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Siebtes Kapitel

Mitte Juli endete offiziell das Sommersemester. Mithin hätte Damian wie gewöhnlich seine Sachen packen und heim in die großen Ferien fahren können. Allein er hatte ungeachtet dessen, daß er bis zum Semesterschluß keine Vorlesung versäumte und zu Hause eifrig über seinen Kollegheften saß, ständig und in zunehmendem Maße das unbehagliche Gefühl, als braue sich in der schwülen Stille dieser gleichmäßig schönen Sommertage ein Wetter zusammen, das in kurzem mit elementarer Gewalt über das Land hereinbrechen würde. Und immer häufiger geschah es ihm, daß er die Luft im Räume als drückend und stickend empfand und das Fenster seines Zimmers aufriß, weil ihm der Schweiß aus den Poren brach.

Daher nahm er es auch freudig auf, als sich Leutnant Gregory an allen drei Sonntagen, die auf das Attentat folgten, bei ihm einfand, um ihn zu einem Spaziergang abzuholen, den sie gemeinsam bei einem Krug Bier in einem Gartenrestaurant an der Liebichshöhe und schließlich mit dem brüderlichen Du beschlossen, das ihm Walter als der Ältere anbot, und das Damian ohne Ziererei annahm. Walter war in diesen wie zwischen Traum und Tag schwebenden Wochen für Damian gleichsam das Tor, durch das er in die Welt hinausschauen konnte, der einzige Mentor, der sich ihm anbot, um ihm zwischen der gleicherweise unwirklich gewordenen Vergangenheit und Gegenwart den Blick für die Realitäten der politischen Spannungen und Entwicklungen zu schärfen. Im tiefsten hielt Damian zwar an seiner Leitidee von der Statuierung des ewigen Friedens fest, der für die Menschheit notwendig sei, war aber doch nicht so engstirnig, den Kopf einfach in den Sand zu stecken, vielmehr der letzte, dem es behagt hätte, mit Scheuklappen herumzulaufen.

Bei ihrem letzten Zusammensein sah auch Damian ein, daß Walter recht damit hatte, wenn er prophezeite, daß alle Versuche zur Aufrechterhaltung des Friedens, den Deutschland wahrhaftig nicht zu stören trachte, vergebliche Liebesmüh sein würden, und daß der Dampfkessel Europa schon zu überhitzt sei, als daß sich da oder dort noch ein Ventil öffnen lasse:

»Übrigens sollten wir Einundfünfziger morgen auf den Truppenübungsplatz Neuhammer ausrücken, aber man hat das gestern abgeblasen. Man hält uns nicht ohne Grund in den Garnisonen zurück.«

Zuletzt hatte Damian sich an Walters fiebriger Erwartung in solchem Grade angesteckt, daß er fest entschlossen war, nicht eher abzureisen, als bis die Entscheidung, nach Walters Ansicht spätestens bis Ende des Monats, gefallen war; die Entscheidung, die er nun bereits herbeisehnte, ohne sie etwa zu fürchten, im Gegenteil. Er war viel zu sehr Deutscher, als daß er sich auch nur einen Augenblick fragte, was er persönlich zu tun gedenke, wenn der Krieg ausbräche; denn als neunzehnjähriger Student brauchte Damian nicht damit zu rechnen, sofort zu den Fahnen gerufen zu werden.

»Natürlich melde ich mich sofort freiwillig. Und ich weiß auch schon, bei welchem Regiment, bei den Einundfünfzigern, mein Lieber, wo sonst?« war Damians Antwort auf Walters Frage, der darauf nur erwiderte: »Etwas anderes hätte ich von dir auch gar nicht erwartet, Damian.«

In einem Briefchen, das er seiner Mutter sandte, damit sie sich nicht wegen seines Ausbleibens beunruhige, schrieb ihr Damian nur, ohne dabei allzusehr von der Wahrheit abzuweichen, daß er dringlicher Studienarbeiten wegen noch eine Zeit länger fortbleiben müsse, aber hoffe, in etwa zwei Wochen nach Hause kommen zu können. Den einzig wahren Grund, der ihn in Breslau zurückhielt, verschwieg er ihr wohlweislich. Würde es Ernst, würde sie ihn noch immer rechtzeitig genug erfahren.

