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Zweites Buch

Erstes Kapitel

Die Hand des Todes bringt Sterben und Werden. Je nachdem die Menschen sind, vor denen er sich an einem Nahverbundenen ereignet, klingt entweder das Dunkle in ihrem Wesen auf, oder die Welt und der Sinn um das Dasein des Hingenommenen blüht, geheimnisvoll verwandelt, in einem noch nie gesehenen Licht, daß wir uns tiefer und den Verstorbenen reicher verstehen.

Jochen Maechler aber wurde nach dem Tode seines Vaters weder tiefer in die Schatten getrieben, die aus jedem frischen Grabe in das Dasein der Hinterbliebenen steigen, noch war es ihm seinem ganzen Wesen nach beschieden, das hochgeschwungene Leben seines Vaters sich vielfältiger und ins Lichte verklärt anzueignen. Wie ein dumpfer Schlag war der Tod Nathanael Maechlers gegen das Gerberhaus auf der Feldgasse gefahren, daß das Gewese von dem Geisterstoß aus der Nacht in allen Räumen, bis in die Sparren des Daches hinauf, bebte, und auch das kleine Wuselstädtchen hatte eine Weile an verschlagenem Atem gelitten, als der große Gerber am Schloß vorbei über die Gansertbrücke zu Grabe getragen worden war. Von beiden Kirchtürmen hatte es dem Manne auf seinem letzten Wege alle Glocken singen lassen, der so lange sein Berater, Führer und Meister gewesen war. Bald aber hatte jedes Fenster wieder nach seinem Licht geschnappt, jedes Rad seine Last gedreht und jede Zunge die eigne Sorge gebeutelt. Die letzten Jahre der Zurückgezogenheit, ja vollkommenen Verborgenseins, durch die sich Nathanael Maechler schweigsam an den Todesfrieden herangerungen hatte, waren wie ein immer dichter werdender Schleier gewesen, der das Andenken an die Taten seines weithin wirkenden Lebens verhüllt hatte. Da er sich vor den Wilkauern selbst immer tiefer ins Vergessen gedrückt hatte, war er von ihnen schon zu Lebzeiten vergössen worden, und sein Begräbnis löste für eine kurze Weile nur dieses und jenes Ereignis aus seinem Leben in das Licht einer schnell schwindenden Erinnerung, nicht die ganze Fülle dieses Mannesdaseins, das alle Sorge und alle Kraft für das Gedeihen des kleinen Städtchens und des großen Vaterlandes eingesetzt hatte. Man rührte ohne tiefere Anteilnahme bald mit reinem, bald mit schmutzigem Zungenstecken das Leben dieses durch den Tod wehrlos gewordenen Mannes um und rettete sich aus dem Wust solchen Widersinns, indem man die Gründe der wirren Nachrede aus seinem undurchsichtigen Charakter erklärte, daß er ein von irgendwoher zugelaufener Rebeller gewesen sei, dem Besserwissen, Klugraden und Allesmachen im Blute gelegen habe, der wohl vieles Gute gewirkt und Rechtes ins Lot gerückt, aber von der starren Hartnäckigkeit, immer und immer nur seinen Willen durchzusetzen, endlich dazu verführt worden sei, das Leben der Menschen in die Wolken und in fixen Traum hinaufzubauen. Das, so meinten die Wilkauer, habe sich zuerst an seinem eigenen Leben gerächt. Seine großen Geschäftspläne seien als Plunder zerstoben, sein Handwerk verödet, sein Geist verfallen und er selbst in seinem Berggarten zwischen dem Gesträuch vom Tode wie eine verflogene Motte aus dem Leben geblasen worden.

