, und Maechler trat lächelnd von dem Fensterlein zurück. So ins Nichts verschwunden erschienen ihm alle Schatten und Verfinsterungen des Lebens. Heiter packte er sein Felleisen aus, hing seinen Wanderanzug an den Rechen und schlüpfte schnell in seine Arbeitskluft. Nun galt es, in das richtige Leben hineinzuspringen, denn diesem grundgütigen Meister Wennrich, dem aus dem Hinterhalt das ganze Leben fast zerschlagen worden war, wollte, nein mußte er auf die Beine helfen. Dann würde dieses merkwürdig stolze und ferne Mädchen auch durch ein lichteres Leben aus dem Dunkel wieder herausfinden, in das sie das Schicksal ihres Hauses schuldlos getrieben hatte.

Das überdenkend, verließ Maechler seine Kammer und schritt der Treppe zu, hinabzusteigen. Aber schon nach den ersten paar Stufen machte er halt und kehrte eilig in seine Kammer zurück. In einer geheimen Tasche steckte der alte, abgegriffene Zettel, auf den ihm seine Mutter als himmlischen Reisepaß für die Wanderung das Abendgebet geschrieben hatte, von dem die Sage ging, daß es einst vor mehr als zwei Jahrhunderten der zu den Böhmischen Brüdern übergelaufene Mönch Weiß aus Neiße einem seiner Urahnen gedichtet hatte. Diese schlichten Verse waren seither von der Familie Maechler als ein himmlisches Vermächtnis betrachtet und in den vielen Peinigungen und Nöten der Verfolgung als ein richtiges Seelenlabsal erprobt worden. Wie oft hatte Maechler diesen Zettel auf den abenteuerlichen Kreuz- und Querfahrten seiner badischen Rebellenfahrt heimlich gelesen, um so der wirren Widersetzlichkeit gleichsam ein himmlisches Recht zu geben, bis nach dem kläglichen Zusammenbruch des herrlichen deutschen Freiheitsschwärmens die innigen Worte der Gottverbundenheit immer mehr zu undeutlichen Klängen aus dem Raumlosen geworden waren, die ihn mehr beunruhigt als beseligt hatten. Nur einmal noch, als er in der fieberigen Todesnot im Bärengrund zusammengebrochen war, hatte er sie mit trockenen Lippen über sich in die Nacht gesprochen. Aber von dieser Inbrunst seines Todeswahnes wußte er nichts mehr, da er den Zettel nun in der Hand hielt und überlas. »Gott kümmert sich um uns nicht«, murmelte er bitter, als er mit der Lesung ans Ende gekommen war, »und wenn wir immer in die Höhe über der Erde schauen, fahren wir allemal durch Wolken. Das Recht müssen wir Menschen, wir allein schaffen. Dann wird Gnade auf Erden sein.«

Schon war er im Begriff, das Papierlein zu zerreißen, ließ aber doch in dunkler, ferner Ehrfurcht gegen seine Vorfahren davon ab, faltete es wieder zusammen, schob es in den hintersten Winkel des oberen Kommodenschubes, verschloß ihn und warf in weitem Bogen den Schlüssel aus dem Fenster in die Baumkronen des Nachbargartens.

Dieser Vorgang, der für Maechler und sein Geschlecht so bedeutsam werden sollte, dauerte kaum zwei Minuten.

Nun erst glaubte er, die Tür zur Vergangenheit seiner letzten Jahre endgültig geschlossen zu haben, so, daß alle diese Begebenheiten, die von seiner Krankheit wie Gerumpel durcheinandergeworfen worden waren, vor der Zeit in die Nacht des Vergessens zurückweichen mußten, immer ferner, undeutlicher würden und endlich ganz erloschen, wie die Bilder seiner frühesten Kindheit.

Maechler reckte sich auf, sprang in ein paar Sätzen die Treppe hinunter und betrat strahlenden Gesichts die Stube, wo er Wennrich schon am gedeckten Frühstückstisch fand, während Lotte abseits am Herde hantierte.

»Guten Morgen, Meister, guten Morgen, Fräulein Lotte«, begrüßte er die beiden in der Fröhlichkeit seines befreiten Wesens.

