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Elftes Kapitel

Während sich im Westen schon die Wolken zusammenballten, aus denen sich unter einstweilen noch unhörbaren Donnerschlägen bald der eiserne Vorhang des Schicksals vor den deutschen Armeen herabsenken sollte, der ihrem Vorwärtsstürmen noch vor Beginn des Winters Einhalt gebot, überließ sich Damian unbeschwert dem lichten Seelenwetter, in das er zurückgefunden hatte. Von den Flügeln seines neuen Geistes getragen, wirbelte es ihn förmlich durch die Tage und Wochen, vom Hörsaal zur Fechtstunde, vom Seminar zum Rudern. Rechtschaffen müde sank er allabendlich in traumlosen Schlaf, aus dem er sich schon am zeitigen Morgen, unsanft genug, doch stets erquickt, vom Schrillen seines Weckers auf die Beine bringen ließ.

Gerade in diesen ersten Stunden des Tages arbeitete er nun am liebsten und benutzte sie daher vor allem zur Anfertigung der verschiedenen Seminararbeiten, unter denen ihn das Thema »Über das Grundprinzip der Philosophie Heraklits«, das ihm Professor Methner gestellt hatte, am meisten ansprach, und das ihn einige Wochen lang auch innerlich stark beschäftigte. Denn nicht nur, daß er hier einer der Grundgestalten des erkennenden Gedankens, einem der geistreichsten Männer der Antike, ja aller Zeiten, gegenüberstand, beeindruckte ihn so sehr, sondern daß er sich mit einem Male und auf eine fast beklemmende Weise in eine Fortsetzung seines nächtlichen Streitgesprächs mit Walter über den griechischen ›agon‹ verstrickt sah. Mochte er damals noch zu befangen in seiner Wunschvorstellung vom schöpferischen Frieden als Weltprinzip gewesen sein, oder ihn inzwischen Ares mit seinen roten Blitzen hellsichtiger gemacht haben – heute jedenfalls erschien ihm Heraklits Gesetz vom ewigen Werden, vom Kampf, der allem Werden eigentümlich ist, und vom »agon«, in dem das Räderwerk des Kosmos sich dreht, in anderem Licht als dazumal. Und je tiefer er in Heraklits Gedankenwelt eindrang, um so stärker lichtete sich ihm das Dunkel, das man seinem Stil sooft vorwerfen zu müssen glaubt, und um so leuchtender löste sich ihm daraus die wundervolle, aus dem reinsten Quell des Hellenischen geschöpfte Vorstellung, die den Kampf als das fortwährende Walten einer einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit begreift.

Das Urteil, das der Professor dann über seine Arbeit fällte, als er sie besprach, war so uneingeschränkt lobend, daß Damian errötete und es alsbald auch Walter mitteilte, vor dem er zu seiner Besorgnis schon längere Zeit ohne Nachricht geblieben war, obwohl der Freund ihm bisher regelmäßig einmal in der Woche geschrieben hatte.

Etwa eine Woche später erhielt Damian zu seinem Schrecken den Brief zurück mit dem Vermerk: »Verwundet. Nicht mehr bei der Truppe.« Nun hieß es, sich in Geduld fassen und auf ein Lebenszeichen Walters warten.

*

Auch aus Wilkau vernahm er zur gleichen Zeit Unerfreuliches insofern, als ihn Sessi in ihren Briefen, die sich; sonst eigentlich nur auf verlängerte Grüße beschränkten, nun schon zu wiederholten Malen wissen ließ, daß sie daheim von ihrem Vater seit dem Tag seiner Abfahrt zur Front noch keine Zeile erhalten hätten und gar nicht mehr wüßten, was sie unternehmen könnten, weil ihnen nicht einmal das Regiment bekannt sei, zu dem Vater kommandiert wurde. Da seit diesem Zeitpunkt jetzt schon mehr als acht Wochen verstrichen waren, blieb nach Meinung der beiden Frauen nur die Annahme übrig, daß Korff in Gefangenschaft geraten sein mußte, andernfalls hätte er doch bestimmt eine Möglichkeit gefunden, den Seinigen ein Lebenszeichen zukommen zu lassen, oder man hätte die Familie im Falle seines Todes benachrichtigt.

