Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Dieser Sonnabend war einer jener späten überklaren Herbsttage, an denen der Sommer noch einmal auf der Erde zur Herrschaft gekommen zu sein scheint, nicht wirklich, sondern wie ein verklärter, geisterhafter Traum. Der Himmel hing unwirklich hoch, in durchsichtiger, glasklarer Bläue. Das Licht spielte wie sonnenverloren um alle Dinge, so daß sie von innen leuchteten, und das Licht war auch zugleich ein mildes Hauchen der Luft, das aus keiner bestimmten Gegend kam, sondern gleichsam sich nur deswegen schwebend bewegte, um die letzten goldenen Blätter traumhaft von den Bäumen zu lösen. Das Heidewasser zählte singend seine Wellen, und dann und wann stümperte ein Vogel selig an seinem vergessenen Liede. Das Riesengebirge aber wogte in versunkenem Selbstbestaunen über dem wuseligen Wilkau noch tiefer in den verklärten Himmel hinauf als je, und auch das Gerberhaus auf der Feldgasse wurde auf solche beschwingte Art weiter durch den Tag getragen.

Beim Mittagessen, das diesmal mehr als eine Stunde später auf den Tisch rückte und, schnell durch die Töpfe gejagt, einfacher als sonst geraten war, gelang Jochen beim besten Willen kein Mäkelwort, denn Christine war von so glückhafter Spannung erfüllt, als sei ihr langer Kauf gang durch den Ort eine Reise durch eine weite bunte Welt gewesen, und wenn sie von Bäcker, Fleischer, Gemüsefrauen und Kolonialwarenhandlungen erzählte, glänzten ihre Worte im Licht eines unsagbaren Erlebnisses, so daß der schwere Gerber sie mit großen Augen bestaunte und von einem zum anderen begieriger auf die Auslösung des beseligten Klanges wartete, von dem all ihre Worte getragen waren. Allein es ging von der Rehberger Straße auf den Schloßplatz, am Langen Haus vorbei, über die Gansertbrücke, die Ziethenstraße und so weiter, und wurde nicht mehr, aber das ganze Wilkau lag plötzlich in einem noch nie erfahrenen Schimmer vor Jochen Maechler, daß er verwundert einen Blick durchs Fenster tat und dann dankbar seine Hand auf die Christines legte, durch die ihm diese Verwandlung des Ortes geschenkt wurde, der monatelang sein Dasein so niedergedrückt hatte. »Jaja, mein lieber Jochen«, sagte Christine beglückt, »wenn man die Tür aufmacht, da geht auch das Herz auf.« Und da der Gerber dann doch den Kopf senkte und von den Begräbniskosten zu reden anfing, stand die heitere Frau resolut auf.

»Nein, nein, davon reden wir jetzt nicht, jetzt bestimmt nicht. Vielleicht heute abend, wenn's Zeit ist.« Dabei fuhr sie ihm liebkosend über den Kopf und begann den Tisch abzuräumen.

Jochen aber begab sich wieder hinüber in die Werkstatt und sann unterwegs über das Geheimnis der Ehe nach, daß der Mann im Weibe einen Vogel nimmt und einen ganzen Schwärm kriegt. Christine aber spielte in spitzbübischer Heimlichkeit mit einem Glück, von dem sie ihrem Mann nur den Klang zu kosten gegeben hatte. Es war ihr gelungen, durch die heitere Erzählung ihrer Einkaufsfahrt in Wilkau Jochen die Unterredung mit Inspektor Neefe über seinen heutigen Besuch im Gerberhaus zu verschweigen, und was sie sonst noch so lange im Städtchen aufgehalten hatte. Eine richtige Überrumpelung des lieben Mannes sollte das werden, bei der auch dem alten Pfarrer Kelvel und später der Frau Neefes eine Rolle zugedacht war.

Heimlich bereitete Christine einen kleinen Abendimbiß und verbarg ihn in dem Topfschrank, legte eine neue Decke über den Tisch, machte sich etwas netter zurecht als an anderen Wochentagen und brachte es dann auch mit heiterer Tücke fertig, Jochen eher als sonst aus seiner Arbeitskluft in ein paar andere Hosen zu schwatzen und ihn zeitig genug auf die Bank unter den Frontspieß des Hauses zu dirigieren. Natürlich hatte sie nicht verhindern können, daß ihr Mann trotz seiner gelassenen Gutmütigkeit hinter ihrer Vielgeschäftigkeit eine Überraschung ahnte, die sich auf ihn zu bewegte. Aber er lächelte vor sich hin und spielte den Arglosen so vollendet, daß Frau Christine an dem Gelingen der geplanten Unternehmung nicht zweifelte.

Gegen fünf Uhr, der Gerber saß schon eine halbe Stunde und war eben im Begriff, sich zu erheben und Christine auf den merkwürdig rotgoldenen Lichtdunst aufmerksam zu machen, den die untergehende Sonne hinter dem Walde des Scholzenberges herauftrieb, als er den Inspektor Neefe, den Kopf gesenkt, als zähle er die Pflastersteine, stößig, wie es seine Art war, die Feldgasse hin am Gerberhaus vorbeitraben sah. Am Ende des Maechlerschen Gartens riß es ihm den Kopf herauf wie einem, dem Vergessenes plötzlich durch den Sinn fährt. Er drehte sich um und schob dabei etwas überlegend seine blaue Schildmütze aus der Stirn.