Wennrich ergriff erhellten Gesichts die dargebotene Rechte und rückte ihm einen Stuhl zum Niedersitzen zurecht.

»So ist ja alles gut«, sagte er, befriedigt Maechlers Arbeitsanzug musternd, »siehst du, Lotte, hab' ich's nicht gesagt?« Damit wandte er sich an seine Tochter, die mit einem Nicken den Gruß des Gesellen erwidert hatte. »Siehst du, ich hab's gewußt. Nun räum's weg. Nein, laß es stehen. Die guten Wünsche auf die Wanderschaft werden ihm auch bei uns nützen.« Er meinte die Schnitten Brot, die ihm Lotte in der Annahme seines Fortganges in Papier gewickelt und neben seinen Morgensuppenteller gelegt hatte.

Maechler schaute verwundert auf das Mädchen, das seinen Blick furchtlos erwiderte und bestätigend den Kopf neigte.

»Jaja, so ist's«, sagte sie tapfer und konnte doch nicht verhindern, daß sich ihr Gesicht leicht überrötete. Energisch wandte sie sich ab, als sie ihre Befangenheit spürte, und rückte zwecklos und, wie Maechler bemerkte, mit unsicherer Hand an den Töpfen. Davon überfiel Maechler wieder das ferne, unbeschreiblich selige Nebeln, wie es über ihn gekommen war, als er vorgestern in der nächtlichen Straße das erstemal ihr Lachen gehört hatte. Einen Augenblick war die Welt, wie sie noch nie gewesen war. In seiner Verwirrtheit wußte er sich nicht anders zu helfen, als daß er übermütig herauslachte, sich aufs Knie schlug und zu Wennrich gewendet sagte: »Nein, nein, Meister, ich bleibe da. Das Brot soll mir nicht zum Wandern, aber hier helfen. Wir zwei wollen schon die versaute Haut schaben, bis wir über den Berg hinaus sind.«

»Gut, gut, Maechler, ich vertraue Ihnen«, erwiderte der Meister und drückte die Hand des Gesellen in einer Herzlichkeit, als sei er nicht ein Fremder, eben ins Haus Gewanderter, sondern sein Sohn, und das merkwürdige Nebeln, das Maechler eben von Lotte her überfallen hatte, verwandelte sich in ein fernes Glänzen.

In dieses unbekannte Licht, das in ihm aufgegangen war, mußte sein Lachen hineingesteuert werden.

Das Frühstück verlief in ziemlicher Schweigsamkeit, und das wenige, was gesprochen wurde, drehte sich um das Handwerk. Lotte, die Maechler wieder gegenüber saß, vermied, den Gesellen anzusehen, und wenn es sich doch nicht vermeiden ließ, schaute sie ihn mit ihren rätselhaft graugrünen Augen so an, als sei er nicht der, vor dem sie in der Nacht alle Schleier von dem Schicksal ihres Hauses und wohl auch manche von ihrem eigenen weggezogen hatte. Wie einen Gegenstand blickte sie ihn an, eine Uhr, einen Schrank, einen Ofen. Nur auf dem Grunde der großen ruhigen Augensterne schimmerte ein heimliches Feuer. Als Maechler hinter dem Meister zur Besichtigung des Betriebes die Stube verließ, schlüpfte das Mädchen unauffällig nahe an ihm vorbei und flüsterte ihm zu: »Aber seien Sie vorsichtig.«

