Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Jochen, nachdem er die letzte Stiege hinter sich gebracht hatte, ging in dem Wogen seiner Tiefenbewegung, die er mit dem leidenschaftlichen Ausbruch gegen Christine wieder über sich gebracht hatte, wahllos und benommen auf dem weitläufigen, vielverwinkelten Boden seines Hauses umher, öffnete Kammer um Kammer, musterte jeden Raum aufmerksam, als suche er etwas, und stand dann in einem langen, völlig finsteren Bodenschlitz still, der anscheinend ganz leer war und zu dem doch eine richtige Tür wie zu jeder anderen Kammer führte. Jochen wurde von einer Art Schrecken überfallen, daß es so etwas in seinem Hause gebe, von dem weder er noch irgend jemand etwas gewußt hatte. Vielleicht, sann er, treibe ich mich in einer Schicht meines Lebens umher, die ebenso sinnlos wie diese Kammer ist. Das ergriff ihn dergestalt, daß er so schnell wie möglich aus diesem toten, unheimlichen Räume hinausverlangte. Dabei stolperte er unterwegs über irgend etwas und erkannte es als einen maladen, lehnenlosen Stuhl, den er aufnahm.

Draußen, in dem ungewissen Dämmerlicht des schmalen Bodenflures musterte er den Stuhl, sein durchgesessenes Rohrgeflecht, seine geschwungenen, zierlichen Beine aus edlem Holz, und erkannte, daß er uralt, von einer längst verwehten Generation, wohl aus Pietät in diesen toten Bodenwinkel wie in einem Grabe untergebracht und vergessen worden sei. Aus seiner, Maechlers Vaterreihe konnte er nicht herrühren. Denn der verstorbene Nathanael war als Jungmann von drüben aus dem Böhmischen eingewandert und hatte Jochens Mutter, die letzte des erschöpften Wennrichschen Geschlechts, geheiratet, das seit undenklichen Zeiten in diesem Hause gewerkt hatte. Und als der schwerblütige Jochen dies gesonnen hatte, kamen ihm die Reste dieses Stuhles ehrwürdig vor, fast wie ein Vermächtnis seiner Mutter. Vorsichtig trug er ihn das Bodengänglein hin bis zu der kleinen Luke an dessen Ende, setzte sich behutsam darauf und verlor sich, hinausschauend, weiter und weiter in das eben begonnene Traumsinnen. Warum hatte es ihn in die tote Kammer zu dem Stuhl aus Urväterzeiten geführt? fragte er überlegend. Denn nichts, aber auch gar nichts, was uns im Leben widerfährt, ist sinnlos. Mußte er das nicht als eine Mahnung aus der Tiefe, und zwar von der Mutterseite her, auffassen, unter allen Umständen fest bei seinem Handwerk, in den vier Pfählen des Versprechens zu bleiben, das er in jenem denkwürdigen Jungenfrühling einst seiner Mutter gegeben hatte, und nie mehr, durch keinen Zorn und Widerkampf sich ins Leutetreiben oder gar in Welthändel zu mischen? Nie mehr, und mochten zwanzig Neefes kommen, würde er sich wieder in ein Wortstechen wie gestern abend verleiten lassen. Gejächte Worte führen aufgeblasene Taten am Strick hinter sich her. So bohrte er in sich hinein, bis sein Gegrübel zu einem immer verschleierteren Auf- und Niederwogen bloßen Gefühls wurde.

Drunten in der Wohnküche räumte indessen Christine den Tisch ab, wusch das Geschirr und gab dann dem Zimmer den gehörigen sonntäglichen Glanz, nicht ohne dann und wann ins Haus hinauf nach einem Laut von Jochen zu lauschen und vorsichtig aus der Tür nach ihm zu spähen. Aber nichts war zu hören, nichts zu sehen. So setzte sie sich feiertäglich hergerichtet mit dem Strickstrumpf ans Fenster, und wie ihr Mann droben an der Bodenluke über sein Leben nachsann, kreisten all ihre Gedanken um das Rätsel seines Wesens, aber nicht mehr ein wenig spöttisch und überheblich, sondern in ernst-liebevollem Bemühen. Der gutmütige, verschollene Jochen war nicht der ganze Jochen; aber der wild auffahrende, hart zuschlagende war es auch nicht. Vielleicht in der unbegreiflichen Leidenschaftlichkeit war er es mehr als er wußte und ihm lieb war.