›Na, na!‹ sann Jochen Maechler, der ihn beobachtete, ›was ist denn dem in die Krone gefahren?‹, und ließ sich neugierig wieder auf die feste Bank nieder. Aber da erblickte ihn auch Neefe, nickte auf das freudigste grüßend und kam in jähem Entschluß wieder zurück, durch das Gartenpförtchen gerade auf ihn zu. Obwohl der Gerber bei seinen seltenen Gängen durch Wilkau ihn immer nur von ferne gesehen und noch keinmal mit ihm gesprochen hatte, benahm sich Neefe wie ein alter Bekannter, schlug sich beim Herankommen mit glücklichem Auflachen auf den Oberschenkel und streckte Maechler die Hand entgegen, indem er beteuerte, wie unendlich es ihn freue, seiner doch einmal habhaft zu werden.

Mit guter Miene ergriff der Gerber die dargebotene Rechte, murmelte höflich einige Worte der Genugtuung und rückte zögernd etwas auf der Bank hin, um ihm Platz zu machen.

Ja, da gebe es keinen Pardon, sprudelte Neefe ohne Anhalten auf den Gerber ein, indem er sich auf der Bank zurechtsetzte. Man werde, ob man wolle oder nicht, durch den Tag getrieben, bald vor der eigenen Karre, bald als Zugtier fremder Wagen. Eben sei er auf dem Wege zur Glaeserschen Gärtnerei gewesen, um dort die Saalausschmückung zu dem Gründungsfest zu besprechen und so weiter. Denn wirklich, es scheint, daß, wo in Wilkau etwas im öffentlichen Interesse gemacht werden soll, der Pack nur auf einem Rücken abgeladen werden könne, nämlich auf seinem. Dann lachte er in gutmütiger Heiterkeit laut hinaus und fing mit Daumen und Zeigefinger das Speicheln in seinen Mundwinkeln auf.

Jochen sah ihn mit kritischem Verwundern von der Seite an und fragte sich, worauf das hinauswolle und ob das vielleicht der Anfang des Treibens sei, das von seiner Christel eingefädelt worden war. Darum bekräftigte er in leerer Gefälligkeit Neefes Redestrom mit den belanglosesten Worten:

»Jaja, so wird's auch sein. Einer muß es eben machen.«

Neefe lächelte heiter ironisch dazu und holte wieder zu langen Auseinandersetzungen aus, die wie wirr überall umherwirtschafteten und doch spürbar auf einen Punkt zusteuerten:

»Das sagen Sie so, Herr Maechler, wie alle Wilkauer. Aber ich bin anderer Meinung: Hinz und Hans machen Halbes ganz. Jeder an seiner Stelle muß mithelfen. Nur so kann das Leben seinen Schick kriegen.« Dann schweifte er ohne Übergang auf die großartigen oberschlesischen Gruben- und Hüttenverhältnisse ab, die aber doch die Menschen in einem solchen Lastenwirbel drehen, daß kaum an Atemholen zu denken sei, weswegen er rechtzeitig von da Reißaus genommen habe.

»Schöne Gegend, das muß man schon sagen!« begann er wieder nach einer Pause, mit der er Maechler, aber vergeblich, aufs neue zum Sprechen bringen wollte, und drehte dann behaglich seine Beine. »Wirklich mit die schönste fast in ganz Deutschland«, vollendete er und schaute über Baumwipfel und Häuserdächer in den Himmel.

Maechler nickte nur.

»Na, und im Grunde meine eigentliche Heimat. – Ja, wie lange ist das her, daß ich von Wilkau fort bin! Gut, nein netto 43 Jahr. Es ist zum Lachen. Also 50 Jahr ist man. Wie die Zeit geht! Und wie alt sind Sie, Herr Maechler?«

Dem Gerber fuhr es durch den Kopf, wie leicht es ein Mann habe, der so daherschwatzen könne wie dieser Neefe. Deswegen mußte er sich wie aus einem Nebel aufraffen und fragte gleichgültig wieder:

»Wie alt ich bin? Ä, das ist doch egal. Aber ich denk', so sieben Jahre jünger als Sie, Herr Neefe.«

Der Inspektor spürte wohl, wie ihn der Gerber von sich schob. Allein, nun hatte er es satt. Man mußte doch vom Flecke kommen, darum faßte er Maechlers Knie, rüttelte es und sagte heiter:

»Herrgott nochmal, immerfort ›Herr Neefe‹ und ›Herr Maechler‹ hin und her. Das ist, als wenn zwei Fremde um ein Loch laufen. Und wir zwei gehören doch zusammen.«

Maechler sah ihn fragend an.

»Jawohl zusammen«, beteuerte Neefe noch entschiedener. »Ich lauf mir die Beine ab auf den Wilkauer Katzenköpfen und red' mir den Mund fußlig, um den Dreck wegzuräumen, den man um das Haus hier zusammengeschwatzt hat. Doch nicht um meinetwillen, bei Gott nicht! Nein, mir läuft eben immer noch die Galle über, wenn ich sehe, daß irgendwo Unrecht geschieht. Jawohl, ich trete die Schaben tot, wo ich sie finde. Mein lieber Maechler, verlassen Sie sich auf mich. Sie brauchen sich vor dem Gezücht nicht mehr ins Haus zu verkriechen. Wir zwei werden die Geschichte hier in Wilkau schmeißen. Da gibt's kein ›Herr Maechler‹ und ›Herr Neefe‹ mehr. Wir sind Freunde. Hier meine Hand.«

Wie von Trommelwirbel betäubt und benommen, schlug Jochen Maechler in des Inspektors dargebotene Rechte. Was blieb ihm anderes übrig? Er wußte nicht, wie ihm geschah.

