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Sechzehntes Kapitel

Ja, Damian war ihnen wiedergegeben. Wie ein Wunder erschien es Sessi noch tagelang, daß sich ihr sein Schemen hinter den nebelhaften Traumschatten wieder in einen Menschen von Fleisch und Blut wie sie, Mutter Christel oder Vater Jochen verwandelt hatte. Freilich, das spürten sie alle schon in den ersten Stunden: Damian war nach diesen siebzehn Monaten als ein völlig anderer heimgekehrt. Nicht nur seine äußere Gestalt und seine Gesichtszüge hatten sich so verändert, daß er ihnen zunächst fast fremd erschien und sie sich erst an seine hohlen Wangen, die beiden Falten über der Nasenwurzel, die strengen Linien um seine meist zusammengepreßten Lippen und vor allem an seine wie in Abgründen verlorenen Augen gewöhnen mußten. Wenn sich auch mit der Zeit und unter der leiblichen Pflege, die ihm daheim zuteil wurde, manche dieser Runen, die der Krieg in sein Gesicht gegraben, verloren, so blieb doch etwas unwiderruflich aus seinem Wesen geschwunden: die aus allen Poren klingende Seligkeit seiner Jugend, die er sich über die Studienjahre und selbst noch bis zum Tage seiner Abfahrt ins Feld fast unversehrt erhalten hatte, sie war ihm Stück für Stück auf den Schlachtfeldern zertrümmert worden. Ihr letzter schwacher Hauch erstickte in der grauenvollen Stunde, da ihn bereits der Tod umkrallte, und von der er erst am dritten Abend im Gerberhaus sprach, als Sessi ihn behutsam fragte, für wie lange er wohl daheim bleiben dürfte.

Da eröffnete ihr Damian, als wenn das etwas ganz Nebensächliches wäre, aber Sessi spürte, wie er dahinter das Wesentliche zu verbergen trachtete, daß er unmittelbar aus einem Kriegslazarett in Belgien, in dem er schon wochenlang gelegen habe, für zunächst drei Monate zur Erholung und ambulanten Behandlung seinem Heimatlazarett überwiesen worden sei, wo er sich eine Woche nach seiner Ankunft zu Hause melden solle.

Es bedurfte noch liebevollen Zuredens von seiten Sessis, ehe sich Damian endlich dazu bestimmen ließ, ihr widerstrebend zu berichten, was ihm eigentlich widerfahren war. Und dann erfuhr sie aus seinem Munde ein Geschehen, vor dem sie den Atem anhalten mußte, um nicht aufzuschreien.

Mitten in der großen Abwehrschlacht in Flandern vor Ypern, vor rund acht Wochen jetzt, genau am ersten August, in der achten Abendstunde, nachdem sich das schon tagelang anhaltende Trommelfeuer zu einem plötzlichen Feuerorkan auf die deutschen Gräben gesteigert hatte, sei er durch einen Volltreffer in dem Grabenunterstand mit noch sechs anderen Kameraden von den zusammenbrechenden Stämmen und Erdmassen verschüttet worden:

»In diesem schrecklichen Todesaugenblick hatte ich ein überklares Gesicht. Ich sah dich, Liebste, ja dich! Voller Angst und Liebe hieltest du mir deine offenen Arme entgegen, um mich zu umfangen und mich heraufzureißen. Da springt plötzlich ein junger Leutnant zwischen dich und mich, zieht dich von mir fort und in seine Arme, versetzt mir einen Stoß und läuft dann, Augenblicke später, mich und dich liegenlassend, mit einem Schrei des Entsetzens davon ...

Mir schwanden die Sinne. In einem Zustand, der mir noch heute ein Rätsel ist, fand ich mich, nach wer weiß wie langer Zeit, wieder. Denn vollkommen bei Besinnung, war ich doch unfähig, mich zu bewegen. Ich vermochte nicht den Finger zu rühren, nicht die Augenlider zu heben, spürte nicht den Atem in meiner Brust, nicht das leiseste Regen eines Herzschlags ... ich war begraben und lebendig. Ich lag, wie mir schien, in einem hohen Raum mit muffiger Luft. Nur mein Gehör funktionierte, doch nicht so, als sei es eine eigene Kraft, sondern eine Fähigkeit, an der ich ohne Interesse teilhatte. Vollkommen gleichgültig dachte ich nur eins: Das ist der letzte Augenblick vor dem Sterben. Neben mir empfand ich viele Kameraden, lautlos wie ich selbst, aber schon vollkommen tot. Nur manchmal schrie es, ob nahe oder weit wußte ich nicht zu unterscheiden, grauenvoll auf, dann wieder stöhnte oder röchelte es. Ich hörte auch abgerissene Worte. Wenn ich die Augen schließe, höre ich sie jetzt noch, genau wie dazumal: ›Schnell, Sie Esel, hier, fest zupacken, drücken! Fest!‹ ... ›Jawohl, Herr Stabsarzt!‹ ... ›Na sehen Sie, mein Lieber.‹ ... ›'n Abend, Herr Kaplan.‹ ... ›Guten Abend, Herr Stabsarzt. Nun, bin ich nötig?‹ ... Auf meiner Seite nicht, aber da drüben, die ...‹

Daß ich währenddem in dem Gewölbe der Gruft einer zerschossenen Kirche lag, die man als Verbandplatz benutzte, und daß es Reinhard Neefe war, der dort als Feldkaplan dicht hinter der Front sich um die Sterbenden bemühte und dabei mich unter den hoffnungslosen Todeskandidaten fand, um die sich niemand sonst mehr kümmerte, und dafür sorgte, daß man mich weiter nach hinten ins nächste Feldlazarett schaffte, wo ich wieder ins Leben zurückgerufen wurde – das alles erfuhr ich erst sehr viel später. Denn ich hatte durch die Verschüttung, auch als ich endlich wieder bei mir war, mich bewegen und sprechen konnte, wie sich herausstellte, das Gedächtnis völlig verloren, wußte nichts mehr von dem Geschehenen, auch nichts mehr von mir selbst, wer ich war, wie ich hieß, und dieser Zustand der gänzlichen Entäußerung meiner selbst hielt mich wochenlang umfangen. Weder Soldbuch noch Erkennungsmarke besaß ich noch, als man mich ins Feldlazarett einlieferte. Bei dem Versuch, uns sieben Verschüttete zu bergen, von denen nur ich allein dann wie durch ein Wunder noch am Leben war, mitten im fürchterlichsten Trommelfeuer, das unseren Graben eindeckte, hatte es noch weitere Verluste gegeben; auch der Sanitäter, der mir beigestanden und mir wohl bereits beides abgenommen hatte, fiel, so daß ich schon als Namenloser ins Feldlazarett gelangte.«

Damian hielt eine Weile inne, wie von seiner Rückschau in die Bilder des Grauens überwältigt. Dann fuhr er ruhiger fort:

»Nur ganz allmählich kehrte mir das Gedächtnis wieder. Als ich aber erst einmal soweit war, ging es damit reißend schnell aufwärts.