Was schon Maechler auf dem flüchtigen Gange aufgefallen war, das drängte sich ihm heut in allen Einzelheiten auf. Das Werklein Wennrichs mochte einst gut versehen gewesen sein; heut befand es sich in völligem Verfall, und was von der früheren Ordnung noch erhalten war, gehörte einem Verfahren an, das die Entwicklung des Handwerks schon als veraltet verlassen hatte. Nicht nur war alles nach der von den Urvätern geübten Methode der Vorsatzgerberei angelegt, die Wennrich einst von seinem Schwiegervater übernommen hatte. Die ganze Anlage war unzweckmäßig, unübersichtlich und unvollkommen. Seit Wennrich durch die Quertreibereien des Schlossers den Schuppen eingebüßt hatte, der auf gemietetem Terrain am Rande von Wilkau stand, mußten die Häute auf dem Boden des eigenen Hauses nach der Konservierung durch Karbolsäure und Salz zum Trocknen aufgehängt werden. Hier war außerdem noch die primitive Handwalke aufgestellt, so daß mehr als zehn bis zwölf Häute, nicht Platz hatten. Die Werkstatt selbst, die auf der rechten Seite des Flures lag, war von Wennrich durch einen Ausbau vergrößert worden und befand sich noch in ansehnlichem Zustande, machte aber mehr den Eindruck eines kleinen Museums. In reichhaltiger Auswahl hingen sauber geputzt Schabmesser und Firmeisen an den Wänden. Schabblöcke lehnten weiß gescheuert in den Ecken. Seit langem waren hier nicht mehr Arme mit aufgekrempeltem Hemde tätig gewesen. Es roch viel mehr nach einer guten Stube als nach einer Gerberwerkstatt. Die Loh- und Vorsatzgruben in dem Hofwinkel rechts von der Werkstatt waren leer und trocken, und auf die schmalen Räume zwischen den zugedeckten Löchern hatte Lotte winzige Blumenbeete gesetzt, wie um den Verfall unter bunten Kränzen zu verbergen. Von den vier großen Tonnen auf dem Werkplatz über der Feldgasse am Heidewasser waren nur zwei mit Häuten halb gefüllt, die einen im zweiten, die andern im dritten Satz. Maechler griff hinein und untersuchte die Beschaffenheit beider. Sie waren überfällig und mußten sofort herausgenommen und der letzten Bearbeitung auf dem Schabbaum unterworfen werden. Als Maechler sich am Nachmittage über die Arbeit hermachte, merkte, er, daß bei fast allen Fellen des Meisters Firmeisen nicht genau und achtsam genug verfahren war. An einigen waren noch Fleischteile hängengeblieben. Da und dort hatte das scharfe Eisen Löcher geschnitten. Maechler arbeitete bis in den späten Abend, ohne doch die entstandenen Schäden ganz entfernen zu können. Als er nach mehrmaligem Rufen Lottes zum Abendbrot erschien, traf er den Meister in mutloser Versunkenheit am Tisch. Ihm war durch die Augen Maechlers die ganze Vernachlässigung seines Betriebes das erstemal voll zum Bewußtsein gekommen, so daß er wie ein ertappter Schuldiger kaum von seinem Teller aufzublicken wagte, und wenn er redete, es furchtsam, fast demütig tat. Maechler hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berge, wenn er die Vorschläge zur Umstellung und späteren Erweiterung des Betriebs auch schonend und mit humorigen Wendungen verziert vorbrachte, die sich Wennrich, ein wenig aus schiefen Augen zweifelnd, aber doch bedachtsam anhörte. Lotte folgte, ohne sich an dem Disput zu beteiligen, mit großen Augen, ruhigem Gesicht und einem Mund der Unterhaltung der beiden, dessen Lippen sich immer fester, strenger, ja, wie es Maechler schien, abweisender schlössen. Diese Gebärde, die ihm wie eine stumme Überheblichkeit vorkam, ätzte Maechler so ins Gemüt, daß seine Darlegungen schärfer und zupackender wurden. Aber damit vertrieb er nicht, sondern vertiefte er die skeptischen Schatten ihres ganzen Gehabens. Und als der erregte Gesell unter Berufung auf seine vielfältige Erfahrung auf der langen Wanderschaft geradezu den Übergang von der zeit- und geldraubenden fauligen Gärung zur Schnellgerberei und wenn es sein mußte, mit Knoppern oder Valonia statt mit Lohe sprach, die Errichtung eines Trockenschuppens in dem verwilderten Obstgarten als eine nicht zu umgehende Forderung aufstellte, die Oberlederfabrikation vor der Sohlenlederherstellung als rentabler pries und die Aufnahme der Alaungerberei für Pelzfelle als für die Wilkauer Waldgegend notwendig und gewinnbringend anregte, hielt sich Wennrich die Ohren zu und sah Maechler bestürzt ins Gesicht, genau wie ein Verschütteter zwinkernd und entsetzt aus einer halb zugeworfenen Grube aufschaute, so daß der Gesell stutzte, vor allem auch, weil er Lotte jetzt blaß und mit herabhängenden Armen auf dem Stuhle sah. Eine betretene Stille herrschte in der Stube, und Maechler biß sich auf die Lippen. Der alte Meister faßte sich zuerst, ließ die Hände von den Ohren sinken, legte seine Rechte liebreich und beteuernd auf Maechlers Arm und sagte, langsam die Worte suchend: »Sie haben recht. Die Fabrik marschiert auf uns zu, und wir müssen uns zur Wehr setzen. Gut. Ich seh's ein. Der Krempel muß aufgefrischt und reingemacht werden. Soweit wird auch mein zurückgelegtes Geld noch reichen. Hoffentlich. Mein Lieber, aber der Wille Gottes ist entscheidend. Der hat mir's genommen. Der wird mir's wiedergeben.«