Zudem erschien, wohl von der lauten Stimme Neefes angelockt, Christine auf der Haustürschwelle und trat zu den beiden Männern.

Neefe ließ Maechlers Hand sofort fahren, sprang wendig auf und machte eine übertriebene, kavalierähnliche Verbeugung.

»Das ist doch deine liebe Frau, Maechler?« fragte er den fassungslosen Gerber, der nicht wußte, ob er nur nicke oder ja sage, und hörte dann Neefe wie aus einer Kugelspritze reden, von seiner Freude, auch sie persönlich kennenzulernen, die er sonst immer von weitem habe hinhuschen sehen, und wie glücklich er sei, daß sie im rechten Augenblick herausgekommen wäre, da es ihm gelungen sei, ihren Mann von seiner ehrlichen Freundschaft zu überzeugen.

»Nein, lieber Maechler«, endete Neefe seine Ansprache und dämpfte seine Stimme herzlich, »bei so einer exzellenten Frau gibt's kein Hinter-der-Tür-Sitzen. Liebe Frau Christine, Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin! Hehehe, dieses Haus soll eine Art Räuberhöhle sein!«

Seine wasserblauen Augen hingen fasziniert an ihrer appetitlichen Fülle, und zugleich war ein fragendes Fordern in ihnen. Freudig bejahend ließ Christine ihre oberen Lider über die Augen sinken.

Nach dieser Zwiesprache, die den Bruchteil einer Sekunde dauerte, brach Neefe noch übermütiger-höhnisch in eine Wiederholung des Ausrufes von der Räuberhöhle abermals in Lachen aus und ersuchte dann allen Ernstes, ihm die Folterkammern und Falltüren des Hauses zu zeigen, um die Wilkauer Welt doch mal ordentlich in alles einzuweihen. »Jaja, es ist ja bekannt«, so endete er verächtlich persiflierend sein Ersuchen, »da drüben ist doch die Mauer, von der dein Vater meinen Vater ins Heidewasser gestoßen haben soll. Hehehe, alles stimmt ganz genau. Der alte Maechler ein Mörder, der alte Neefe ein schlechter Kerl. – Ä, Mistnasen riechen eben Jauche! Das ist halt nu so in dieser Welt«, fügte er widerwillig hinzu, zog dann seine Uhr und sah suchend nach der Feldgasse, auf der der greise Pfarrer Kelvel, unsicher schwebenden Schrittes, eben auftauchte. Darauf griff Neefe schnell den Gerber herzlich unter den Arm und rief aus:

»Nu aber los, Maechler, ich will doch dein Haus sehen.«

Und während er an dem Meister zog, der sich wie ausgeschert vorkam, ruckte es ihm den Kopf nach der Gasse, wo Kelvel indes das Gartenpförtchen erreicht hatte. Höchste Freudenüberraschung heuchelnd, ließ er Maechlers Arm plötzlich fahren und grüßte: »Gelobt sei Jesus Christus, Herr Pfarrer! Wollen Sie nicht einen Augenblick heraufkommen?«

Da der alte Herr aber lächelnd den Kopf schüttelte, tuschelte Neefe Maechler zu, daß er mitgehen müsse, faßte ihn unter und schritt so eilig auf den Pfarrer zu. Nachdem die Begrüßung vorüber war und auch der Gerber etwas betreten, aber in gesammelter Würde seine Einladung zu einem kurzen Sitzlein angebracht hatte, sah der Greis die beiden Männer wohlgefällig an, schüttelte abermals den Kopf, entschuldigte sich seines Alters halber und da er doch noch für die morgige Predigt arbeiten müsse. »Nein, nein, ich kann nicht, lieber Herr Maechler. Aber glücklich bin ich, da ich den Frieden gesehen habe. An dem guten Neefe haben Sie, Herr Meister, den uneigennützigsten, besten Freund. Gottes Segen euch beiden. Und hier, Herr Neefe, das Versprochene.« Damit reichte er dem' Inspektor einen Brief, begrüßte auf das herzlichste auch die herzugetretene Christine und entfernte sich dann, auf den Stock gestützt, mit den schwebend unsicheren Schrittchen hohen Alters.

Jochen Maechler sackte tief versonnen ein, wandte sich mit einem Ruck um und ging, als sei er allein, auf das Haus zu. Neefe und Christine folgten plaudernd. Der Inspektor tippte bedeutsam auf die Seitentasche, wo er des Pfarrers Brief untergebracht hatte, nickte übermütig in die fragenden Augen der Frau und genoß die Bewunderung, mit der sie ihn anschaute. Als sie die drei Stufen zum Hauseingang emporstiegen, faßte Neefe den vollen Arm Christines mit leidenschaftlichem Griff und stieß einen ringenden Atemzug aus, so daß die Frau sich schnell mit einem verweisenden Schritt nach vorn von ihm entfernte, denn sie hatte eher als die blutumnebelten Augen des Inspektors in dem dämmerigen Hausflur ihren Jochen gesehen, der wartend an der Tür zum Wohnzimmer stand und beim Eintritt der beiden so nach ihnen zurückschaute, daß das Weiße seiner Augen verzehrend aufleuchtete. Es war etwas Erschreckendes in diesem Blick und zugleich eine so verächtliche Entschlossenheit in seinem Gesicht, daß Christine auf ihn zueilte, innig seine herabhängende Hand ergriff und ihm schalkhaft liebenswürdige Vorwürfe über sein »unsinniges Rennen« machte. Jochen aber berührte zart ihre erglühende Wange und sagte leise:

»Laß gut sein, Christel, ich weiß alles.«

Dann schob er sie energisch zur Seite und rief dem zögernd herantretenden Inspektor mit schneidendem Lachen zu: »Na, 'ran, aber dalli, mein bester Freund!«

Es war eine beladene Situation, da der sonst so gutmütige Gerber diese Beteuerung des priesterlichen Greises offenbar mit heiterer Ironie wiederholte. Aber Neefe wäre nicht Neefe gewesen, wenn er durch diesen unvermutet hervorbrechenden Sarkasmus sich hätte an die Wand drücken lassen. Mit dröhnendem Lachen erfüllte er den Flur.

»Da hast du recht, lieber Maechler. Der hochwürdige Herr kennt mich lange genug; denn meine Frau ist seine Nichte brüderlicherseits, und wegen ihm bin ich in dieses schöne Wilkau zurückgekehrt. Lieber Maechler, ja, Wilkau ist doch schön! Nicht wahr, Frau Christine, schön, schön, was?«

Die Gerberin, die in seinen Worten den unbezähmbaren Ausbruch seines Blutes hörte, erblaßte und sah zur Seite.

Neefe aber griente belustigt, holte aus der Seitentasche den Brief, den er von Pfarrer Kelvel empfangen hatte, wog ihn ein Weilchen überlegend in der Hand und überreichte ihn dann Maechler.

»Hier nimm, er ist für dich bestimmt. Aber aufmachen darfst du ihn erst, wenn ich wieder um die Ecke bin. Ich verlaß mich auf Sie, Frau Christine, versprechen Sie mir's in die Hand.«

Seine Stimme war jetzt einfach und herzlich, sein Wesen gar nicht mehr erlogen aufgemutzt, der Griff seiner Hand ohne gieriges Zupacken. »Ihr seid zwei merkwürdige, gute Menschen«, sagte er noch leise ergriffen, sah beide erstaunt, wie etwas Weltseltenes an und wiegte verwundert den Kopf dazu.

Nach diesem Abwege in echtes Gefühl aber sprang er unvermittelt wieder in seine leere Aktivität und trieb, ehe es vollkommen finster würde, zu der versprochenen Besichtigung des Hauses.

Von der Wohnstube aus warf man einen Blick in die Schlafstube, die Neefe als nette Liebeswerkstatt bezeichnete, ging über den Flur in das geräumige Zimmer, das, nach dem kurzen Dasein als gute Stube unter dem alten Maechler, wieder zum Laden des Lederausschnitts geworden war und nahm die beiden Mansardenzimmerchen des Frontspießes in Augenschein. Mühsam tappend, denn es war indessen fast vollkommen Nacht geworden, stieg man über die steile Bodentreppe hinunter, Neefe hinter Frau Christine, die es unwillig dulden mußte, daß der Inspektor einigemal, wohl mit »Holla!« und »Verzeihung«, stützend nach ihrer vollen Schulter langte und genießerisch zugriff.

Im Hausflur angekommen, schritten die drei, von Maechler unauffällig geführt, durch die Haustür und traten auf die kleine Rampe unter dem Frontspieß. Christine spürte wohl die Absicht ihres Mannes deutlich, den Inspektor nun loszuwerden, aber wenn auch ihre Vorliebe für Neefe durch seine plumpen Vertraulichkeiten erschüttert worden war, so erschien es ihr nicht nur unklug und undankbar, sondern gefährlich, Neefe jetzt schnell auf die Feldstraße zu leiten. Das Eintreffen Agnetes, der Frau des Inspektors, stand nach den Abmachungen zudem noch auf dem Programm. Deswegen beteiligte sie sich an der spaßig geführten Scheinunterhaltung fast nicht, sondern lugte heimlich wieder und wieder nach dem in der Dunkelheit kaum mehr zu unterscheidenden Gartenpförtchen. Frau Neefe erschien nicht. Da platzte Christine kurz entschlossen in das unnötige Gerede der beiden Männer mit der Einladung an Neefe zu einem Schnittchen, verschwand, ohne auf des Inspektors gut gespielte Weigerung zu hören, schnell im Hause, wo bald das Licht der Petroleumlampe aufflammte. Und während sie drin eilig hin und wider ging, begann Neefe scheinbar absichtslos von dem zu sprechen, was das eigentliche Ziel seines Unternehmens im Gerberhause war, worüber er Christine allerdings nichts gesagt hatte. Sie war im Glauben gelassen worden, daß der Anschlag zum Wohle ihres Mannes mit einem gemütlichen Zusammensein der beiden kinderlosen Ehepaare enden solle.