Im Kriegslazarett, in das ich dann verlegt wurde, begegnete ich zu meinem Erstaunen meinem Jugendfreund Reinhard Neefe als verwundetem Feldkaplan. Ich war ja seit Jahren nicht mehr mit ihm zusammengekommen und fand es doch hochanständig von ihm, daß er, der als Geistlicher gar nicht wehrpflichtig war, sich freiwillig als Seelsorger an die Front gemeldet hatte. Nun erst erfuhr ich überhaupt von ihm, daß er es war, der mich dort in der Gruft aufgefunden, und daß er selbst in dem Augenblick verwundet wurde, als er sich persönlich von meinem Abtransport mit anderen Verwundeten im Sanitätsauto überzeugen wollte. Gerade zu der Minute setzte der Tommy mit seinem abendlichen Störungsfeuer auf die Straßenkreuzung vor der Kirche ein, wobei es Reinhard erwischte. Zum Glück kam er mit ein paar Granatsplittern im Arm und der Schulter noch glimpflich davon. Ja, Reinhard hat mir das Leben gerettet, und der Schatten, der uns so lange Jahre voneinander trennte, ist nun ausgelöscht.«

Wieder verstummte Damian für eine Zeit. Dann sagte er, als spräche er weniger zu Sessi als zu sich selbst:

»Damals, an der Heidewasserbrücke, in der Nacht nach unserer Abiturientenkneipe, damals schon war alles vorherbestimmt: der Krieg, der Volltreffer in den Unterstand und meine Rettung durch Reinhard. Wir waren im Streit voneinander geschieden, und doch erfüllten sich Reinhards Worte von der göttlichen Vorsehung, die es ihm einmal gewähren würde, sein Leben für das meine einzusetzen. Wenn ich daran denke, und ich muß immer wieder daran denken, ergreift es mich wie ein Schauer vor der Erkenntnis, daß wir Menschen dem Gott nicht entrinnen können, der in uns unseren Weg bereitet. Wir leben wie ein kunstvolles Uhrwerk. Wir hören und sehen die Uhr unseres Wesens nur gehen. Was sie zeigt, wissen wir nicht.«

Wie die Nadel eines Seismographen von den Erschütterungen eines Nahbebens in wilden Stößen ausschlägt und es doch nur mechanisch registriert, so schlug Sessis Herz von dem Augenblick an, als es durch Damians Angabe von Tag und Stunde seiner Verschüttung wie von einem elektrischen Schlag getroffen wurde, in wildem Jagen los, stand sekundenlang still, als Damian von seiner Vision erzählte, zuckte dann einige Male wild hin und her und begann schließlich wie gehetzt von neuem loszurasen. Ihre Ohren hörten zwar, was er weiter sprach, aber es drang nicht mehr an ihr Bewußtsein. Denn ihr Gehirn erfüllte nur noch eine Vorstellung, die sie von dieser Stunde an, durch Wochen und durch Monate, ja durch Jahre nicht mehr loslassen sollte, die entsetzliche Vorstellung, daß sie zur gleichen Zeit, als Damian im Feuerorkan vor Ypern fast den Tod gefunden, draußen bei den Teichen, von der Schilderung Ballings aus allen Angeln gehoben und zur Erde gesunken, in jenem Feuerüberfall, den sie mit ihrem ganzen Körper erlebte, dem Fähnrich bewußtlos anheimgefallen sei. Aber noch während sie diese Vorstellung quälte, überströmte sie sonderbarerweise von ihrem Herzen her eine Woge heißen, sinnenhaften Verlangens, sich in Damians Arme zu werfen und, von ihnen umfangen, aus jenem Alp befreit zu werden, der vielleicht doch bloß deshalb auf ihr lastete, weil sie den Geliebten damals, im höchsten Augenblick seiner Todesnot und ihrer ohnmächtigen Herzensangst um sein Leben, nur durch den über alle Fernen hinweg wirkenden magnetischen Glutstrom, der ihren Körper entflammte, rettend zu sich emporreißen konnte.

Ja, wäre der Fähnrich nicht gewesen, huschte es Sessi durchs Gehirn, und hätte, ohne es zu ahnen, durch seine bloße körperliche Nähe den Stromkreis zwischen ihr und Damian zur Unzeit unterbrochen, so wäre Damian vielleicht völlig heil, ohne den Verlust seines Gedächtnisses davongekommen.

Mochte es so oder anders gewesen sein, sann Sessi krampfhaft weiter, Damian mußte wissen, daß sie ihm damals, am ersten August, im Augenblick seiner Todesgefahr genau so nahe gewesen war wie er ihr. Nur von dem Fähnrich durfte Damian nun nichts mehr erfahren. Wenn Balling dem Geliebten in seiner Vision schon beunruhigend genug in der Gestalt jenes brutalen Leutnants erschienen war, so sollte er doch nicht noch in ihrer beider Leben eindringen und ihre tiefe Verbundenheit gefährden.

So empfand es Sessi jetzt geradezu als eine Fügung des Schicksals, daß ihr Brief, in dem sie auch Ballings, wenn auch nur nebenher, Erwähnung tat, nicht in Damians Hände gelangt war.

Damians Vertrauen in Sessi war so rückhaltlos, daß er nicht einmal auf den Gedanken kam, sie verberge ihm auch nur das Geringste, als sie ihm, sobald er schwieg, erzählte, was ihr zur selben Stunde, da er von den Erdmassen verschüttet wurde, draußen bei den Teichen während eines Spazierganges widerfahren war. Ohne von Ballings Person auch nur mit einem Wort zu sprechen, berichtete sie ihm den ganzen Vorfall so, wie sie selbst jetzt überzeugt war, ihn erlebt zu haben: daß sie beim feurigen Erglühen des Himmels plötzlich von einer maßlosen Angst um ihn befallen ohnmächtig ins Gebüsch gestürzt wäre, in ihrer Besinnungslosigkeit, die merkwürdigerweise einem fiebrigen Traumzustand ähnlich war, ihn, Damian, deutlich und ganz nahe mehrmals drängend nach ihr rufen gehört habe, bis sie ihn schließlich nach verzweifelter Anstrengung, ihn zu erreichen, in ihren Armen gefühlt habe. Nach ihrem Erwachen habe sie sofort gefürchtet, daß ihm in dieser Stunde draußen des Letzte geschehen sei, und diese Furcht, unter der sie unsäglich gelitten habe, sei ihr in den Wochen, bis sein Telegramm eintraf, schon fast zur schrecklichen Gewißheit geworden.

Dieser Beweis der Fernverbindung zwischen sich und Sessi ergriff Damian im Innersten, ja er betrachtete ihn als Fingerzeig, daß es an der Zeit sei, nun auch durch ihre Verheiratung ihre überirdische Verbundenheit irdisch zu besiegeln. Sie, die ein solches Wunder als Zusammengehörige bestätigt hatte, mußten nun auch vor den Menschen als solche gelten.

Nach diesem Beschluß Damians, den er ihr noch ganz unter dem Eindruck verkündete, den der wunderbare Beweis ihrer liebenden Fernverbundenheit in ihm hinterlassen hatte, jubelte Sessi selig auf. Als trüge sie die Flamme ihres nun erst wahrhaft bräutlich strahlenden Glückes auf den Schalen ihrer Hände offen durch die Stuben, erfüllte sich in den kurzen Wochen der zusammen mit Mutter Christel eifrig betriebenen Hochzeitzurüstungen das Gerberhaus mit dem Glanz ihres scheinbar allen Gemütsverdunkelungen entronnenen Wesens. Nicht einmal, daß sich ihre Mutter, mit der sie doch über ihre Wäscheausstattung und andere Haushaltfragen ins reine kommen mußte, zu einem letzten energischen Versuch aufraffte, die Ehe ihrer Tochter mit diesem bürgerlichen Büchermenschen zu unterbinden, konnte jenes Glücksgefühl in Sessi trüben; und auch das schwerste Geschütz, das Leonie mit der Beschwörung des von Sessi so sehr geliebten und geehrten Vaters auffuhr, indem sie ihr vorstellte, daß Korff lieber die ganze Welt in Fetzen geflucht hätte, ehe er ja zu einer solchen »Mesalliance« mit dem Sohne eines »Lohsackes« gesagt hätte, vermochte Sessi nicht einen Augenblick zu erschüttern.