Von dem geheimen Ringen Nathanael Maechlers gegen die Schicksalsverkettung seines Lebens und um das Glück mit Lotte, seiner Frau, wußte keiner von den Maulschwärmern etwas, die wahllos Schatten und Schimmer hinter dem Erdverschwundenen herbliesen. Ja, selbst Jochen, sein Sohn, hatte nicht mehr als eine unbestimmte Ahnung von den geheimen Strömen, die das Leben seiner Eltern getragen und verschluckt hatten. Nicht mehr kam ihm bis in die frühe Kindheit zum Bewußtsein, als daß in seinem Vaterhause von jeher ein anderes Leben geherrscht hatte als unter allen Wilkauer Dächern, tiefer, gefährlicher, glücklicher, drohender, weiter und unterwühlter als je in einer der Familien, in die er später Einsicht erhalten hatte. Was das aber war, was Vater und Mutter strahlend umwoben, dunkel auseinandergedrängt, sieghaft beflügelt und drückend belastet hatte, das blieb ihm verborgen. Nur daß es in früher Zeit etwas Rätselhaftes gegeben hatte, von dem lange Jahre Furcht, Angst, ja Grauen in seinem Leben zurückgeblieben war, dessen erinnerte sich Jochen Maechler heute noch ganz genau.

In diese Verdunkelung aus der unerkennbaren Tiefe seines Wesens fielen auch die Schwaden der heimlichen Tücke und des getuschelten Lästerns, das man nun hinter dem Tode seines Vaters herschickte. Nicht, daß er der bösen Arbeit dieser in Essig gekochten Zungen recht gegeben hätte, o nein, Jochen Maechler wußte, daß sein Vater eine lautere Glocke gewesen war. Aber warum hatte es ihn immer gepiekt, sie vor jedem dreckigen Ohr zu läuten? Wäre es nicht klüger gewesen, mit ihrem Klange sein Haus, sein Leben und das seiner Familie zu erfüllen und sich nicht in großspurige Unternehmungen, wie den Straßenbau, die Wasserleitung und in nie abreißendes politisches Treiben zu stürzen, ganz zu schweigen von hundert unerfüllbaren Plänen und Ideen, die eigentlich nur auf das Glück der anderen gezielt hatten. Was hatte er damit erreicht? Eine Enttäuschung, die seine Altersjahre mit tiefer Melancholie umdüstert und ihm an der Berggartenbank das Leben verzweifelt ausgepreßt hatte, jetzt aber sein Andenken durch die Straßenpfützen übler Nachrede schleifte.

Doch weder ein jäh wildes Aufbäumen und Losfahren gegen diese Ehrabschneider kam in dem Gerber Jochen Maechler hoch, noch brachte er es fertig, sich durch Menschenhaß, durch Stolz und Spott innerlich von der Welt loszubeißen, nein, seine Erkenntnis der Vergeblichkeit der väterlichen Hingabe zum Wohle anderer glich nur dem kühlen Licht der Sterne, deren Schein bis in die fernste Ferne auf dem Grundwasser seines Wesens bunkerte, ohne sie jedoch vollkommen zu erhellen. »Jaja – nein, nein!«, mit dieser echt schlesischen Sentenz endete er jede heimliche Betrachtung über den Undank der Welt und die zwecklose Vieltuerei der Menschen; denn »wer zwei Beine hat, soll nicht mit sechsen laufen wollen«. Auf diese unheldische Weise druckste er sich durch die dicke Luft nach dem Tode seines Vaters, kaute Unverständliches aus den Stockzähnen vor allen, die ihn zur Rache an den Verleumdern aufreizen wollten, und spielte sogar seiner Frau Christine gegenüber den tiefsinnigen Weisen, der sich über »das Gemuffel des Packs« nicht aufregen mochte. Aber die flinken, scharfen Augen des dunklen, rührigen Weibes sahen wohl die Wülste ärgerlichen Unmuts auf seiner breiten, schweren Stirn, und sie hörte ihn dumpf mit sich selber murmeln, wenn er am Schabebaum mit dem zweigriffigen Messer in der Werkstelle über den Häuten her war. Allein, sie hütete sich, in dieses verborgene Gedankenrühren ihres Mannes einzugreifen, weil sie wußte, daß er damit nichts Schlimmes ausrichtete und am Ende doch wieder in den stillen, steten Trott seines nie versagenden Fleißes fiel, mit dem er das vollkommen zusammengebrochene Handwerk des alten Nathanael wieder heraufgebracht hatte. Nur einmal, als er in gar zu komischem Ernst am Tisch saß und mit dem Daumennagel tüftelnd genau die Jahresrillen der ausgewaschenen Platte entlangfuhr, zupfte sie ihn unversehens am Ohr und rief spaßhaft: »Holla, Jochen, laß den Holzwürmern auch etwas zu tun übrig!« Und da er aus seinem Versinken auffuhr und sie fassungslos ansah, lachte sie ihm einen solch derben Spritzer übermütigster Lustigkeit ins verblüffte Gesicht, daß er ratlos fragte, was es denn eigentlich gebe.