Die Nacht war fast sommerwarm, und Neefe schlug dem Gerber vor, die Zeit, bis sie von Christine gerufen würden, im Freien auf der Bank zuzubringen. Jochen ergab sich wortlos dem Vorschlag, und schon steuerte der Inspektor auf die politischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart zu, indem er den Gerber fragte, ob ihm nicht die Aufregung aufgefallen, von der seit ein paar Wochen Wilkau und die ganze Umgebung erfüllt sei. Maechler hatte nichts gemerkt, und wenn das auch der Fall gewesen wäre, so hätte er aus purer Widerspruchslust es nicht zugegeben. Neefe ließ sich durch die Gleichgültigkeit des Gerbers nicht beirren, sondern begann von der Pflicht jedes wahren Deutschen zu reden, mit Ernst und Hingabe die Aktion der großen Politik zu verfolgen. Deutschland liege wohl in Europa und beginne doch bald über die ganze Erde zu reichen. Und wenn die Kanonen in fernen Weltteilen losgingen, so müßten wir Deutschen um das Dach unseres Staates besorgt sein. Denn gegen wen anders als gegen die Sicherheit Deutschlands sei der Vernichtungskrieg Englands gegen die Buren gerichtet gewesen? Das hätten alle guten und wahren Deutschen gespürt. Daher rühre die Begeisterung, mit der die menschengroße, weit ausschauende Depesche Kaiser Wilhelms des Zweiten an den Präsidenten Krüger aufgenommen worden sei. »Siehst du nicht, Maechler, daß unser herrlicher Kaiser in die rechte Kerbe gehauen hat? England erniedrigt uns vor der ganzen Welt. Seine Königin Viktoria lehnte den Besuch Wilhelms zu ihrem Regierungsjubiläum in verächtlicher Weise ab und hat sich damit einverstanden erklärt mit allen hundsgemeinen Machinationen des Prinzen von Wales, die auf nichts als eine Demütigung unseres herrlichen Kaisers und den Ausschluß Deutschlands als Weltmacht abzielen. England ist unser gefährlichster Feind, und wir können uns nicht anders wie durch den Bau einer Kriegsflotte gegen ihn wehren, sonst sind wir verloren, alle ohne Ausnahme, auch wir in Wilkau. Man frißt uns wie Buren und Kaffern.«

Neefe holte tief Atem nach diesem leidenschaftlichen Ausbruch zusammengelesener Schlagwörter, von denen ein großer Teil des deutschen Volkes damals auf das Wasser gelockt wurde. Maechler aber saß mit auf die mächtige Brust gesenktem Kopfe da und sagte kein Wort. Der Inspektor sah ihn ärgerlich von der Seite an und wollte eben wieder beginnen, als die Haspe des Gartenpförtchens klinkte, und mit vorsichtigen Schritten jemand den Weg heraufkam. Auch Maechler hob sichernd den Kopf. Nun trat die Person in den Lichtschein, der aus dem Fenster fiel. Da sprang Neefe mit dem Ausruf auf: »Da schlag doch einer lang hin! Agnete, wo kommst du denn her?«

Noch ehe die Frau mit dem Einkaufskorb am Arm antworten konnte, sagte Maechler mit beißendem Lachen: »Na also!« Dann stand er auf und begrüßte sie mit einer unversehens in ihm aufquellenden Herzlichkeit, gegen die er sich ebenso vergeblich wehrte, wie die Frau, von ihr bewegt, sie genoß und noch schüchterner und betretener jenes Gesetzlein zu ihrem Mann sprach, das ihr eingeprägt worden war. Sie habe auf ihrem Einkaufsgange die alte Therese, des Pfarrers Köchin, getroffen und von ihr erfahren, daß der Onkel Kelvel auf einem Spaziergang durch die Feldgasse gegangen sei. Bis hierher ging die abgekartete Lüge ganz gut; aber nun versagte ihr vor Verlegenheit plötzlich der Atem.

»Na, und weiter«, drängte Neefe rauh und stützte die Arme in die Seite, wie ein ungeduldiger Schulmeister ein Pensum abhört. Seine Frau sah ihn ratlos an.

»Ach, quäl sie doch nicht so«, damit mischte sich Maechler ein, »das andere ist ja selbstverständlich. Der Herr Pfarrer hat dich bei mir getroffen. Da ist sie hergekommen, um dich abzuholen, nicht wahr, liebe Frau Agnete?«

In diesem Augenblick klopfte Christine an das Fenster, und Maechler sagte darauf launig: »Also kommt herein und eßt einen Bissen mit uns. Kommen Sie, liebe Frau Neefe.«

Christine empfing Agnete mit ganz echter, glückhafter Überraschtheit und half ihr über die Schüchternheit hinweg, indem sie dankbar ihre Hilfe bei Besorgung der letzten Handgriffe für den Tisch annahm. Die beiden Männer standen derweil am Fenster, und Neefe bemühte sich, das unterbrochene hochpolitische Thema wieder in Gang zu bringen. Da aber Maechler in seiner vorherigen Gleichgültigkeit verharrte, brach Neefe seine Darlegungen plötzlich ab.

»Da woll'n mir doch amal sehn, was meine Frau eingekauft hat«, rief er lustig und ging auf den Korb zu, den sie auf die Bank gestellt hatte. Und während er über die Stube steuerte, sagte er bei sich: ›Du, Maechlerhundel, dich krieg' ich doch noch!‹ Beim Korb angekommen aber griff er eine Flasche mit Stonsdorfer, dem beliebten Likör des Riesengebirges, heraus und hielt sie triumphierend Maechler hin.