Von welchen schmerzhaften Grübeleien ihr Damian in derselben Zeit heimgesucht wurde, blieb Sessi gänzlich verborgen, denn es gelang ihm, sich weder vor ihr noch vor den Eltern etwas davon anmerken zu lassen. Wohl, der Beschluß zur Kriegstrauung war gefaßt und stand ebenso unumstößlich in ihm fest wie das wunderbare Ereignis vom ersten August, durch das er in die unnennbare Seligkeit des himmlischen Liebesbesitzes Sessis hinaufgeführt wurde. Dennoch war seitdem in seinem Tiefsten etwas in ihm zurückgeblieben, was vorher nie in ihm gewesen war. Denn auf rätselhafte Weise hatte sich diese Seligkeit mit dem sehnsüchtigen Wunsch vermischt, daß dieses Ereignis ihrer Fernverbundenheit doch besser unterblieben wäre. Wohl, es beglückte ihn noch immer als Bestätigung des Einsseins mit dem geliebten Wesen, und doch konnte er es nicht verwinden, daß er als Todgeweihter im Blitzlicht seiner überklaren Vision hatte sehen müssen, wie Sessi in dem Augenblick, als sie im Begriff stand, ihn zu sich heraufzuheben, von jenem jungen Leutnant weggerissen wurde, dessen Erscheinung er sich nicht erklären konnte, und daß dieser jugendliche Traumfant ihm den Stoß mit dem Fuß versetzt hatte. So sehr Damian sich selber ob seiner skrupelhaften Gedanken verhöhnte, ja ihrer schämte, gegen diesen Schatten in seinem tiefsten Innern war er machtlos.

Er fühlte sich zwar mit ungemindert tiefer Liebe Sessi untrennbar verbunden, und doch geschah es ihm, daß er mitten in einem glückhaften Umfangen der Geliebten, zu dem ihn sein Herz trieb, wenn sie etwa gerade emsig und fröhlich am Nähtisch über der Arbeit an ihrer Ausstattung saß, die Arme von ihr sinken lassen mußte, da sie ihm in einer plötzlichen Ratlosigkeit erlahmten, und in ein melancholisches Starren verfiel, von dessen Grund er doch dem geliebten Mädchen nichts sagen durfte. Es nutzte ihm auch nichts, daß er den Doktor Relper um Rat fragte, dem er zur ambulanten Behandlung zugewiesen war, und der ihn in der Meinung bestärkte, diese unbegreifliche Verwirrung sei nichts als eine Folge seiner Verschüttung bei Ypern.

Als er spürte, daß er keine Gewalt mehr über seine Gemütskräfte besaß, die, wie er sich auch selbst eingestehen mußte, überhaupt durch die langen Monate grauenhaften Kampferlebens und seine Verschüttung in gefährliche Unordnung geraten waren, so daß er nur noch Trümmer jener Ideale heimgebracht hatte, in deren Sicherheit er ins Feld gezogen war, wußte er, daß er nicht länger zögern dürfe, etwas zu unternehmen, um wieder eine klare Einsicht in die Notwendigkeiten seines Inneren zu gewinnen.

Nach nächtelangem vergeblichen Bemühen, diese Einsicht rein verstandesmäßig durch Reflexionen philosophischer Art herbeizuzwingen, fühlte sich Damian eines fahlen Morgens wie durch eine Eingebung an die Erkenntnis herangeführt, daß nur der Mensch seiner recht innezuwerden vermöge, der, statt in die Untiefen seines empirischen Ichs hinabdringen zu wollen, bereit und entschlossen sei, sich in mächtigem Schwünge über sich selbst hinauszuheben. Es galt demnach, gleichsam aus engen tiefen Tälern zu weiten freien Höhen emporzusteigen und von oben her die Welt zu überschauen. Und obwohl der feuchtkalte, nebelverhangene Morgen dieses Oktobertages wahrhaftig nicht zu einer Kammbesteigung einlud, ließ sich Damian nicht im geringsten davon abschrecken, warf sich ungesäumt in warme, wetterfeste Sachen, stopfte sich in der Küche genügend Mundvorrat in den Rucksack und stiefelte los, noch ehe das Haus erwachte. Bis zur Endstation Himmelreich benutzte er die Rehberger Talbahn, stieg dann rüstig über die Hendrichhäuser aufwärts und stracks ins wolkenverhüllte Gebirge hinein.

*

Drei Stunden später befand sich Damian bereits dicht unterm Kamm am Rande der Schneegruben. Bis hierher war er wie in einem Zwang, dem er sich willenlos fügte, gekommen, ohne um oder hinter sich zu sehen, mit gesenktem Kopf gegen die tosenden Windstöße angehend, die ihm, sobald er die Brotbaude hinter sich gebracht hatte, fast den Atem verschlugen. Von dem harten, pausenlosen Aufstieg hämmerte in der merklich dünneren Luft sein Herz, und über seinen noch von den Monaten des Grabenkrieges abgezehrten, für einen solchen Gewaltmarsch untrainierten Körper lief ein Zittern, daß er plötzlich das unwiderstehliche Gefühl hatte, vor Schwäche nicht mehr einen Schritt weiterzukönnen. In dieser Erschöpfung drückte es ihn, obwohl die Schneegrubenbaude schon fast zum Greifen nahe über ihm stand, wie mit zentnerschweren Gewichten in die Knie, so daß er sich auf den ersten besten Geröllstein des hier hart am Abgrund hinlaufenden Weges niederlassen mußte. Wenn er sich auch in Schweiß marschiert hatte, so fröstelte ihn jetzt doch bald in den wilden Sturmböen, die sich, so hörte es sich wenigstens an, mit Vehemenz in die Schneegruben stürzten, mit Getöse in ihnen herumwirbelten und wieder aus ihnen herausjagten. Er griff nach seiner Feldflasche, erinnerte sich dann aber, daß er sie am Morgen in der Eile seines frühen Aufbruchs nur mit kaltem Kaffee gefüllt hatte, und hielt sie, während er wie gebannt in die dröhnende Tiefe blickte, mißmutig zwischen seinen Knien.

Während er so, ermattet und entgeistet, unter einem tiefgrauen Himmel mitten im elementarischen Aufruhr der Lüfte dasaß, beschlich ihn unversehens ein nur zu wohlbekanntes, höchst unbehagliches Gefühl. Er wähnte, sich vor dem eigenen Graben, ganz auf sich gestellt, in einer weit vorgetriebenen Sappe auf Feldwache zu befinden, endlos lange schon, wie ihm schien. Über ihm heulten und orgelten geisterhaft, aus aberhundert unsichtbaren Schlünden aller Kaliber emporgeschleudert, die leichten und die schweren Brocken ihre Bahnen. Hinter ihm dröhnte es in gleichförmig auf- und abschwellenden rasenden Rhythmen, wie wenn Millionen dumpfer Trommeln einen schaurigen Totentanz schlügen, und dicht vor ihm hämmerte das eigene Sperrfeuer auf die ersten feindlichen Gräben, daß er sich in das bebende Fleckchen Erde, auf dem er kauerte, wie ein Schiffbrüchiger in das winzige Boot verkrallte, das im Orkan zu kentern droht.