Lottes Augen wurden von diesen Worten durch heldenhaft bekämpfte Tränen verdunkelt.

Maechler aber gedachte der tausend Sackgassen und Irrwege, in die er von solcher entnervender Wolkenfahrerei geraten war. Nicht umsonst hatte er den Schlüssel zu dem Gebet seiner Familie heut morgen von sich fortgeschleudert. Darum richtete er sich entschlossen auf und erwiderte ruhig: »Ihre Worte in Ehren, Meister. Ich bin auch Katholik. Allein hier sind die Hände und Arme Gottes«, damit erhob er seine Arme. »Und hier im Kopfe ist Gottes Verstand. Will's der Mensch besser haben, so muß er es selbst machen. Wenn wir dem Recht den Weg bauen, dann, aber nur dann kann die Gnade zu uns fahren.«

Das hatte Maechler entschieden und ergriffen gesprochen. Als er zu Lotte hinüberschaute, sah er sie noch blasser und mit zugefallenen Augen aufrecht sitzen und sich dann lautlos erheben und still aus der Stube in den Hausflur schweben.

Wennrich blickte seiner Tochter sinnend nach und nickte zustimmend mit dem Kopfe. Dann sprachen die Männer noch lange eingehend über alle zu treffenden Maßnahmen, und Maechler wußte dem Alten Mut zu den vorgeschlagenen Neuerungen zu machen, indem er betonte, daß nichts überstürzt und unüberlegt betrieben werden solle, vor allem auch, um nicht in unnötiger Weise in Wilkau in die Lästermäuler zu geraten.

Im Einvernehmen schieden sie voneinander. Der Meister verschwand in der Schlafstube. Maechler betrat den finsteren Flur, um sich in seine Kammer zu begeben. Als er ein paar tastende Schritte in der völligen Dunkelheit nach der Treppe zu getan hatte, drang die Empfindung, jemand stehe mit dem Gesicht gegen die Wand in einem Winkel, so zwingend auf ihn ein, daß er im Schreiten innehielt und leise fragte: »Fräulein Lotte?«

Keine Antwort erfolgte. Aber leise wehend, so wie ein Vogel abstreicht, huschte es an ihm vorbei. Verwundert stieg Maechler die Treppe hinauf. Als er oben angekommen war, fiel drunten leise eine Tür ins Schloß.

Maechler lag lange wach, und während er den ganzen Tag an sich vorüberziehen ließ, horchte er unausgesetzt hinaus, ob sich das streichende Gehen um seine Tür wiederholen würde, das ihn gestern nacht mehrere Male aus dem Bett getrieben hatte. Aber alles blieb still. Nur ein traumleises Flügeln in der Luft war durch das offene Fenster zu hören. Das kam von hoch und weit her. Vielleicht, dachte Maechler schon schlafbefangen und auseinandergetragen, kommt das vom Gebirge her, das schwarz und fern, fern in der Nacht stand. Und da er das traumverwirrt sann, neigte es sich dunkel über ihn, daß er in die Welt des Schlafes gedrückt wurde.


 << zurück weiter >>