Am Ende beruhigte sie sich in einem Bilde, von dem sie nachher nicht wußte, ob es das Ergebnis ihres Nachsinnens über das Wesen ihres Jochen gewesen sei oder von dem Traum in der vorigen Nacht herrühre, der sie nach dem Liebesfest durch die abenteuerlichsten Gegenden einer Lichtwelt getragen hatte.

Sie sah ein Haus mit einem niedrigen, aber festen Dach, dessen eintönige Mauer sich an einer Straße lang hindehnte, und das nur mit wenigen kleinen Fenstern auf das Leben sah, das auf der Straße an ihm vorübertrieb, so daß es mit seiner schmalen Tür als Einlaßpforte mehr einer verwunschenen Einsiedelei glich. Aber trotz der kargen, fast abwehrenden Art seiner Vorderseite hatte man die Überzeugung, daß es sich nach hinten in ein Gewirr von vielen baumbestandenen Höfen ausbreitete; denn einige Laubkronen stiegen über den niedrigen First, die im Licht einer unsichtbaren Sonne wogten, für sie, für sie alleine wogten. Befangen und hingenommen von diesem Bild ließ Christine den Strickstrumpf auf ihren Schoß sinken. Jawohl, ich weiß es, sann sie beglückt, mit seinem Höchsten und Besten gehört der liebe Jochen nur mir. So stark wurde Christine von dieser Beseligung ergriffen, daß ihr ganzer Leib wieder von dem singenden Wogen erfüllt war, in dem sie der Traum der Nacht durch die unsagbare Lichtwelt fliegend geführt hatte.

Eine leidenschaftliche Zärtlichkeit überkam sie, ein inbrünstiges Verlangen, ihren Mann zu umarmen, nein, in sich hineinzureißen, daß sie das Strickzeug auf das Fensterbrett warf, aufsprang und ratlos in der Stube hinging. »Ja, was soll denn das sein?« fragte sie sich ratlos. »Christine, bist du denn ganz verrückt geworden?« Und am Topfschrank angekommen, begann sie mit fliegenden Händen die Töpfe zu rücken, bis ein großer Hafen ihren bebenden Fingern entglitt und mit lautem Krach am Boden zerschellte. Da kam sie zu sich und stand wie erstarrt still. Und in der Lautlosigkeit, die diesem Mißgeschick folgte, hörte ihr gespanntes Ohr Jochens Schritt auf dem Boden gehen. Erschrocken bückte sie sich und räumte schnell die Scherben weg, denn was sollte sie ihrem Mann sagen, wenn er sie fragte, was mit ihr geschehen sei?

Wirklich war Jochen von dem scheppernden Fall aus seinem bohrenden Gefühlssinnen an der Bodenluke gerissen worden. Er horchte hinunter, was sich noch etwa ereignen werde. Als er nichts vernahm, erhob er sich langsam und streckte seinen von dem langen Sitzen verklammerten Körper.

»So bleibt's«, sprach er leise, aber mit drohend zusammengezogener Stirn gegen die Bodenluke, wie zu einem dahinter schwebenden Menschen. »So bleibt's, und reiner Tisch wird gemacht«, wiederholte er noch innerlicher.

Dann nahm er behutsam den Stuhl auf und trug ihn in die finstere Schlitzkammer. Obwohl er in dem Raum nichts sehen konnte, musterte er ihn mit großen Augen und nickte befriedigt. Denn nun hatte er einen Ort gefunden, den niemand auf der Welt kannte und wo er, wenn's notwendig war, ungestört mit seinem Allergeheimsten allein sein konnte. Er machte die Tür zu, drückte die Haspe fest über die Öse und vollführte mit der Hand eine Bewegung, als drehe er einen Schlüssel im Schloß.

Es war ganz dunkel geworden. Nur eine schüchterne Helle von dem aufgehenden halben Mond gloste im Verfinstern. Während Jochen vorsichtig die Stufen der Treppe hinunterstieg, hatte er die wohlige Empfindung, er komme von einem beglückenden Besuch. Denn war es nicht möglich, daß seine Mutter als junges Mädchen auf dem Stuhle gesessen hatte? Aber von diesen seinen geheimen Traumverbindungen durfte niemand etwas wissen. Selbst Christine mußte das verborgen bleiben. Darum, als er den Flur unter den Füßen fühlte, ging er leise an der Tür zur Wohnküche vorüber zum Hause hinaus, weil er so, von diesem heimlichen Weben noch lebhaft durchspielt, seinem Weibe nicht gegenübertreten mochte, um sich nicht zu verraten.