So sehr überwältigte ihn diese halluzinatorische Vorstellung, daß er in dem Augenblick, da die wilden Sturmböen, die ihm als Hagelschauer kurze Minuten lang ins Gesicht peitschten, wie mit einem Schlage aussetzten, vollkommen seiner Sinnentäuschung erlag und, mit offenen Augen in den wolkenbrodelnden Abgrund vor sich schauend, diesen für einen riesigen, eben durch Sprengung entstandenen Trichter hielt, über dessen Ränder, von dichten, künstlich gewälzten Rauchschwaden verhüllt, Dutzende schattenhafter Gestalten in englischen Stahlhelmen gerade auf ihn anzustürmen begannen. Da riß es ihn, der schon längst angespannt auf diesen Moment lauerte, hoch, und zu einem weiten Schwünge ausholend, schleuderte er das Ding in seinen Händen, die Feldflasche, gleich einer Handgranate mit einem jähen Aufschrei in die Richtung der anstürmenden Tommies. Zugleich spürte er, wie sich etwas, als zerreiße es ihn, in seinem Innern von ihm löste, das gleich einem körperlosen Wesen, das ihm aber irgendwie ähnlich war, mit jenem Schrei aus ihm herausfuhr, in diese Klaftertiefe vor ihm stürzte und noch einmal als verlöschendes Wimmern zu ihm heraufdrang. Dann wurde es ihm wie einem durch plötzlichen Blutverlust geschwächten Menschen dunkel vor den Augen, und er sank bewußtlos zu Boden.

Als er wieder zu sich kam, fühlte er sich auf eine unbegreifliche Weise befreit und klar. Gestärkt wie nach einer ausgiebigen Rast, erhob er sich rasch, griff entschlossen nach seinem Stock und begann forsch auf die Baude zu auszuschreiten. Noch immer tobte der Sturm, doch jetzt traf er ihn vom Rücken her und schob ihn fast mühelos bergauf. Von dem, was sich mit ihm Geheimnisvolles ereignet hatte, ehe ihn die Sinne verließen, wußte er nichts mehr. Nur, daß er jetzt ein anderer war wie vorher und daß er dort am Rande der Schneegruben von jenem Schatten erlöst worden war, dem er für sich seit seiner Verschüttung den Namen »Frontalp« gegeben, nur dies empfand er jetzt mit einer solchen Erleichterung, daß es ihn dazu verführte, im Takt seiner Schritte immer wieder überschwenglich vor sich hinzusprechen: »Zerstoben, zerblasen.«

Auf dem freien Plan vor der Baude packte ihn der Sturm noch einmal so gewaltig, daß es ihn förmlich zur Türe hereinwirbelte. Aufatmend ließ er sich an einem Fensterplatz nieder, stellte fest, daß er, abgesehen von zwei Fuhrleuten, die ihren Korn vor sich stehen hatten, der einzige Gast war, und bestellte sich bei der aus ihrem Hindösen aufgeschreckten Kellnerin ein Viertel Rotwein, zu dem er mit Behagen das Brot, die Butter und den Käse aus seinem Rucksack verzehrte. Dann stopfte er sich seine kurze Pfeife, ließ sich noch ein zweites und endlich noch ein drittes Viertel Roten kommen, streckte seine Beine unter den Tisch und verlor sich in die Betrachtung des großartigen Naturschauspiels, das sich durch die Scheiben seinen Blicken bot. Noch während er aß, heulte und tobte der Sturm um die Baude, daß der mächtige hölzerne Bau in allen Fugen ächzte, dann riß mit einem Male das Toben ab, und ringsum war es atemstill. Damian schaute hinunter in ein milchig-wogendes, langsam in die Tiefe sinkendes Wolkenmeer, über dem gerade, sieghaft aus einer unwahrscheinlichen Himmelsbläue hervorbrechend, die Sonne so herrlich zu spielen begann, daß er bald die Empfindung hatte, aus dem Mastkorb eines viele Stockwerke hohen Schiffes in einen Ozean von schaumgoldenen Wogen hinabzuschauen.

Geblendet mußte er nach einer Weile die Augen schließen. Als er seinen Blick von neuem in die Tiefe gleiten ließ, hatte sich das Wolkenmeer da unten in durcheinanderbrandende Nebelschwaden aufgelöst, durch die er minutenlang aus seinem Himmelssitz bis in die bunte Erdenwelt hinabschauen konnte, aus der es ihn, wie er meinte, auf den Schwingen des Sturmes bis hierher heraufgetragen hatte. Hingenommen von dem Auftauchen und Verschwinden dieser Menschenwelt, gebannt von dem Kampf des mächtigen Tagesgestirns mit den Nebelballen, die gleich den Wahnverdunklungen der Menschenkinder aus den Wäldern aufsteigen und immer wieder vom Sonnenlicht aufgesogen werden, wurde Damian ahnungsvoll an die Erkenntnis herangeführt, daß dieses Leben zwischen Tag und Traum, zwischen Licht und Dunkel nur der bunte Schleier vor unserem Dasein ist. Und wie von einer erst fern, dann immer näher und schließlich so stark tönenden Stimme genötigt, daß er sie überwältigt zu Worten formen mußte, sprach er jenen Hymnus laut vor sich hin, den er, seit er ihn in den klaren, schön geschwungenen Federzügen des großen preußischen Dichters vor sich gesehen, in seinem Herzen wie auf einer Wachstafel gehütet und durch all die Jahre mit sich getragen hatte:

»Über die Häupter der Riesen, hoch in der Lüfte Meer,
Trägt mich, Vater der Riesen, dein dreigezackigter Fels.
Nebel walten,
Wie Nachtgestalten,
Um die Scheitel der Riesen her,
Und ich erwarte dich, Leuchtender!

Deinen prächtigen Glanz borge der Finsternis,
Allerleuchtender Stern! Du der unendlichen Welt
Ewiger Herrscher,
Du des Lebens
Unversiegbarer Quell, gieße die Strahlen herauf,
Helios, wälze dein Flammenrad!
Sieh! Er wälzt es herauf! Die Nächte, wie sie entfliehn –
Leuchtend schreibet der Gott seinen Namen dahin,
Hingeschrieben
Mit dem Griffel des Strahles,
›Kreaturen, huldigt ihr mir?‹
Leuchte, Herrscher! Wir huldigen dir!«

Als er geendigt, sah Damian erschrocken über sich selbst um sich, aber niemand hatte ihn hören können. Die beiden Fuhrleute waren längst gegangen, und auch die Schankmagd mußte wohl in die Küche verschwunden sein.