Mag sein, daß Damian in Wilkau, im Umgang mit Mutter und Sessi, den nun einmal nicht zu ändernden Zustand angespannter Erwartung weniger quälend empfunden hätte als in der Stadt, aber der Gedanke, daheim die ihm gerade in dieser Zeit so wichtige Zwiesprache mit seinem Freund Walter entbehren zu müssen, gab den Ausschlag. Hierin freilich sah er sich, während sich die Ereignisse in den beiden letzten Juliwochen in atemberaubendem Tempo vollzogen, aufs bitterste enttäuscht. Denn der Freund ließ fortan weder etwas von sich hören noch sich blicken.

In einer Verfassung, die nicht mehr Leben und noch nicht Tod war und der eines Gelähmten glich, dem jede Möglichkeit, selbst zu handeln, genommen ist, vegetierte Damian als wehrlose Beute durcheinanderjagender Empfindungen und Bilder von morgens bis abends dahin, saß vor seinen aufgeschlagenen Büchern, ohne aufzunehmen, was er las, sprang auf, marschierte rastlos quer durch seine Behausung und erschreckte die gute Frau Kruttke, von der er nur alle Augenblicke nach neuen Zeitungen verlangte, durch sein unverständliches und abweisendes Gebaren bis zur Ratlosigkeit.

Das ging so an die vierzehn Tage, bis er es eines Spätnachmittags nicht mehr in seiner Stube aushielt, auf die Straße eilte und gerade in dem Augenblick in die Hauptstraße einbog, als den Zeitungsjungen die noch druckfeuchten weißen Blätter mit dem Mobilmachungsbefehl von den bis zum Überschäumen begeistert auf und ab wogenden Menschen buchstäblich aus den Händen gerissen wurden. Als sei eine magische Macht über sie alle hereingebrochen, schwenkten die Männer, ob jung oder alt, ihre Hüte, die Frauen ihre Taschentücher, einander völlig Unbekannte faßten sich unter, und sie allesamt zogen in breiten Reihen die Straße hinauf bis auf den Ring, wo sich die Menge vor dem Rathaus staute und keiner mehr auch nur einen Schritt vorwärts oder rückwärts konnte, Damian mitten unter ihnen, und auch er in einem Taumel der Erlösung von einem Alpdruck, bis in die letzte Faser hingegeben der einmaligen Größe der Stunde.

Die Vordersten, von hinten geschoben, wurden immer näher dem Rathaus zugedrängt, und Damian, den es zufällig mit nach vorn gespült hatte, überlegte schon, wie er sich vielleicht nach der Seite hin in den Schweidnitzer Keller aus der Masse herausdrehen könne, als ein Student in bunter Mütze, der sich an der Staupsäule hochgeangelt hatte, in die Menge rief: »Achtung, Kommilitonen! Ich habe Professor Methner gebeten, in dieser Stunde zu uns allen zu sprechen. Er steht hier dicht bei mir.«

Jetzt erst sah Damian, daß es Wenzel Mielke war, und wußte, sein verehrter Professor würde dieser Aufforderung sicherlich Folge leisten. Und schon nahmen zahlreiche Stimmen aus der Menge, unter der sich offenbar auch Hunderte von Studenten befanden, den Ruf Mielkes auf und forderten im Chor: »Methner soll sprechen!«

Die Menschen wichen und wankten nun erst recht nicht mehr. Nach einer Weile öffnete sich ein Fenster im ersten Stockwerk des Rathauses, und sogleich verstummte die erwartungsvoll nach oben blickende Menschenmenge.