»Windbeutel und Wolkenkuchen mit Nebelstreusel oben drauf. Das gibt es, lieber Jochen«, antwortete sie in fröhlichem Spott und war damit schon aus der Stube gewirbelt.

Das ereignete sich in jener Zeit, lange Wochen nach der Beerdigung des alten Maechler, als die Stimmung in Wilkau schon umzuschlagen begann, daß die Giftspritzer anfingen, sich vorsichtig zurückzuziehen und mit Achselzucken zugaben, daß der Verstorbene immerhin ein ganz honetter Mann gewesen sei, obwohl er als Landfremder einen ganz gehörigen Rucksack voll Fehler durch sein Leben geschleppt habe. Denn daß er den Schlosser Neefe in die Überschwemmung des Heidewassers nicht gestoßen, nein, aber getrieben habe, dessen wüßten sich die alten Leute noch wohl zu erinnern, und der Tod des Gastwirts Kammel und seiner Frau müsse auch auf die Kosten seiner Wasserleitung geschrieben werden. Sie mußten so ihre Verunglimpfungen von immer weiter herholen und immer mühseliger eindampfen, daß die Rechtlichdenkenden, und deren gab es auch in Wilkau eine ganze Menge, endlich von diesem Schandgebläse deutlich abrückten, nachdem sie allerdings wochenlang in geheimer Schadenfreude es geduldet, ja genossen hatten. Dem böswilligen Kesseltreiben um das Grab Nathanael Maechlers und das Gerberhaus wurde aber merkwürdigerweise gerade durch den einzigen Sohn jenes Schlossers Neefe ein Ende bereitet, der von dem alten Maechler verbrecherischerweise sollte in das Heidewasser gestoßen worden sein.

Als siebenjähriger Junge war er damals nach dem Tode seines Vaters im Unwetter des 54er Jahres mit seiner weltverscheuchten Mutter nach Oberschlesien verschwunden, nachdem Haus und Geschäft des Vaters überstürzt an den ältesten Gesellen, mit Namen Witschel, verkauft worden waren. Nun, nach fast vierzig Jahren, tauchte er plötzlich in seiner Vaterstadt wieder auf, lief unauffällig mit entschlossen ausgreifenden Schritten und ein wenig geduckter Haltung durch die Gassen von Wilkau, ohne irgend etwas anderes zu verraten, als daß er gekommen sei, einige Hypotheken einzutreiben, die auf dem verkauften väterlichen Grundstück lagen. Er mietete sich in dem früher Kammelschen Gasthof »Zum grünen Baum« ein, trug sich als Grubeninspektor a. D. aus Lipine ins Fremdenbuch und benahm sich so, daß niemand ganz klar wurde, ob er nur zu kurzer Erholung oder wegen Schlichtung des Rechtshandels nach Wilkau gekommen sei, so beiläufig und überlegen lächelnd sprach er von seiner Geldgeschichte mit dem Schlosser Witschel, dem jetzigen Besitzer des väterlichen Anwesens, einem schwerfälligen, trägen Manne, aus dem auch niemand über den Handel mit Neefe einen bündigen Aufschluß herausbohren konnte. Freilich gab er zu, mit den Zinsen seit langem im Rückstand zu sein; »aber deswegen lasse er sich noch lange nicht alle Nieten aus dem Leibe ziehen.«