Bald saß er wieder in Gedanken verloren und nahm den Anblick des weiten ebenen schlesischen Landes in sich auf, das er wieder und wieder unter der zerrissenen Nebeldecke vor sich liegen sah. Mit einem Male schienen ihm die vielen glitzernden Spiegel der Teiche am Fuß des Gebirges wie von einer innerirdischen Verzückung emporgehoben, wie ewigkeitsentzündet vom Glanz der durchbrechenden Sonne. Und aus ihren tiefen Himmelsaugen schauten ihn die Augen Sessis an, die ihm nie erlöschen würden. ›Ja, die Sonne‹, sann Damian, im Innersten bewegt, ›die Sonne ist das sichtbare Licht des Ewigen, das in uns brennt und um das unser Leben gleich einem farbigen Schimmer glüht. Es in mir zu nähren und zu hüten soll die Aufgabe und das Ziel aller meiner Erdentage sein.‹

*

Jenes Licht des Ewigen, von dessen Widerschein Damian am Fenster der Schneegrubenbaude in die Sicherheit seines Wesens zurückgeführt worden war, schimmerte nach seiner Heimkehr ins Gerberhaus mit solch unvermindertem Glanz in seiner Seele weiter, daß ihn weder die immer trister werdenden Nebel- und Herbsttage noch die düsteren Prognosen Jochens über die unabwendbar heraufziehende Hungersnot zu bedrücken vermochten.

Wie trügerisch jenes Gefühl der Sicherheit war, von der Unruhe und den Schatten, die ihn wochenlang getrieben hatten, befreit zu sein, wie viele Prüfungen ihm noch vorbehalten waren, ehe er ganz vom Licht des Ewigen, das er schon in sich brennen wähnte, durchglüht sein würde, konnte Damian freilich nicht ahnen. Der Mensch kennt ja von sich und dem Leben im Grunde nicht einmal die Gegenwart, sondern nur die Vergangenheit, denn die Tatsachen sind in dem Augenblick, da sie uns zum Bewußtsein kommen, überwundene Ereignisse.

Die schwerste dieser Prüfungen, die ein unerforschliches Schicksal für Damian bereithielt, begann genau an dem Tage seiner Hochzeit, die ihn, wie er in seiner neu gewonnenen hohen Lebenszuversicht glaubte, zusammen mit Sessi durch die Pforte der Ehe in jenes höhere menschliche Sein emporführen würde, das er als glückvolles Ziel seiner männlichen Sehnsucht ebenso erwartungsvoll wie Sessi ihrerseits aus ihrem weiblichen Empfinden im Herzen trug.

Da sich weder Sessi noch Damian im tieferen Sinne kirchlich gebunden fühlten, fand ihre Eheschließung, sehr zur Betrübnis Mutter Christels, nur als unscheinbare Kriegstrauung am zweiten November vor dem Wilkauer Standesamt statt. Frau von Schillingkhoff entzog sich durch eine sicherlich nur vorgeschützte Krankheit der Teilnahme daran, so daß Sessi, welche dieses als bewußte Kränkung empfundene Fernbleiben ihrer Mutter doch recht schmerzlich berührte, auf Christels Vorschlag einging und Doktor Fohl als ihren Trauzeugen wählte.

Auch Damian hatte eine Enttäuschung zu überwinden, da sich Walter infolge eines Sturzes gerade einer langwierigen klinischen Behandlung seines wieder aufgebrochenen Stumpfes unterziehen mußte und Damians Einladung nicht Folge leisten konnte. Selbst sein generöses Hochzeitsgeschenk, die vielbändige Halblederausgabe der Klassiker des Altertums, die am Hochzeitsmorgen eintraf, konnte Damian das Ausbleiben seines Freundes nicht im geringsten ersetzen.

So herrschte bei dem kriegsmäßig einfachen, doch von Mutter Christel in festlicher Form und mit guten Weinen dargebotenen Mahle, an dem außer den Vermählten und Damians Eltern nur noch Doktor Fohl teilnahm, von Anfang an eine bedrückte Stimmung im Gerberhaus. Auf Sessis Gemüt lastete das Fehlen der Mutter mehr, als sie sich selbst einzugestehen bereit war, so daß sie bei sich beschloß, Doktor Fohl zu bitten, am nächsten Tag doch einmal nach dem Befinden Mutters zu sehen. Damian erging es ähnlich Walters wegen. Dessen lebhafte, aufgeschlossene und von Grund auf optimistische Wesensart, in die er sich trotz seiner schweren Kriegsbeschädigung wieder zurückgefunden hatte, wäre Damian um so willkommener gewesen, als der Vater, der ihm seit seiner Heimkehr erschreckend gealtert vorkam, in seiner gütigen, mit geheimen, nur halb ausgesprochenen Zweifeln und Sorgen geladenen Stumpfheit geradezu lähmend auf alle wirkte.

Als Mutter Christel, die sich für diesen Tag zwar eine Kochfrau gemietet hatte, aber die Speisen selbst auf- und abtrug, den Braten auf den Tisch setzte, sagte Jochen:

»Eßt, Kinder, eßt! Ja, verehrte Schwiegertochter, eßt, eßt Vorrat ... wir werden es noch brauchen, sag' ich euch!«

Dann brach ein Lachen aus ihm, das in endlosem Schleimhusten erstickte. Mutter Christel bemühte sich sofort um ihn und führte den Erschöpften schließlich auf den Backenstuhl am Fenster, von dem er aus seinen bis auf einen Spalt geschlossenen Augen das junge Paar kritisch und wie lauernd beobachtete.

Nur Mutter Christel, deren einfache, gütig-tüchtige Seele ahnte, was die Gemüter der Neuvermählten bewegte und bedrückte, suchte durch fröhliche Aufgeräumtheit und Verdoppelung ihrer hausmütterlichen Geschäftigkeit der beladenen Stimmung bei Tische entgegenzuwirken, um die Herzen der beiden geliebten Menschen zu beflügeln und ihnen zu jenem Gefühl glücklicher Beschwingtheit zu verhelfen, dessen Mann und Frau für ihre ersten gemeinsamen Schritte ins Eheleben bedürfen, um nicht von Anbeginn zu straucheln. Vor allem Sessi hatte, wie Christel spürte, eine Aufrichtung nötig, und so strich sie ihr jedesmal, wenn sie an ihrem Platz vorüberging, in sorgender Liebe über den Scheitel.

Doch erst nach Tisch, bei Christels echtem Kaffee, selbstgebrautem Brombeerlikör und unter der poltrig-witzigen Redseligkeit, zu der Doktor Fohl inzwischen aufgetaut war, erhellte sich die dumpfe Stimmung wenigstens so weit, daß Christel erleichtert aufatmen konnte. Und als ob der Wettergeist, der gerade um die Mittagszeit mit Regengüssen an die Fenster getrommelt hatte, tief beeindruckt von dem Siege wäre, den die Hausgeister drinnen über die trüben Herzen davongetragen, klärte sich draußen in Minutenschnelle der Himmel auf, die Sonne stieß durch die Wolken und glänzte so verlockend durch die frisch gewaschenen Scheiben in die gute Stube, in der man heute saß, daß Damian nach einem kurzen Gang vors Haus Sessi vorschlug, durch einen einsamen Spaziergang die eigentliche Innenfeier ihres Hochzeitstages zu begehen. Sessi war auch sofort und freudig dazu bereit. Da sie sich jedoch schon seit Stunden nicht aus einer geheimen Unruhe um das Befinden ihrer Mutter lösen konnte, bat sie Damian, mit ihr nach Scherichsdorf hinauszuwandern, damit sie sich dort persönlich nach dem Ergehen der Mutter erkundigen könne.