»Was sagst du nun, lieber Freund?« rief er dem Gerber zu. »Hab' ich nicht eine famose Frau? Jaja, die Weiber wissen schon, was den Männern fehlt. Eigentlich ist sie bloß für mich bestimmt. Ich meine natürlich die Flasche, bei meiner Frau versteht sich das von selbst. Aber ich stifte sie für heute abend. Ich meine die Flasche, nicht meine Frau, nicht wahr, Agnete? Das könnte dir so passen, alter Schwede!« Damit gab er Maechler einen herzlich brüderlichen Schlag auf die Schulter.

In Maechler stieg nun doch etwas wie richtiger Grimm über diese geschmacklose Anschmeißerei des Eindringlings auf, und er wandte mit eine energischen Ruck Neefe sein ärgerlich fragendes Gesicht zu. Dabei holte er tief Atem. Aber ehe er zu einem höhnischen Wort der Abwehr kommen konnte, klirrte eine Tasse zu Boden. Sie war der erschrockenen Frau Agnete wegen der lüsternen Worte ihres Mannes aus der Hand gefallen, als sie im Begriff war, sie auf den Tisch zu stellen.

»Aber, Alex, so was?« sagte sie vorwurfsvoll und sah ihn errötend an, daß ihr fades anmutsloses Gesicht eine Augenblick mädchenschön war. »Ich kann nicht dafür. Da bist du schuld.«

»Jawohl, ich bin schuld«, rief Neefe ausgelassen, »ich bin überhaupt an allem schuld. Kinder, ist das nicht herrlich! Scherben bringen Glück, liebe Agnete, vielleicht auch uns.«

Das sagte er, indem er sich bückend bemühte, die Tassenscherben vom Boden aufzulesen. Seine Frau, die mit erweichten Knien auf einen Stuhl gesunken war, beteiligte sich am Aufsammeln der Reste, und Christine stürzte hinzu und vertrieb die beiden mit lustiger Grobheit von dieser Arbeit, die ihr allein als Flausfrau zukomme. Es entstand so etwas wie eine fröhliche Balgerei, und doch war alles verlogen. Ja, als die kleine Gesellschaft endlich am Tisch saß, wirkte sich dieser Zwang zu lauter Gemütlichkeit noch weiter aus, unter der der Gerber und Frau Agnete offenbar am meisten litten, während Christine ihre Verlegenheit unter rastlosem Hin und Her zwischen Herd und Tisch verbarg.

Neefe hatte ohne weiteres neben Maechler Platz genommen, der die ihm gegenübersitzende Agnete mit ausgesuchter Freundlichkeit bediente und jedesmal verdunkelte Augen und ein ablehnendes Gesicht bekam, wenn der Inspektor besonders heftig auf ihn einsprach oder wieder mit gefülltem Glas ihm zuprostete. Maechler war zwar versucht, mit einem Schlag auf den Tisch sich von dem steten Andringen Neefes zu befreien, aber angestachelt von einigen Gläsern des wohlschmeckenden Schnapses kehrte er sich doch lebhaft dem Inspektor zu, um ihm bei der ersten Gelegenheit gründlich in die Parade zu fahren.

Christine sah, wie sich die beiden Falten von der Nase zu den Mundwinkeln in seinem Gesicht vertieften, wie seine Stirn sich immer unheilvoller wulstete und die sonst so gutmütigen Augen starrer und starrer wurden. Darum gab sie ihm unbeobachtet einen Wink. Aber er schüttelte energisch den Kopf und bohrte sich förmlich in die Aufmerksamkeit hinein, mit der er den Darlegungen Neefes folgte. Der war nach vielen Abschweifungen endlich bei der Enthüllung des Planes angekommen, zu dessen Gelingen er unbedingt des Gerbers Hilfe brauche. Noch sei alles geheim und in Vorbereitung; allein in acht bis zehn Tagen müsse die Geschichte steigen. Es handle sich um die Gründung eines Flottenvereins, wie er in hunderten Städten des deutschen Reiches von guten, entschlossenen Vaterlandsfreunden ins Leben gerufen worden sei, um Deutschland den gebührenden, nein, ausschlaggebenden Platz in der Welt zu sichern. »Viel Schiffe, viel Geltung«, das müsse die Losung des deutschen Volkes sein, das hinter dem Kaiser und dem Admiral Tirpitz stehe.

Hier lachte der Gerber laut heraus. Und als Neefe erregt fragte, was es da zu lachen gebe, sagte der Gerber ruhig:

»Na schön. Weiter.«

Der Inspektor kippte sich einen neuen Stonsdorfer hinter die Zunge und sprach mit noch verbissenerer Hartnäckigkeit nun von seinen eigenen Bemühungen um das Zustandekommen eines solchen Vereins in Wilkau.