Christine saß in der unerleuchteten Stube am Fenster und wartete auf seinen Eintritt. Sie zählte seine vorsichtigen Schritte auf der Stiege, um aufzuspringen, ihm entgegenzueilen und ihn zu umfangen. Aber Jochens leise Schritte gingen vorüber und verloren sich aus dem Hause. Sie sah ihn das Vorgärtchen hin durch die Pforte über die Straße gehen und in dem Ziergarten am Heidewasser verschwinden.

›Was soll das sein?‹ fragte sie sich betroffen. Aber da stieg das Bild in ihr auf, das sie vom Traum der Nacht her über Jochens Wesen unterrichtet hatte. ›Na ja‹, sann sie beruhigt, ›er ist noch nicht fertig mit dem Gang durch die hinteren Höfe‹, erhob sich und machte Licht.

Als Jochen endlich in der Stube erschien, war er aus den Untergründen seines Wesens ganz aufgetaucht in den engen Umkreis seines tätigen Lebens und trug wieder das Gesicht der alten philiströsen Gutmütigkeit, daß Christine nicht mehr zu dem Zärtlichkeitsausbruch versucht wurde, nach dem sie vorhin so stürmisch verlangt hatte. Sie begann mit den Vorbereitungen zum Abendbrot, ging in gemächlicher Beschäftigung hin und wider, während Jochen sich unter die Lampe an den Tisch setzte, die Zeitung, ohne zu lesen, hin und her schob, sich am Rechen mit seinen Kleidern zu schaffen machte und dazwischen von der Arbeit am morgigen Werktag und der Einteilung der Woche zufrieden redete, so wie er an unzähligen Abenden während ihrer siebenjährigen Ehe gesprochen hatte. Die aufgehängten Häute auf dem Boden seien schon trocken genug, davon habe er sich heute nachmittag gründlich überzeugt, daß er morgen früh gleich mit dem Walken beginnen könne.

»Heute nachmittag?« fragte Christine, in sich hineinlächelnd.

»Ja«, antwortete er unsicher, »du weißt doch, wer den Sonntag verschläft, wird die ganze Woche nicht wach.«

»Na freilich, lieber Jochen, weiß ich schon. Und während du droben allerhand rumort hast, bin ich mit meinem Strumpf bis zur Ferse gekommen«, sagte sie und setzte in Gedanken hinzu:›In den hinteren Höfen hast du dich herumgetrieben‹, lachte belustigt auf und vollendete: »Aber nun wollen wir essen.«

Wohl bohrte sie mit vorsichtigen, listigen Worten weiter, aber von seinen nachmittäglichen Bodenstunden erfuhr sie nichts. Da streute Christine zwischen ihre Worte etwas mehr Pfeffer, um ihn zu reizen, doch er goß über ihre scharf gewürzten Worte die abgestandene Milch gutmütiger Entgegnungen, um dann immer wieder in das Insichhineinhorchen zu versinken, bis das liebe Weib endlich abließ, ihn weiter zu bedrängen. Mein Gott, der gute Jochen war eben eine lange Hausmauer mit wenigen kleinen Fenstern; aber seine höchsten Baumkronen wogten über dem niedrigen First doch nur für sie in ihrer Sonne.

Das beruhigte sie so, daß sie am Ende der langen Zwiesprache über den Tisch nach seiner großen Hand griff und sie zärtlich drückte.

»Gewiß, mein lieber Jochen, ich rede so, wie eben Weiber reden. Laß gut sein, es wird sich alles machen«, sagte sie herzlich und stand auf, um den Tisch abzuräumen.

Auch Jochen erhob sich und nach einigen Umgängen landete er auf dem Stuhl am Fenster, faltete die Hände im Schoß und sann schweigend vor sich hin. In Christines Leib aber begann die unaussprechlich glückliche Unruhe wieder heftiger zu wallen, daß sie zeitig im Schlafzimmer verschwand, um mit sich allein zu sein.

Sie hatte noch nicht lange gelegen, da begann diese beseligende Unruhe sich zu etwas Rätselhaftem, wie in den seelenhaften Anhauch des zweiten Lebens in ihr zu verwandeln, so daß sie sich willenlos diesem Erlebnis als dem Nahen des Schlafes hingab.


 << zurück weiter >>