Ehe sie aufbrachen, forderte Christel die junge Frau, ohne daß es Damian merkte, auf, mit ihr die Stube zu verlassen. Gemeinsam stiegen sie dann in den Oberstock hinauf. Dort öffnete Mutter Christel mit einer bedeutsamen und liebevollen Gebärde die Tür zu einer Stube, in der sie seit Wochen so geheimnisvoll gewerkt und rumort hatte, als gelte es dem Aufbau einer Weihnachtsstube. Es war das kleine schmucke Schlafzimmer, das Christel den Neuvermählten eingerichtet hatte und in dem sie ihre Hochzeitsnacht verbringen sollten. Voller Stolz und Liebe zeigte sie es nun Sessi:

»Gefällt dir's, liebste Sessi?«

Statt der Antwort sank ihr diese an die Brust, und während sich die beiden Frauen in den Armen lagen, flüsterte Christel unter glückhaftem Schluchzen:

»Viel, viel, alles Glück, liebstes Mädel, denn von der ersten Nacht hängt so viel ab, was nur wir Frauen wissen.«

Was Mutter Christel sonst noch auf der Zunge haben mochte, blieb unausgesprochen, da sich drunten im Hausflur Damians Stimme vernehmen ließ, der, schon wartend, nach Sessi rief.

Ohne es eigentlich zu wollen, wanderten die beiden nicht zuerst nach dem Witwenhäuschen Leonies in Scherichsdorf hinaus, sondern um Wilkau herum in den »Berggarten«, den die Gemeinde einst dem Großvater und seinen Nachkommen zu immerwährendem Nießbrauch als Dank für den durch seine Tatkraft zustande gekommenen Bau des ersten Wilkauer Wasserwerks geschenkt hatte. Dort ließen sie sich auf dem von Meister Jochen eines Tages wieder erneuerten Bänklein nieder, auf dem Nathanael, das himmelssüchtige Gebirge vor Augen, so gern gesessen, und auf dem Damians Vater ihn tot aufgefunden hatte, später aber von dem Gespenst Nathanaels so erschreckt worden war, daß er die Bank eingerissen hatte.

Ohne zu sprechen, saßen sie hier lange Zeit, handverschlungen und versunken, hingegeben an das früh hereinbrechende abendliche Rotwolkenspiel, das über dem schon verschneiten Kamm hoch am Himmel traumvoll seine Formen wandelte und auf den Spiegeln der Teiche gedämpft widerfunkelte.

Dann gingen sie über die Feldwege hinüber zum Scholzenberg. Die Häuser wurden schon hier und da erleuchtet, und als sie den Berg hinanstiegen, glommen bereits die Fenster der ganzen Häuserreihe im Lampenlicht. Nur das Witwenhaus lag noch vollkommen dunkel da. In Sessi wuchs sogleich wieder die Unruhe hoch, und sie beschleunigten ihre Schritte. Als sie bei dem Häuschen anlangten, trafen sie vor der Haustür auf die Aufwartefrau, die nach den Teichen zu Ausschau hielt. Sie ließ Sessi gar nicht erst zu Worte kommen, sondern sprach sofort auf sie ein:

»Nu, da is och gutt, daß Sie kommen. Die gnädige Frau sagte, es ginge ihr wieder besser, und da wollte sie a paar Schritte in den Wiesen drunten, of de Teiche zu machen. Sie wollte nie lange sein, sagte sie. Ich sollte nich warten, den Schlüssel of de oberste Stufe legen und nach Hause gehn. Aber ich hab's nich zu Hause dermacht, und nu steh ich und seh und seh, und, nee, wissen Sie, die Gnädige gefiel mir nich. Sie war wie ausgeblasen, aber in den Augen hatte sie ein ma mechte sprechen wildes Reiten und raffte immerzu am Kleede. Und drnach, wie sie und sie ging, war sie grade, beisammen und ober naus, akkurat wie es sich für so 'ne Dame gehört...«

Als sie soweit gekommen war, unterbrach Damian, nun doch auch stutzig geworden, den Wortschwall, ließ sich von der redseligen Frau ungeduldig den Weg beschreiben, den Frau Leonie wohl gegangen sein mochte, und eilte mit Sessi in der angegebenen Richtung los. Bei völliger Dunkelheit fanden sie nach langem Suchen und Rufen Sessis Mutter am ersten Teich, unweit der Stelle, wo sich der Vorfall Sessis mit dem Fähnrich ereignet hatte, tot auf, wohl vom Schlage getroffen, und so hingeschlagen, daß ihr halber Oberkörper mit dem Kopf im seichten Wasser des Teiches hing, schon starr und mit blau angelaufenem Gesicht wie eine Wasserleiche.

Es war schon lange nach Mitternacht, als Sessi und Damian, nachdem sie Leonies entseelten Körper noch mit in das Haus am Scholzenberg hatten schaffen helfen, völlig ermattet und verstört endlich wieder am Gerberhaus anlangten und sich über die Stiege in ihr Hochzeitsstübchen hinaufschlichen. Verzweifelt aneinandergeschmiegt fielen sie in einen bleiernen Schlaf, aus dem Sessi jedoch gegen Morgen mit einem kleinen Schrei erwachte:

»Damian, Liebster, liebster Damian!«

Fiebernd zog sie den Mann an sich, umklammerte ihn mit einer Wildheit, als sei sie von Sinnen, und riß ihn, wie eine zu Tode Gehetzte, Erdurstete, förmlich in sich hinein.

*

Ob der Tod Frau von Schillingkhoff am Abend des Hochzeitstages ihrer Tochter Sessi auf natürliche Weise ereilt oder ob sie ihn da draußen an den Teichen selbst gesucht hatte, um die Schande der vollzogenen Ehe ihres einzigen Kindes mit dem Sohne eines »Lohsackes« nicht zu überleben, blieb unaufgeklärt. Denn der Totenschein, den Doktor Fohl ausstellte, lautete einfach auf »Herzschlag«. Sowohl auf Sessis wie Damians tastende Fragen entzog sich der Arzt geschickt jeder persönlichen Stellungnahme oder Vermutung.

Wenn Damian für sich auch überzeugt war, daß die Baronin in einem Zustande hochgradiger Erregung ins Freie geflüchtet und in dem Teich den Tod gefunden hatte, so hütete er sich Sessi gegenüber doch wohlweislich vor jeder Andeutung eines inneren Zusammenhangs zwischen dem furchtbaren Ende ihrer Mutter und seiner Heirat mit Sessi. Denn Sessi war ohnehin von dem rätselhaften Tod ihrer Mutter bis in die letzten Gründe ihres Wesens erschüttert.

Auch Sessi zweifelte nicht daran, daß ihre Mutter ihrem Leben freiwillig ein Ende gemacht hatte, einem Leben, das ihr schon seit vielen Jahren zerstört war und darin sie eigentlich nur noch vegetierte gleich einer hochgezüchteten Blume, die man lieblos irgendwohin auf den Kehricht geworfen hat, wo sie, kümmerlich wurzelnd, doch nie ihre edle Herkunft vergessend, sich aus abgelebten Träumen nährt, bis sie eines Tages ihr lichtloses Dasein nicht mehr erträgt und sich aus Ekel über diese Welt lebensüberdrüssig zu Boden sinken läßt.