Der alte Kapitän von Machitzki in Scherichsdorf hatte versprochen, den Vorsitz des neu zu gründenden Vereins zu übernehmen und Anhänger zu werben in den Kreisen des verarmten Adels, der seit langem in Wilkau wie in einer Rumpelkammer seinen verblichenen Glanz kümmerlich hochhielt. Diese despektierlichen Worte kamen natürlich nicht über Neefes Lippen, sondern er sprach, um Maechler zu imponieren, nur von dem Grafen von Plettenstoß, dem einstigen Regimentskommandeur der Königshusaren, dem berühmten Gesandten von Radschoff und anderen großen Herren, deren Titel und Namen er genießerisch in die stille Gerberstube rollen ließ, so daß die beiden Frauen durch seine laute Stimme von ihrem haushälterischen Gespräch in erzwungenes Zuhören gescheucht wurden. Das Essen war beendet, und auch Maechler saß nun scheinbar andächtig, während er mit dem Zeigefinger aufmerksam eine Brotkugel hin- und herrollte. Den Inspektor aber litt es nicht mehr auf dem Stuhle. Er sprang auf und begann leidenschaftlich durch die Stube zu laufen, während er dem Gerber jetzt ruhig ohne Umschweife auf den Leib rückte. Er habe es übernommen, das ganze eingeduselte Wilkau auf die Beine zu bringen und es aus der verklatschten Pfahlbürgerenge ins Weite zu treiben. Dem deutschen Michel müsse bis ins letzte Dorf die Zipfelmütze vom Schopf gerissen werden. Deswegen habe er dem versoffenen Witschelschlosser das Schandmaul gestopft und ihn wieder mit dem Hammer an den Amboß gezwungen, deswegen auch habe er nicht geruht, bis das Lügennetz um ihn, den Gerber, zerrissen worden sei. Von der Liebe, die er seit seiner Jugend für Maechler hege, wolle er nicht sprechen. Aber es sei eine Schande, daß der Sohn eines so großen Vaters in der Stube versauere.

Bei diesen Worten riß es dem Gerber den mächtigen Oberkörper hoch, aber er bezwang sich und zerrieb nur das Brotkügelchen, mit dem er bis jetzt nachdenklich gespielt hatte, zwischen Daumen und Zeigefinger zu Krümelchen. Und als er sich auf diese Weise gemäßigt hatte, fragte er Neefe, dessen Worte schon wieder zu galoppieren begannen, mit beißender Ruhe:

»Halt mal, Neefe! Deswegen also bist du umhergetrabt und hast die Klatschmäuler ausgetreten?«

Der Inspektor unterbrach sich etwas betroffen und antwortete dann hell begeistert:

»Ja, deswegen, Freund Maechler!«

»Verflucht noch mal!« sagte der Gerber dumpf, indem er das Gesicht bei geschlossenen Augen zur Zimmerdecke kehrte.

»Jawohl, deswegen!« wiederholte Neefe mit lustigem Herauslachen, »weil ich dich schätze und besser kenne als du selber, und magst du fluchen, soviel du willst. Zwei-, dreihundert habe ich für die Sache auf die Beine gebracht. Die ganze Gemeindevertretung macht mit. Sogar unser gnädiger Herr Graf ist der Bewegung zugeneigt und hat einen großen Globus gestiftet. Du weißt doch, daß er als Katholik und Zentrumsmann vom Kulturkampf her sich noch zurückhält, und weil er als österreichischer Reichsgraf noch starke Verbindungen nach drüben hat. – Übrigens ein herrlicher Mann! – Und da willst du dich ausschließen, Maechler, du, der, ich behaupte es, den Schritt des großen Nathanael im Leibe hat!? Das gibt's nicht! Wir zwei werden ganz Wilkau umkrempeln.«

Die beiden Frauen saßen sprachlos, ja atemlos da, Agnete furchtsam, verschüchtert, geduckt, wie in der Angst vor einem drohenden Schlage. Sie hielt den Kopf gesenkt und fältelte mit bebenden Händen das Kleid auf ihrem Schoße. Christine hatte sich in die Schultern gereckt und schaute mit gespannter Brust aus Augen voll verwunderter Erwartung auf ihren Mann, von dem die Entscheidung dieses aufs höchste geladenen Augenblicks kommen mußte.

Maechler saß schwer da, aber nicht in der gewohnten, schwammigen Gutmütigkeit – eher wie ein großes Tier vor dem Aufspringen, sah mit großen und schicksalstiefen Augen eine Weile ins Leere, als sammle er sich an einer Erscheinung, die nur für ihn aufgetaucht war, hob dann den Arm und wischte herrschend das Bild aus der Luft, das er erblickte, und das niemand anderes als die Gestalt seiner gestorbenen Mutter war.

»Schon gut«, redete er sie versunken an, »hab Dank! Ich weiß, was ich zu tun hab'.«

Dann streckte er den mächtigen Oberkörper zu seiner ganzen Länge, daß der Inspektor, der verblüfft auf dem Stuhl an seiner Seite wieder Platz genommen hatte, neben ihm dürftig und kümmerlich wirkte.

»Ich versteh' dich nicht, Maechler«, stotterte er fassungslos.

Der Gerber sah ihn forschend durch und durch, dann sagte er mit schneidender Schärfe, gegen die ein Widerspruch unmöglich war:

»Ihr reitet auf Pferden, die vorderhand bloß in Eurem Kopf traben. Da kann ich nicht, da darf ich nicht und da mag ich nicht mitmachen. Ich lauf auf Beinen, die vor meiner Geburt gewachsen sind. Ich bin ein anderer wie mein Vater, und mich gelüstet es nicht ins Gemeindehaus, weder auf den Schöppenstuhl noch gar in die Vorsteherwürde. Kehrt ihr die Welt rein, soviel ihr wollt. Ich halte mein Haus sicher und licht, und wenn mir's gelingt, bin ich zufrieden mit mir, und der Kaiser und Deutschland und die Welt kann's auch sein. Neefe, was geht mich der Weg zwischen Berlin und Hamburg an, wenn ich von Wilkau nach Rehberg zu wandern habe?«

Der Inspektor war von Maechlers Worten, die wie Hammerschläge niedersausten, immer kleiner geworden. Bei dem letzten Satz, der sich an ihn selbst richtete, fuhr er doch auf, um zu antworten, aber es war nur ein rechthaberisches Aufmucken, kein entschiedener Selbsteinsatz, so daß ihn der Gerber gar nicht erst zu Worte kommen ließ, sondern seinen Arm packte und ihn unsanft rüttelte. »Du hast stundenlang auf mich eingeredet, und ich hab's geschehen lassen«, sagte er mit drohendem, fast geringschätzigem Abschütteln, »nun laß auch du mich sprechen. Neefe, nach deiner Meinung sitzt man nur sicher auf einem Stuhl aus fließendem Wasser und geht am besten auf die Glücksjagd aus wie einer, der im Drahtkäfig den Wind fangen will.