Damian, der Korff persönlich gar nicht näher kannte, denn seine erste Begegnung mit ihm als Kind im Gerberhaus zählte ja kaum, und ihn später dann und wann allein oder in Sessis Begleitung von ferne gesehen hatte, empfand für ihn, als Vater Sessis, zwar keine ausgesprochene Abneigung, aber es war doch so viel Maechlerblut in ihm, daß er von jeher das hochfahrende, adelsbetonte Wesen Korffs, das einst seinem Vater gegenüber zum Ausbruch gekommen war, aus bürgerlichem Selbstgefühl als eine Erniedrigung angesehen und auch Sessi gegenüber daraus nie einen Hehl gemacht hatte. Später, als er durch Sessi erfuhr, daß ihre Eltern durch strikte Verbote ihre Freundschaft mit dem Gerberjüngling zu unterbinden trachteten, konnte er dieses Gefühl noch weniger unterdrücken, so daß ihn jetzt Korffs Schicksal ziemlich unberührt gelassen hätte, wäre er nicht Sessis wegen genötigt gewesen, sich darüber Gedanken zu machen. Zwar war auch er geneigt, an Korffs Gefangenschaft zu glauben, da er keinen anderen plausiblen Grund für sein Schweigen sehen konnte; aber auch dann hätte doch wohl über das Rote Kreuz schon eine Nachricht eingetroffen sein können. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr verdichtete sich in ihm eine dunkle Ahnung, daß sich nur ein tragisches Geschehen als Ursache und zugleich Lösung dieses rätselhaften Verhaltens herausstellen würde.

Wie recht er damit behalten sollte, erwies sich in der Folge, wenn auch erst abermals einige Wochen darüber hingingen, Wochen übrigens, in denen sein Denken und Fühlen so ausschließlich von dem Schicksal Walters in Anspruch genommen wurde, das sich ihm in dieser Zeit enthüllte, daß demgegenüber die ahnungsvolle Ungewißheit über das, was Korff widerfahren sein mochte, zeitweilig gänzlich seinen Gedanken entschwand.

Von Walter hatte sich das Soldatenglück gewendet. Ein Schrapnell hatte ihm beim Sturm der Infanterie die linke Schulter und gleich darauf eine Granate auch noch den linken Unterschenkel zerschmettert, so daß er sofort im nächsten Feldlazarett operiert werden mußte, wobei das Bein bis übers Knie dem Messer des Chirurgen zum Opfer fiel. Erst nachdem er in einem weiter rückwärts gelegenen Kriegslazarett Aufnahme gefunden hatte, war es ihm möglich, an Damian zu schreiben.

So erlöst Damian auch aufatmete, als er nunmehr wenigstens Gewißheit hatte und den Freund am Leben wußte, erregte ihn dessen schwere Verwundung doch außerordentlich, wenn er die Folgen bedachte, die sie für Walters ganze Zukunft mit sich bringen mußte. Seiner Offizierslaufbahn, für die er seiner Natur nach bestimmt schien, war damit ohne Zweifel ein Ende gesetzt. Offenbar gab sich auch Walter kaum noch Illusionen darüber hin. Denn Damian entnahm einigen Wendungen seines an sich knappen Briefes, der ihm im wesentlichen nur die Tatsachen mitteilte, wie schwer Walter innerlich unter diesem Gedanken litt. Er spürte genau, daß der Freund von ihm nun gleichsam ein erlösendes Wort erwartete, ein Wort, das vielleicht überhaupt für seinen Genesungswillen entscheidend sein konnte. Nur durch ein neues Lebensziel, das er ihm eröffnen könnte, war dem Freund jetzt zu helfen, und dieses Lebensziel bestand nach Damians Überzeugung in dem Entschluß, zu dem er Walter bringen mußte, sich nach seiner Wiederherstellung einem Universitätsstudium zuzuwenden, gleichgültig vorläufig welchem.