Wenn Sessi das Schicksal ihrer Mutter auch nicht gerade unter diesem Bilde sah, so fühlte sie dunkel doch etwas Ähnliches, und das peinigte sie und trieb sie unter heftigen Selbstvorwürfen in einen solchen gesteigerten und vertieften Schmerz um den Tod ihrer Mutter, daß Damian alle Mühe hatte, sie wenigstens soweit aufzurichten, wie es die äußeren Notwendigkeiten eines Todesfalles nun einmal erfordern und in diesem Falle sowohl Sessi wie Damian noch vor eine besonders heikle Aufgabe stellten. Denn sei es durch die Redseligkeit der Aufwartefrau, sei es durch irgendwelche Lästermäuler, die es überall gibt, aber in Wilkau offenbar wie die Pilze wucherten, hatte sich schon am nächsten Tage mit Windeseile das Gerücht verbreitet, daß sich die arme Baronin ertränkt habe, weil ihre Tochter sich von ihr losgesagt und die Mutter nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen hätte.

Nach Mutter Christels Ansicht, der sich die reichlich verstörten jungen Eheleute erst zögernd, dann aber doch ermutigt anschlossen, war es jetzt nur noch durch die Art und Weise der Bestattung denkbar, diesen Lästermäulern einen Riegel vorzuschieben, der sie wenigstens halbwegs verstummen lassen würde.

Wieder mußte, so schwer es Sessi auch ankam, die weitläufige Verwandtschaft mit dem reichsgräflichen Hause dafür in Anspruch genommen werden. Zur eigenen Überraschung Sessis, vor der in ihrem Elternhause, wohl durch Vaters freidenkerisches Wesen bedingt, über religiöse Dinge niemals gesprochen worden war, stellte sich bei ihrer Unterredung im Schlosse an Hand der von ihr aus Mutters Sekretär entnommenen Dokumente heraus, daß die verstorbene Baronin katholisch getauft war und, wenn auch nur nominell, bis zu ihrem Tode der Kirche angehört hatte. Nach einem in manchen hochadligen Familien geltenden Hausgesetz, das man auch in Eleonorens fürstlichem Elternhaus peinlich beachtet hatte, wurden, sofern die Ehegatten verschiedenen Konfessionen angehörten, die Töchter nach der Konfession der Mutter, die Söhne nach der des Vaters getauft. Das erleichterte die Situation für Graf Schilling wesentlich, und da laut Totenschein Herzschlag als Todesursache feststand, war Sessis Mutter auch ein kirchliches Leichenbegängnis gesichert, das im Falle ihres unbezweifelbaren Freitodes bei der Kirchenbehörde durchzusetzen wohl selbst dem großen Einfluß des Grafen Schilling kaum gelungen wäre.

So fand nach drei für Sessis Gefühl endlos währenden Tagen, in denen sie sich so verzweifelt dem Dienst der Trauer hingab, daß Damian fast für ihren Verstand fürchtete, das Leichenbegängnis Frau von Schillingkhoffs mit allem kirchlichen Gepränge unter Vorantritt dreier Geistlicher, des Pfarrers, seines Kaplans und des Schloßgeistlichen, statt. Und als sich am Schloßplatz auch der Graf mit seiner Familie und der ganze Adel Wilkaus den Angehörigen, Sessi, Damian und dessen Eltern, anschlössen, verschlug angesichts eines so ehrenvollen Kondukts auch den bösesten Lästermäulern die Sprache. Ja, Sessi, die aus einem Augenblickseinfall dazu ihre Schwesterntracht trug, wurde von der wie mit einem Schlage verwandelten Meinung der Wilkauer als Vollwaise bedauert und in Erinnerung ihres aufopfernden Pflegedienstes im Langen Hause, aus dem sich unter Führung des Oberstabsarztes Doktor Freitag eine Anzahl Verwundeter als Ehrenabordnung für sie eingefunden hatte, als der »Engel von Wilkau« geradezu in eine Gloriole ehrfürchtiger Bewunderung gehüllt

Als der Sarg in die Tiefe geglitten war und die Verwundeten Sessi, die nun auch Damian wie ein erdentrücktes, leidverklärtes, merkwürdig hoheitsvolles Wesen erschien, in stummer herzlicher Anteilnahme die Hand drückten, überkam es Damian plötzlich, daß sich ihm ein seit Jahren im Dunkel liegender Winkel seiner Erinnerung erhellte und ihm im Anblick der geliebten Frau die Schlußverse jenes Sonetts an die königliche Dulderin wie von selbst leise über die Lippen kamen, das er damals in dem Schaukasten der Breslauer Jahrhundertausstellung in der Handschrift des Dichters so hingenommen betrachtet hatte.

»Dein Haupt scheint wie von Strahlen mir umschimmert,
Du bist der Stern, der voller Pracht erst flimmert,
Wenn er durch finstre Wetterwolken bricht.«

Nach der Heimkehr vom frischen Grabe der Mutter verließ Sessi die solange mühsam bewahrte Fassung völlig. Ihr verzweifeltes Schluchzen schnürte Damian das Herz dermaßen ab, daß er Mutter Christel bat, sich des untröstlichen ärmsten Wesens anzunehmen. Um sich selbst der Bedrückung über Sessis Verstörung etwas zu erwehren, wie auch um seine eigenen um den versiegelten Sinn des schweren Schicksals der Baronin kreisenden Gedanken unter die Füße zu bekommen, verließ er kurzerhand das Haus und wanderte in der Richtung nach Schwarzhof aus Wilkau hinaus.

Als er nach gut anderthalb Stunden vor den Ruinen der Heinrichsburg anlangte, geisterten um das alte Gemäuer schon die grauen Schatten der novemberlichen Abenddämmerung unter einem wolkenklaren Himmel, die ersten Sterne flimmerten auf, und die eben heraufgestiegene Scheibe des Mondes schien gleich einer kreisrunden gelblich-fahlen Ampel dicht über dem Mauerwerk aufgehängt.

Darüber wurde Damian unversehens von jener inneren Auflösungssucht angefallen, die seit seiner Verschüttung über ihn gekommen war und deren er sich noch nie hatte erwehren können. Auch heute wurde er durch sie offenen Auges in eine ohnmachtähnliche Bewußtlosigkeit geführt. Mit einem Male verloren sich die Umrisse der Ruine in ein unräumliches Grau, und ohne es zu spüren, sank er zu Boden.

Als er sich nach langem aus diesem Zustand ins Bewußtsein zurückfand, sich jedoch noch immer kraftlos an die Erde gebannt fühlte und seine glückhaft-wundersüchtigen Augen am sternenüberfiimmerten Firmament der jetzt mattgolden leuchtenden Scheibe des nächtlichen Planeten begegneten, der das eingefangene Sonnenlicht widerstrahlt, drang bei diesem Anblick etwas wie eine unnennbare Entzückung auf ihn ein. Und plötzlich spürte er, wie ein körperloses, doch wirkliches Wesen sich zu ihm niederneigte und mit einer geisterhaft aus seinem eigenen Inneren herauftönenden und doch den ganzen Weltraum erfüllenden Stimme folgende Worte sprach:

»Wir tragen einen Funken jenes ewigen Lichtes in uns, das im Grunde alles Seins leuchten muß und das unsere schwachen Sinne nur von ferne ahnen können. Diesen Funken in uns zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, ist unsere höchste Pflicht.«

So stark und klar stieg diese Verkündigung in ihm auf, daß er glauben mußte, die Stimme töne als eine sehnsüchtige Forderung an die ganze Welt. Davon erwachte er völlig zu seinem alten Daseinsgefühl, und reißend trieb es ihn auf die Füße. Und weil er in dem wirklichen unkörperlichen Wesen, das sich über ihn geneigt und von dem diese Verkündigung herkommen mußte, Sessis Liebesmacht zu erkennen glaubte, schritt er gehoben durch die mondhelle sternenübersäte Nacht in der Sicherheit eines Mannes nach Hause, der sich bewußt war, mit seiner hohen Liebe zugleich die Pflicht hoher Lebensführung empfangen zu haben.