So erhitzte sich der Streit der beiden Männer langsam. Neefe schob noch eiliger als sonst in Wilkau hin und her, verlor aber nichts von seiner Heiterkeit, sondern lachte eher noch lauter über den »lieben, armen Witschel« in einer gutmütigen Herzlichkeit, in der jedoch ein gefährliches Drohen mitklang. Allein eines Tages, nach etwa dreiwöchigem Aufenthalt, reiste der Grubeninspektor so unvermutet und unauffällig ab, wie er aufgetaucht war. Darauf tat sich der berannte Schuldner wieder gemächlich auf den Bierbänken nieder, als sei alles zu seiner Zufriedenheit erledigt, schmunzelte pfiffig vor sich hin und meinte sarkastisch, daß die oberschlesischen Zeisige auch kein anderes Gesetzlein aufbrächten als die riesengebirgischen, wenn sie auch einen breiteren Schnabel hätten. Damit meinte er den Mund Alexander Neefes, der wirklich über das gewöhnliche Maß, fast bis in die Mitte der beiden Wangen, geschnitten war. Und da es sich nach diesem geschwinden Abflug Neefes herausstellte, daß er während der kurzen Anwesenheit in Wilkau zu einer großen Anzahl wesentlicher Männer unaufdringlich und angenehm in Beziehung getreten war, blieb von ihm in dem kleinen Städtchen allenthalben ein wohltuender Nachklang zurück. Der alte Pfarrer Kelvel nannte ihn eine gute Seele, der Gemeindevorsteher einen gewiegten Kopf. Der bärbeißige Arzt Fohl zuckte wohl etwas ironisch die Achseln, brummte aber doch sein seltenes »brav« hinter ihm her. Nur ein Teil des gewöhnlichen Volkes verhielt sich kritisch gegen den Abgereisten und stimmte lachend in das Urteil eines Mannes aus ihrer Mitte ein, der Neefe mit einer Uhr verglich, die anders geht als sie zeigt. So trudelten noch eine ganze Weile Munkelgeschichten in das Zwielicht hinein, das der abgereiste Alexander Neefe in Wilkau hinterlassen hatte, und eben war man in die Untersuchung der Frage eingetreten, ob der Grubeninspektor entlassen oder pensioniert worden sei, als Neefe wieder in dem kleinen Städtchen erschien, und zwar diesmal nicht mit dem Überzieher, sondern mit seiner Frau am Arm, und nicht mit einem kleinen Köfferchen, sondern mit Sack und Pack. In lauter Fröhlichkeit dirigierte er seine beiden Möbelfuhren in das Schlosser Witschelsche Haus und machte es dem verdutzten dicken Meister mit beißendem Lachen klar, daß die Zeisige, die in Oberschlesien singen gelernt hätten, das Gesetzlein doch besser kennten als die riesengebirgischen, und wenn er ihm nicht den ganzen zweiten Stock als Wohnung einräume, so wäre das nicht sein, sondern Witschels Nachteil. Denn er wisse wohl, daß übermorgen der Geldlegungstermin für die gekündigten Hypotheken sei. Wenn ihm aber Platz gemacht würde, so könne sich alles in Ruhe und Frieden abwickeln, wie es unter wohldenkenden Christenmenschen Sitte sei. Witschel betrank sich nach dieser Unterredung bis ins Augenstieren, prügelte seine Frau und zog andern Tages in das kleine Hinterhaus. Denn er hatte auf seiner lässigen Suche nach einem Geldgeber keinen Erfolg gehabt. Da er nicht zahlen konnte, blieb ihm eben keine andere Wahl, entweder in seinem eigenen Hause als zusammengequetschter Aftermieter zu wohnen oder vom Gericht als Habenichts auf die Straße getrieben zu werden. Freilich wurde dieser Entschluß dem aus allen Kleidern quellenden Witschel nicht leicht und quälte ihn, auch nachdem er ausgeführt worden war. Er hieb in seiner Werkstelle, mehr mit der Wut als dem Hammer, Funken aus dem glühenden Eisen, geriet nach einigen Tagen sogar in einen Zustand fast irrer Aufgeregtheit, daß er nichts mehr als große Nägel schmiedete, mit denen unser Herr Jesus Christus ans Kreuz geschlagen worden sei. Die bot er in allen Gasthäusern zum Kauf an, fluchte sich die Kehle trocken und wankte dann, vor sich hinweinend, in sein »Bettelhaus« auf der Vogelsdorfer Straße zurück. Aber da Neefe die wilden Ausbrüche und Verwünschungen, die Witschel hinter ihm herkochte, nicht mit zorniger Münze zurückzahlte, sondern überall voll Güte und Bedauern von dem armen Schlosser sprach, ja ihn einmal in seiner Stube besuchte und seine Besorgnis wegen der Schuldsumme vorsorglich zerstreute, glaubte der dicke Schlosser dem Grubeninspektor alle seine Versprechungen und ließ sich von dem liebenswürdigen Wortschwall Neefes in die alte träge Unbekümmertheit treiben. Verwundert schaute das Städtchen Alexander Neefe auf der Straße nach, weil es ihm gelungen war, den aus Feindschaft verrückt gewordenen Schlosser fast im Handwenden in den gewohnten trödeligen Fleiß zurückzudrehen.