In diesem Sinne unternahm es Damian denn auch sogleich, den Freund zu beeinflussen. Vielleicht glückte es ihm, wenigstens seine Bereitschaft dafür zu wecken. Aber das Echo Walters, das Damian nach einiger Zeit erreichte, war wenig befriedigend. Die Ärzte, so schrieb Walter, hätten ihm durchaus Hoffnung gemacht, seine Schulter wieder kunstgerecht zusammenflicken zu können, wenn er sich auch auf eine Geduldsprobe gefaßt machen müsse. Mit einer Prothese werde es dann wohl immer noch ausreichen, sich der Fliegerei zuzuwenden. Nur für den Fall, daß die ärztliche Kunst an ihm versage, habe er sich vorgenommen, Damians Rat zu befolgen und sich für das Studium der Medizin entschieden, wohl immer noch die lebensnächste und für die Menschheit nützlichste aller Disziplinen, wenn er vom Waffenhandwerk zum Schutze seines Volkes absehe. Nach diesem Kriege werde die Welt ohnehin sicherlich für Jahrzehnte alles andere als darauf sinnen, wie sie sich am besten von neuem zerfleischen könne; und wenn er auch noch immer nicht daran glaube, daß sich jemals auf Erden der »ewige Friede« statuieren ließe, so hätte er für seine Person beim Friedensschluß, falls er mit gesunden Gliedern heimgekommen wäre, sowieso lieber seinen Waffenrock ausgezogen, als genötigt zu sein, in irgendeiner Garnison beim Gamaschendienst oder selbst in einem langweiligen Friedensgeneralstab über den alljährlichen Manöverplänen alt und grau zu werden. Einstweilen sei es glücklicherweise noch längst nicht soweit, und er bleibe bei seinem Vorsatz: falls es mit ihm noch für die Fliegerei lange – und bis er ausgeheilt sei, würde dieser Krieg bestimmt noch dauern, ja, es würden wohl noch einige Jahre daraus werden, darüber dürfe man sich nicht täuschen –, könne ihn niemand daran hindern, in eine Kiste zu klettern und sich die Fronten von oben zu besehen.

Als Damian diese Überlegungen Walters las, erging es ihm wie einem, der gefragt wird, ob es ihm lieber sein würde, vom Schicksal ein taubes oder ein stummes Kind zu erhalten, und der nicht weiß, wie er sich dazu stellen soll. Sollte er wünschen, Walter möge soweit wiederhergestellt werden, um dann als Flieger sein Leben ein zweites Mal und noch viel wahrscheinlicher zu gefährden, oder wünschen, er möge lieber einen noch größeren Schaden davontragen, damit ihm dadurch sein doch recht unfreiwillig gefaßter Plan, Medizin zu studieren, gleichsam vom Schicksal aufgezwungen würde?

*

Indes Damian dergestalt zwiespältigen Gefühlen hingegeben, einmal voll froher Zuversicht, dann wieder besorgt den weiteren Fortschritten in der Genesung des Freundes entgegensah, war Sessis Vater, der Freiherr von Schillingkhoff, von den Erinnyen seines verletzten Ehrgeizes wie seines nach dauernden Selbstmißhandlungen nur noch flügellahm flatternden Geistes so erbarmungslos gehetzt worden, daß er buchstäblich aus der einst so hochgeschwungenen Bahn seines Wesenssternes auf die Erde geschleudert wurde. Doch gleich allen Meteoren glückte es auch ihm noch einmal, seinen rasenden Fall in den irdischen Abgrund in ein so gleisnerisches Leuchten zu hüllen, daß es nicht nur diejenigen, welche seinem letzten Aufstrahlen beiwohnten, gleich einem fesselnden Naturereignis packte, sondern auch noch die Seinen, Leonore und Sessi, wohltätig über die höllische Tiefe seines Sturzes zu täuschen vermochte.

Nur einem einzigen Menschen entschleierte sich, scheinbar durch einen zufälligen Anstoß, die letzte Katastrophe dieses Mannes und damit die Tragik seines in trügerischem Glanze zersprühenden Lebens ganz. Schon der Umstand, daß es Damian war, der dessen gewürdigt oder auch dazu verurteilt wurde, läßt eine Zufälligkeit nicht glaubhaft erscheinen. Obschon auch er den äußeren Ablauf der Ereignisse nie genau erfuhr, gelang es ihm doch aus dem Ahnungsvermögen seines Inneren, sowohl ihre realen Ursachen wie dann auch das Ausmaß der seelischen Zerrüttung zu erkennen, das diese durch und durch soldatische Natur jenem unheldischen Ende zutrieb, welches allein Damian als solches überschaute und in sich bewahren mußte, wollte er nicht Sessis künftiges Leben unerträglich damit belasten.

Denn je unkindlicher Sessi geworden war, je selbstverständlicher sie sich von ihren erwachten weiblichen Gefühlen tragen ließ, desto gewichtloser erschien ihr alles, was ihr Vater durch selbstverschuldetes Handeln oder Unterlassen zu seinem persönlichen Geschick wie zur Zerrüttung seiner Ehe beigetragen haben mochte. Und desto stärker war sie davon überzeugt, daß er in seinem Kerne ein schlackenloser Ehrenmann sei, der sich mit allem, was er dachte, sprach oder handelte, und mochte es nach landläufigen oder adligen Begriffen noch so befremdlich sein, nur gegen das ihm zugefügte bittere Unrecht stemmte, um es zu überwinden. Mit dieser Überzeugung kam sie der Wahrheit so nahe, wie es nur von Natur aus gütige und feinfühlige Wesen vermögen, die durch die Äußerungen menschlichen Gebarens auf den Grund einer Gestalt zu blicken imstande sind.