*

Weder Mutter Christel noch Damian wußten sich im Grunde den noch tagelang anhaltenden verzweifelten Schmerz Sessis zu erklären. Schließlich hatte die Baronin selbst es seit langem an mütterlichem Gefühl für ihr einziges Kind in einer Weise fehlen lassen, daß auch Sessi mindestens seit ihrer Übersiedlung ins Gerberhaus kaum noch ein tieferes Band mit ihr zu verknüpfen schien. Es war auch nicht so sehr der Gram um den Verlust der Mutter; ja nicht einmal die in der ersten Erschütterung über ihr selbstgewähltes Ende in Sessi aufgestiegenen Selbstvorwürfe, schuldhaften Anteil daran zu haben, waren es, welche die junge Frau so verstörten. Es war vielmehr die für Sessi unerträgliche Vorstellung, daß ihre Mutter dicht an der Stelle ihres geheimnisvollen Ereignisses mit dem Fähnrich Balling den Tod gesucht und gefunden hatte. Diese Vorstellung quälte sie unsäglich und führte sie von Tag zu Tag stärker an die Ahnung heran, von jetzt ab unentrinnbar in ein tragisches Schicksal verkettet zu sein. Denn sie kam einfach nicht mehr von der Empfindung los, die sie seitdem beängstigender als je zuvor überfallen hatte, dem Fähnrich damals bewußtlos anheimgefallen zu sein. Auch als es ihr endlich gelungen war, sich äußerlich zu beruhigen und sie sich bemühte, den Pflichten, die ihr der neue eigene Haushalt auferlegte, tagsüber gerecht zu werden, verdunkelte ihr diese Ahnung allnächtlich wie Schattenflüge schwarzer Vogelschwärme das Gemüt.

Um diesen wahnsinnigen Alpdruck zunichte zu machen und ihre zum Reißen gespannten Nerven aus dem andauernden krampfähnlichen Zustand zu lösen, drängte sie sich, wie schon in der Hochzeitsnacht, immer von neuem leidenschaftlich in die Arme ihres Mannes, daß Damian bald richtig bekümmert über die Ausschweifung seines Weibes wurde, die sich vor ihm in ein furioses, mänadisches, ja unstillbar-gieriges Wesen verwandelte, in ein ganz anderes, als er bisher, in ihr gesehen und geliebt. Und jedesmal, wenn Sessi von dem Genuß dieser wilden Liebe erschöpft und aufgelöst dalag, brach sie in ein Weinen aus, das sich bis zum konvulsivischen Schluchzen steigerte. Vergebens suchte Damian dann in sie zu dringen. Sie vergrub nur ihr Gesicht in seinen umfangenden Armen, schüttelte in leidenschaftlicher Gegenwehr den Kopf und stotterte:

»Nein ... nein!«

Eines Nachts brach sie dabei, von einer Damian unerklärlichen Angst gefoltert, in die Worte aus:

»... Um Gottes willen ... armer Damian!«

Wieder suchte Damian aus ihr herauszufragen, was sie denn dermaßen quäle:

»Ja, was ist dir denn nur, liebste Sessi, liebstes Weib ...?«

Aber Sessi stotterte abermals nur:

»Nein ... nein!« Dann rief sie so flehend: »Es ist nicht wahr. Nein!!«

»Aber allerliebster Mensch«, drang Damian, erschüttert und geängstigt zugleich, weiter in sie: »Ich beschwöre dich bei allem, was dir heilig ist, sprich, was ist nicht wahr?!«

Doch Sessi schluchzte nur noch hemmungsloser auf, warf sich an seine Brust und flüsterte:

»Nein, nein, ich schäme mich so ... oh, mein Gott. Nein, es ist nicht wahr!«

Ratlos mußte Damian davon abstehen, dem Grunde dieser merkwürdigen Selbstanklage seines Weibes näherzukommen.

Was in diesen nächtlichen Stunden in Sessi vorging, konnte selbst Damians tiefste Liebe gar nicht erspüren. Denn immer, wenn Sessi in ihrer körperlichen Erschöpfung auf das Erlöschen jenes Ahnungsschattens wartete, der sie marterte, erschien ihr das Bild des Fähnrichs, der mit gierigen Augen über sie gebeugt stammelte: »Liebe, liebe Sessi!«

In einer der folgenden Nächte verwandelten sich Sessi unter dem Paroxismus ihrer Angst die Züge ihres Mannes gar in die des Fähnrichs, so daß sie Damian, der sich wieder bettelnd und beschwörend über sie neigte, unter dem empörten Schrei: »Geh weg!« plötzlich einen Stoß vor die Brust versetzte, aus dem Bett sprang, wie gepeitscht ans Fenster lief und dort bewußtlos zusammenbrach.

Von dieser Nacht an war Sessi wie verwandelt, ihr mänadisches Wesen von ihr abgefallen, als wäre ihr unstillbares Verlangen nach Damian von gestern auf heute erloschen.

Als Damian nach einiger Zeit darüber nicht weniger verwundert als über die Hemmungslosigkeit seines Weibes in all den Nächten zuvor sich Sessi zärtlich zu nähern versuchte, versagte sie sich ihm und ließ sich endlich auf sein Drängen nur zu der Erklärung herbei, daß sie büßen müsse. Auf dieser Haltung beharrte Sessi fortan und ließ sich durch keine List und keine Liebe das Geheimnis jenes Verschuldens entlocken, für das sie auf diese Weise zu büßen entschlossen war. Nur einmal bekannte sie Damian noch soviel: »Wenn alles in mir wieder rein und geordnet ist, komme ich von selbst wieder zu dir, dann wollen wir aufs neue Hochzeit feiern.«

*

Nach dieser für Damian unfaßbaren Zerstörung aller seiner hohen Erwartungen vom ehelichen Glück, kaum daß ihn ein Monat vom Tage seiner Hochzeit trennte, verließ Damian das Bedürfnis nach Auflösung, das wir Liebe nennen, zwar ebensowenig, wie es in Wahrheit in Sessi erloschen war. Aber da sie es beide vor sich wie voreinander verbargen, Sessi aus einem ihr von ihrem Gefühl für Reinheit und einer schuldhaften Schicksalsverkettung auferlegten Gelübde, Damian aus einer fast tödlichen Verletzung seiner tiefsten Gefühle für seine Lebensgefährtin, blieb jedes allein. Dennoch erschien es selbst Mutter Christels scharfen Augen, solange Damians Genesungsurlaub noch währte, als habe es nie eine einträchtigere Ehe gegeben.

Damian widmete sich alsbald mit solchem Eifer und Nachdruck seiner ambulanten Behandlung, daß der Arzt nicht nur darüber erstaunte, sondern daß sich der körperliche Zustand des Patienten rascher zur vollen Fronttauglichkeit entwickelte, als nach der ihm gewährten Frist dafür vorgesehen war. Sobald Damian aus dem Munde des Arztes hörte, daß dieser ihn nunmehr für völlig kriegsverwendungsfähig halte, zögerte er keinen Tag länger, nahm scheinbar unbeschwert und mit aller Herzlichkeit Abschied von Sessi und den Eltern und fuhr zu seinem Truppenteil zurück. Bis Weihnachten fehlten nur noch sieben Tage.


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