Es war tatsächlich Professor Methner, der sich dort zeigte und nun mit seiner volltönenden, wohllautenden Stimme, deren zündenden, doch von hohem sittlichen Ernst getragenen Sätzen alle wie gebannt lauschten, eine kurze Ansprache hielt:

»In dieser Stunde der großen Entscheidung unserer Geschichte beglückwünsche ich alle wehrhaften Männer und Jünglinge. Ihr zieht nun hinaus, um dafür zu kämpfen, was in den Augen unserer Feinde unser einziges Verbrechen ist, dafür, daß wir leben wollen, leben in einem starken, nicht aber in einem schwachen Deutschland.

Ihr laßt hinter euch ein verändertes Deutschland, in einem Willen zusammengeschlossen, nur von dem einen heiligen Geist des Opfers ergriffen.

Der Sinn dieses Krieges aber liegt in dem Frieden, zu dem er führt. Tragt als Krieger in euch den hohen Sinn des kommenden Friedens, daß der Völkerhaß dennoch in einem Reich der Liebe ende! Das Reich der verstehenden Bruderliebe aber, das uns heute alle umschlingt, soll künftig das Reich des deutschen Friedens sein. Ihr werdet eure Schlachten schlagen für das bessere Deutschland, für das tiefste deutsche Wesen und für seine Geltung auf Erden. Der Einzelne gilt nichts, das Ganze, Deutschland ist alles! Wir wollen in dem Frieden, der kommen wird, unseren Staat erneuern zum vollen, freien Ausdruck für den ganzen Reichtum des deutschen Wesens.

Ihr Jünglinge unter euch aber, ihr seid die Angel der Zeiten, wenn nicht alles täuscht, seid ihr der Anfang eines neuen Weltalters! Ihr seid der Morgen eines neuen Tages für die Menschheit!«

Einen Augenblick hielt der Professor inne, dann rief er über den menschenvollen Platz hin:

»Nun lasset uns anstimmen das Lied der Freiheit, mit dem unsere Kämpfer von 1813 einst hinauszogen!«

Er begann es als erster zu singen: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte«, und aus aber hundert Kehlen schwoll es an und pflanzte sich fort über den ganzen Ring und weit hinein in die Straßen der Stadt. Noch während der ersten Strophe durchfuhr es Damian wie ein Schlag ins Gehirn, er mußte die Augen schließen, und ihm war, als erlebe er dies alles nicht erst eben jetzt, sondern genau so schon zum zweiten Male. Zutiefst erschrocken, wußte er im gleichen Augenblick auch schon, daß er damals im Zuge, vor drei Monaten, in einem Gesicht das Bild dieser Stunde vorausgeschaut hatte, doch er fürchtete sich, die Augen zu öffnen, denn vielleicht war auch jetzt alles nur ein Schemen und keine Wirklichkeit.

Als er endlich wagte, wieder um sich zu blicken, stand er zwar noch immer an derselben Stelle, doch um ihn herum war alles leer und das Fenster im Rathauskerker geschlossen wie immer.

›Wenn ich nicht geträumt habe‹, dachte Damian, ›werden wohl alle Menschen, die vorhin hier standen und sangen, abmarschiert sein.‹ Und als er sich nun selbst auf den Heimweg machte, fragte er sich, wie es wohl zugehen mochte, daß beim späteren Erleben die Bilder einer Vision nur zum Teil wiederkehren. Hatte er die Erscheinung Pallas Athenens mit den Zügen Sessis heute vielleicht nur versäumt, weil er zu lange zögerte, die Augen zu öffnen, oder war schon damals im Zuge seine Vision gestört durch Regungen seines eigenen Denkens? Sicherlich war dies letztere die Ursache.

So erfreulich es Damian vermerkte, als er spürte, daß er eben wieder klar zu denken vermochte – die Tatsache, ein visionäres Vermögen in sich zu tragen, verursachte ihm eine Art Beklemmung, von der er sich noch nach Wochen nicht ganz befreien konnte, und das Wissen um diese Gabe überschattete von nun ab zeitlebens seine Seele.


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