Doch diese friedsame Luft um die beiden Männer dauerte nur einige Tage und wurde durch einen Umschwung vertrieben, als sei ihr Licht nur eine arglistige Spiegelung gewesen. Witschel geriet nämlich in seinen belanglosen Bierpalavern auch in den schon erkaltenden Tratsch, der noch immer um den begrabenen alten Maechler seine Blasen trieb. Als Wirt des Alexander Neefe spielte er sich eines Abends in dümmlicher Wichtigtuerei als einer auf, der nicht vom Sagenhören wie die meisten, sondern als ein Eingeweihter rede. Der alte Neefe, der Vater des Grubeninspektors, sei nicht von ungefähr im 54er Jahr in dem wilden Heidewasser umgekommen, sondern wirklich und wahrhaftig mit Absicht von dem Gerber hineingestoßen worden. Der Herr Grubeninspektor habe es ihm sozusagen selber anvertraut, und der müsse es als Sohn des Verunglückten doch wissen. Ja, und nun werde man auch verstehen, warum er, Witschel, in dem Streit mit Neefe ein X für ein U gemacht habe. Solle man mit einem Menschen nicht Mitleid empfinden, der als siebenjähriges. Kind durch einen Verbrecher um seinen Vater gekommen sei? Drum möge der Herr Inspektor so lange in seinem Hause wohnen, wie's ihm gefalle.

Anderen Tages wieselte diese Erzählung des Schlossers durch alle Lästermäuler, und das Giftjauchen um das Gerberhaus in der Feldgasse fing wieder an, lebhafter zu brodeln.

Aber merkwürdig, Alexander Neefe, dessen Name aus diesem aufgewärmten Schandgerücht doch höchst ehrenvoll duftete, nahm das Geschwätz des halb trunkenen Schlossers nicht lächelnd hin wie vieles andere, das ihm Witschel schon angehängt hatte, sondern er ging jetzt mit einer Leidenschaft gegen ihn vor, die niemand dem umgänglich heiteren Manne zugetraut hätte. Zunächst rief er den Schlosser in seine Wohnung, schickte vorher seine eigene Frau fort und begann dann ein Gericht über den verdatterten Witschel, daß er am Ende, von Neefe zur Tür hinausgeschubst, grau im Gesicht, am ganzen Körper bebend, kaum über die Stiege hinunterfand. Der Grubeninspektor aber stand auf dem oberen Flur und sah dem Davonstolpernden mit einem solchen Lächeln brutalen Triumphes nach, daß sein breiter Mund das Gesicht fast von Ohr zu Ohr spaltete. Und als der gezüchtigte Witschel auf der halben Treppe angekommen war, rief ihm Neefe ein »Halt, noch eins!« zu, daß der Schlosser, wie von einem unvermuteten grausamen Peitschenhieb getroffen, zusammenzuckend herumfuhr und voll ängstlicher Bereitwilligkeit hinaufsah.