Nein und noch dreimal nein! Macht Türen und Fenster eures Hauses zu, denn wenn ihr alles offenstehen laßt, dann seid nicht ihr Herr im Hause, sondern das Windpack der Straße, und der Staub von allen dreckigen Stiefelsohlen ist's.

Mein armer Vater hat auf dieses Los sein ganzes Leben gesetzt. Laß dir's gesagt sein, Neefe: Ich spiel' in einer anderen Lotterie.«

Das erstemal in seinem Leben brach die Welt der geheimen Untergründe seines Wesens los. Der Dämon seiner Familie kämpfte empört gegen das Andringen jener schicksalhaft feindlichen Sippe, die in der Gestalt Neefes neben ihm saß. Jochen Maechler, der scheue, gutmütige Gerber von der Feldgasse, sah plötzlich aus wie ein verwegen kühner Landsknecht, so arbeitete seine Brust, so schnob sein Atem, so wild funkelten seine Augen, so empört stemmte er seinen riesigen Oberkörper mit steifen Armen vom Tisch zurück, daß jeden Augenblick sein Stuhl nach hinten umkippen konnte.

Christine hatte mit Erschrecken die Verwandlung Maechlers angesehen. Nun, in diesem höchsten Ausbruch seines Zornes schlug ihre Furcht in Bewunderung um. Sie sprang auf und eilte zu ihrem Mann, der in Gefahr war, mit dem Stuhl nach hinten überzuschlagen, umschlang ihn und zog ihn mit dem triumphierenden Ruf: »Jochen! Mein lieber Jochen!« zu sich herauf.

Aber noch ehe er fest auf seine Beine gekommen war, hieb er auf den Tisch, daß alle Gläser klirrten, und schrie:

»So, mein lieber Neefe, ist es bei mir.«

Dann umarmte er seine Frau und flüsterte ihr ins Ohr: »Liebe Christel.«

Was an diesem Abende noch geschah, blieb nur sehr undeutlich in ihrem Gedächtnis haften. Denn alles schwankte in verzaubertem Licht, in dem ganz fern der Inspektor wie ein kümmerliches Häufchen Unrat und seine Frau als verschüchterter plattgedrückter Schatten wirkte.

Erst an der Gartenpforte, als ihr Mann und sie von Neefe und seiner Frau Abschied nahmen, erwachte sie etwas aus ihrem rauschähnlichen Zustand.

Sie hörte den Inspektor auf ihren Jochen einsprechen: »Also, lieber Maechler, du weißt alle Vorteile, wenn du mitmachst. Deswegen sei kein Bock!«, und vernahm die Antwort ihres Mannes. »Jaja! Ich will mir alles über die Leber laufen lassen. Aber wenn du ein Bock bist, wozu soll ich einer sein. Also schlaf wohl!«

Dann lachte er in wilder Lustigkeit auf und versetzte Neefe einen fröhlichen Abschiedsstoß, daß er bis auf die Hälfte der Feldgasse taumelte, nahm sein Weib um den Leib und ging mit reißenden Schritten in sein Haus zurück.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, noch im finstern Hausflur, kam der ganze Widerwille abermals über ihn. Er ließ sein Weib fahren und sprach voll Ekel:

»Alles unecht ... alles erlogen ... vom gutgespielten Stehenbleiben auf der Gasse, über die Freude des Bekanntwerdens mit mir ... das verfluchte ›Gelobt sei Jesus Christus‹ zum Pfarrer ... sein Eintreten für mich eine verzuckerte Schweinerei, um mich in einen Sack zu stecken ... Himmel, Teufel noch mal!«

Dann stand er lange wie erstarrt und spuckte immer wieder wortlos aus. Darauf richtete er sich auf, tat einen tiefen, erleichternden Atemzug, und Christine fühlte im Finstern, wie er sich ihr zukehrte.

»Ja«, sagte er versonnen mit verwandelter Stimme, »die Agnete, das arme liebe Schäflein tut mir im Herzen leid. Das ist keine Ehe, das ist ein Martyrium. Siehst du, er hat dich auch beschwatzt, der Hund«, und plötzlich brach es wieder los.

»Aber es hat ihm nichts genutzt«, rief er. Doch nun war kein Rasseln des Zornes in der Stimme, sondern es strahlte glücklich aus seiner Brust, »gar nichts hat's ihm genutzt. Gelt, du bist und bleibst mein liebes, teures, tapferes Christel.«

Damit packte er sie mit solch inbrünstiger Gewalt und riß sie an sich, als wolle er sie erdrücken, daß ihr vor Seligkeit fast die Sinne vergingen.

Und dann erlosch das Licht, und die Nacht schweißte die beiden in. einer Liebesglut zusammen, wie sie sie noch nie erlebt hatten.


 << zurück weiter >>