Mit der gleichen Post, mit der Sessi wieder einmal Damian in einer liebenden Besorgnis, die ihn erschütterte, wissen ließ, daß sie noch immer in völliger Ungewißheit über den Vater schwebe, und daß sie nun, ohne auf ihre Mutter zu hören, einen Schritt beim Generalkommando unternehmen wolle, um nach Vater forschen zulassen, erhielt Damian einen Brief Walters, der ihm blitzartig das Dunkel erhellte, das auch für ihn bisher über dem Verbleib Korffs lag. Der Freund schrieb ihm aus dem Kriegslazarett Aschaffenburg, in das er inzwischen verlegt worden war. Damian traute kaum seinen Augen, als er ihn las. Ein einziges Mal hatte er zu Walter in vorgerückter Stunde, und auch nur seinen drängenden Fragen nachgebend, fast scheu davon gesprochen, daß er sich einem Wilkauer Mädchen, Sessi gerufen, der Tochter eines Freiherrn von Schillingkhoff, als heimlich verlobt betrachte, sich aber peinlich gehütet, den Freund selbst andeutungsweise über die Personalien Korffs und seine gescheiterte Existenz ins Bild zu setzen. Und jetzt: schrieb ihm Walter, er habe mehrere Tage im Aschaffenburger Lazarett neben einem Hauptmann Freiherrn von Schillingkhoff gelegen, der, nach langen Wochen von einer schweren Rückgratverletzung genesen, wenn auch für immer verkrümmt, eben nach Wilkau entlassen worden sei. Der Hauptmann sei demnach zweifellos der Vater seiner Sessi. Übrigens hätte er tagelang gleich einem Stummen in einer ihn geradezu kränkenden Wertlosigkeit sein Zimmer geteilt. Das Höchstverwunderliche an der ganzen Sache aber sei, daß ihm der Hauptmann in der Nacht vor seiner Entlassung in einem plötzlichen wilden Ausbruch, den er, Walter, nun seinerseits unbeantwortet gelassen hätte, den er aber, solange er atmen könne, nicht vergessen werde, in vagen, abgerissenen Sätzen, die es ihm mehr abpreßte, als daß er sie freiwillig über seine Lippen ließ, folgendes anvertraut habe: Um nicht gänzlich entehrt vor seiner Familie und seinen Bekannten dazustehen, werde, ja müsse er, wenn er jetzt als Krüppel nach Hause zurückkehre, allen diesen Menschen das vorspielen, was sie selbst von ihm als ehrlichem und tapferem Kämpfer für das Vaterland zu glauben bereit seien. Nach seiner Ansicht müsse die schwere Verletzung Schillingkhoffs auch Rückwirkungen auf seinen Geisteszustand gehabt haben, wofür schon der Umstand spräche, daß er nach Aussage der Schwestern nahezu noch drei Wochen nach seiner Einlieferung besinnungslos geblieben sei. Schillingkhoff sei, auch darüber habe er sich informieren können, in offenbar stark angeheitertem Zustand aus einem westwärts fahrenden Militärzug rücklings auf die Schienen gestürzt und habe sich dabei die schwere Verletzung zugezogen. Und jetzt lebe er in dem Wahne, denen zu Hause eine Komödie von schwerer Verwundung und Heldentaten an der Front, die er noch gar nicht gesehen habe, vorgaukeln zu müssen.

Damian las diesen inhaltsschweren Brief so oft, bis ihm die Buchstaben verschwammen, und sein Kopf schwirrte ihm von den hin und her jagenden Gedanken, die aber doch alle wieder in eine einzige Erkenntnis mündeten, in die Erkenntnis nämlich, daß Korff nur durch ein Geschehen, das seine Natur vergewaltigt haben mußte, in jenen Zustand völliger Ausweglosigkeit und Verzweiflung geraten sein konnte, in dem er sich bereits befand, als er aus dem Zuge stürzte, und der ihn in der Nacht vor seiner Entlassung, angesichts eines ihm doch wildfremden Menschen und zugleich jungen Kameraden, noch einmal übermannte. Die von Walter ausgesprochene Vermutung, daß sich Schillingkhoffs Geist durch seinen Sturz verwirrt habe, teilte Damian nicht, im Gegenteil, er war fest davon überzeugt, daß Korff im vollen Besitz seiner geistigen Funktionen war und im vollen Ernst sprach, als er seinem nächtlichen Zuhörer seinen abenteuerlichen, normalerweise allerdings wahnwitzig klingenden Entschluß verkündete, sich nach seiner Heimkehr in die hochstaplerische Rolle eines Helden zu flüchten.