»Also, Witschel, ich habe Ihre Unterschrift«, sagte Alexander Neefe, nun wieder verbindlich und freundlich, »überall wird die Lüge ausgetreten, verstanden!«

»Jawohl, Herr Inspektor«, antwortete Witschel gehorsam.

»Und das sage ich Ihnen noch ...« Neefe wurde wieder von der Wut überfallen. In diesem Augenblick trat Witschels Frau durch die hintere Tür auf den unteren Flur, und der Inspektor endete den angefangenen Satz anders.

»Nicht wahr, lieber Witschel, so machen wir's. Viel Glück«, sprach Neefe nun voll herzlicher Liebenswürdigkeit und zog sich eilig in seine Wohnung zurück.

»Nu, Heinrich, wo bist'n a so lange?« fragte Frau Witschel ihren verstörten Mann, der so eilig die letzten Stufen zu ihr hinunter stolperte, daß er fast gefallen wäre und sich nur mit ihrer Hilfe aufrecht erhalten konnte.

»Verflucht, Minna«, stotterte Witschel, »verfluchte Welt! Komm och schnell 'naus.«

*

Und nun begann Neefe jenen Vernichtungsfeldzug gegen die lästerlichen Gerüchte um das Leben des verstorbenen Nathanael Maechler, der dem verrufenen Haus auf der Feldgasse wieder zu einem lichten Schein verhalf. Der scheinbar allen aufgeschlossene, jeder Gesinnung gefällige Mann war mit einem Male, fast über Nacht, wie umgewandelt. Es gab kein Gespräch, keine Unternehmung, daß er nicht in Entrüstung über die Lügen geriet, die sich nach Nathanael Maechlers Tode in Wilkau noch immer breitmachten und nun gar den Versuch unternahmen, auch seine Person in diese Stinkluft zu ziehen. Hier höre seine Menschenfreundlichkeit auf. Duldung einer Schändlichkeit sei selbst schändlich. Wenn er bislang die Hinterhältigkeiten und das Schleichgift des albernen Schlossers lächelnd übersehen habe, so sei das jetzt ohne jede Schonung vorüber. Er lehne es ab, Witschels Vertrauter zu sein. Lüge, von Hunderten wiederholt, werde nicht Wahrheit. Und Lüge sei die Erzählung des Schlossers, sein seliger Vater sei das Opfer einer Untat des verstorbenen Maechler geworden, dieses Mannes, dem Wilkau seinen langen Glanz verdanke. Nein, als Ehrenmann, als Christ und Wilkauer dulde er das nicht, und jeder, dem Ehre, Christenpflicht und Bürgersinn noch etwas gelte, müsse ihm recht geben. Aus Krankheit sei sein Vater damals ins Heidewasser geraten, von niemand getrieben und gestoßen. Und Krankheit sei keine Schande. Alle das trug er mit eindringenden Schlagworten vor, daß niemand an seinem Reden und Tun zu mäkeln wagte, und vor dem Pfarrer Kelvel traten ihm sogar Tränen in die Augen aus Schmerz über den Zwang, im Kampf um die Wahrheit das Andenken seines unvergeßlichen Vaters zu versehren. Aber der geistliche Herr tröstete ihn und versprach, in einer der kommenden Predigten die Gläubigen über das rechte Maß aufzuklären, mit dem ein Christ den anderen schätzen müsse. Graf Eberhard Schilling belobte ihn wegen seines ehrenhaften Verhaltens – der Umschwung in Wilkau war vollkommen. Der Schlosser Witschel wagte sich kaum mehr aus dem Hause. Wenn jemand in seiner Gegenwart nur den Namen Neefe erwähnte, wehrte er entsetzt ab und lief davon. Er muckste auch gegen niemand, als ihm unauffällig von Neefe der Hals abgedreht wurde. Stillschweigend vollzog er die gerichtliche Überschreibung seines Hauses auf den Namen des gewesenen Grubeninspektors, saß einige Tage wie erschlagen in seiner engen Hinterhauswohnung und fing dann ein dumpfes Trudeln in die Schenken der umliegenden Dörfer an, weil er sich in Wilkau nicht mehr zu zeigen wagte.


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