Doch erst allmählich gelang es Damian, sich so weit zu sammeln und zu ruhiger Überlegung zu zwingen, daß er imstande war, zunächst einmal den Ausgangspunkt zu fixieren, von dem aus die Spule des Schicksals abermals begonnen hatte, eine für Korff verderbliche Schnur zu spinnen, in die er sich blind und diesmal so vollständig verstricken mußte, bis er sich rettungslos darin verfangen sah. Indem Damian sich alles, was er von Korffs äußerem Dasein in den letzten Monaten durch Sessi wußte, ins Gedächtnis zurückrief, fand er diesen Ausgangspunkt in der jähen, neu erwachten Aktivität, in die sich Korff mit dem Ausbruch des Krieges gestürzt hatte, als er seine Wiederaufnahme ins Heer betrieb.

Wie wenn vor einem Wanderer im Hochgebirge, der in einem dichten Nebelmeer nur vorsichtig Schritt vor Schritt auf dem Steige bergauf schreiten kann, den er gerade unter den Füßen hat und den er höchstens auf ein paar Meter überblicken kann, plötzlich der Schleier zerreißt und er sich knapp vor der Gipfelhütte sieht, die er noch in weiter Ferne wähnte, so teilte sich vor Damian, an diesem Punkte seines Denkens angelangt, eine Nebelwand und gab ihm die Sicht auf den Dornenweg frei, den Korff seitdem hatte gehen müssen:

Der erst mit schlichtem Abschied aus dem Heer entlassene, später auch noch ausgestoßene ehemalige Generalstabshauptmann und glühende Patriot meldet sich als Gemeiner, um mit ins Feld ziehen zu können; wird abgelehnt; versucht es nun, sich das zu ertrotzen, was jedem Deutschen sonst gewährt wird, und durch eine Hintertür in die Reihen der Kämpfer zu schlüpfen, indem er sich vor seinem hochadligen Vetter, dem Reichsgrafen, demütigt, sich den Anschein gibt, als Hauptmann angenommen, doch außerstande zu sein, seine Equipierung zu bezahlen. Mit dem Geld, das er daraufhin von diesem erhält, läßt er sich die neue feldgraue Uniform schneidern und fährt von Wilkau, noch bezecht von der letzten wilden Nacht im »Greif«, in Etappen und auf Umwegen mit Personenzügen nach dem Westen des Reiches, nicht ohne unterwegs immer wieder Station zu machen und in seinem aufs äußerste verletzten Ehrgeiz die ingrimmige Wut und auch die Scham über sich selbst in Bahnhofswirtschaften fortzuspülen, solange, bis es ihm irgendwo gelingt, sich, sei es unter Vorspiegelung besonderer Befehle oder einfach als eine Art blinder Passagier, in einen zur Westfront fahrenden Militärzug zu schmuggeln, in der vagen Hoffnung, mit ihm doch noch auf eine selbst ihm vorläufig noch unklare Weise in die Linien zu gelangen und sich dort, allen Hindernissen zum Trotz, im Kampf rehabilitieren zu können. In der Nähe von Aschaffenburg aber ereilt ihn der Dämon, der ihn treibt.

›Ja, so und nicht viel anders muß sich alles abgespielt haben‹, sann Damian vor sich hin, als nach Stunden der Aufruhr seines Herzens wieder kalmiert war, den ihm die Bilderflucht eingetragen, die er aus seinem Inneren heraufgezwungen hatte, wie, wußte er selbst nicht. ›Jetzt ist Korff also gleich einem Jäger, der alle Schüsse vertan und doch kein Wild zur Strecke gebracht hat, längst auf dem Heimweg, vielleicht schon in Wilkau eingetroffen, und schickt sich mit Münchhausenscher Dreistigkeit an, vor das Tribunal des Städtchens zu treten und es zur gespensterhaftesten Szene seines Daseins zu machen. Verhüten kann ich hier nichts‹, grübelte Damian weiter, ›nicht einmal Sessi ins Vertrauen ziehen; die Dinge müssen, werde daraus, was wolle, ihren Lauf nehmen, solange, bis es einer höheren Macht gefällt, den Vorhang fallen zu lassen. Walte Gott, daß es geschieht, bevor dieser tragische Akteur sich in der strahlenden Maske verfängt, die er sich zugelegt hat, und dann auch noch den gläubigsten Zuschauer, sein Kind, mit zu Boden reißt.‹


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