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Zehntes Kapitel

An diesem Abend kehrte Damian zwar als ein Liebender ins Gerberhaus zurück, den das Eingeständnis des geliebten Wesens, daß es seine Liebe erwidere, tief beglückte, aber schon am anderen Morgen war er sich nicht mehr ganz sicher, ob Sessi in ihrer Güte ihn zuletzt nicht nur über seine Enttäuschung hinwegtrösten wollte, die sie zunächst doch selbst über seine Zurückstellung empfunden hatte. Die Worte, die sie in ihrer ersten Aufwallung dafür gefunden hatte, kränkten ihn doch noch immer, und was an ihm lag, auch vor ihren Augen als vollgültiger Mann dazustehen, würde er tun; das schwor er sich zu. Auch der gutgemeinte Rat, den ihm Sessi, noch ehe sie sich trennten, in ihrer liebreizenden Art gegeben hatte, nämlich tüchtig Sport zu treiben, am besten vielleicht Fechtunterricht zu nehmen, um dem zu schmalen Brustumfang nachzuhelfen, war nicht gerade sonderlich geeignet, sein Selbstbewußtsein zu erhöhen oder gar sein Glücksgefühl überströmen zu lassen.

Die Ferien wurden ihm diesmal lang, denn erst Anfang Oktober begann das neue Semester. Wenn es auch nur noch wenige Wochen waren, die bis zu seiner Abreise vor Damian lagen, so drohten sie ihm, den es danach drängte, sich in die Arbeit zu stürzen, sich darin zu betäuben, doch noch lang genug zu werden. Aber konnte er denn nicht auch hier in Wilkau schon damit beginnen, indem er sich in ein Buch vertiefte, das ihn fördern und zugleich von allen Skrupeln ablenken würde?

So griff er, fast mechanisch, zu jenem Buch, das er sich noch am letzten Tage vor der Heimfahrt in einer Buchhandlung mit dem Vorsatz erstanden hatte, es in den Ferien zu lesen. Wohl hatte er schon in den ersten Tagen in Wilkau einmal hineingeschaut, es auch angelesen, aber dann wieder unmutig beiseite gelegt. Er brachte einfach die innere Sammlung nicht auf, welche die Lektüre gerade dieses Buches offenbar erforderte. Es waren »Fichtes Reden an die deutsche Nation«. Die eigentliche Anregung, sie sich zu beschaffen, verdankte er Professor Methner. Er hatte sie noch vor Kriegsbeginn in seiner Schlußvorlesung der akademischen Jugend eindringlich ans Herz gelegt und dann in seiner Ansprache vor dem Rathaus mit den Worten der Jugend von 1914, in der sich, wenn nicht alles täusche, der Anfang eines neuen Weltalters verkörpere, noch einmal einen in jener Vorlesung geäußerten Gedanken Fichtes aus der Zeit vor den Befreiungskriegen aufgenommen. Jetzt, bei seinem zweiten Versuch, geriet Damian nach einigen neuen beharrlichen Ansätzen, trotzdem ihn Form und Stil der Darstellung vielfach fremdartig anmutete, von Rede zu Rede fortschreitend doch immer tiefer in den Bann dieses Geistes, dessen schon über ein Jahrhundert verklungene Stimme ihn schließlich mit ihrer ungeahnten Kraft und Wucht stärker traf als irgendein Werk eines deutschen Philosophen.

In dieser schon wieder einigermaßen von seinen persönlichen Umständen abgelenkten, kontemplativen Stimmung fand Damian eines Morgens neben seinem Frühstücksteller vier Briefe von Walters Hand, die dieser ihm vom Beginn des Vormarsches in Belgien an geschrieben, deren Beförderung sich aber durch die nur langsam in Fluß kommende Feldpost solange verzögert hatte. Der heiße Atem siegreichen Vorwärtsstürmens, die beinahe selige Lust, im Felde seinen Mann stehen zu können, die ihm aus jeder Zeile dieser Briefe entgegenschlug, war indes wenig dazu angetan, den zwiespältigen und unbehaglichen Zustand, dem Damian sich ungeachtet der Aufrichtung durch Fichte doch immer noch hier in Wilkau seelisch unterworfen sah, zu mildern oder gar zu lösen, so wohl ihm auch diese sichtbaren Zeichen der unverändert herzlich aufgeschlossenen Zuneigung des Freundes und seiner Unversehrtheit taten. Hatte er sich nicht in den vergangenen Wochen wer weiß wie oft um Walters Ergehen, ja ob seines völligen Schweigens seit seinem plötzlichen Aufbruch ins Feld manchmal sogar um den Bestand ihrer jungen Freundschaft gesorgt? Vor allem Walter gegenüber wollte er sich jetzt um keinen Preis dem Verdacht aussetzen, seinem damals so spontan geäußerten Entschluß, sich sofort freiwillig zu melden, untreu geworden zu sein, zumal der Freund ihn nach seinen Briefen bereits im Soldatenrock wähnte und schrieb, daß er hoffe, ihn bald draußen begrüßen zu können.

Auf der Stelle begann Damian daher, Walter in einem Brief über sein Mißgeschick zu unterrichten, und unversehens flossen ihm dabei, anknüpfend an die Schilderung seines Erlebnisses vor dem Rathaus mit der Ansprache des Professors und an seine eben beendete Lektüre von Fichtes Reden, Gedankengänge in die Feder, mit denen er sich zwar dem Freunde bekenntnishaft eröffnete, aber im Grunde doch nur vor sich selbst bemühte, zu einer weiteren Klärung seiner inneren Situation zu gelangen.

»Nicht nur das friedliche Weltbild«, so schrieb Damian dem Freunde, »in das ich mich seit Jahren versponnen hatte, war mir mit einem Schlag zerstört, als der Krieg ausbrach; auch alle meine frühere Sicherheit mir selbst gegenüber hatte ich damit verloren. Menschen, die gleichsam von Natur aus allein mit idealistischen Augen in die Welt blicken, und zu denen gehöre ich, erschienen mir plötzlich nicht mehr lebensnotwendig oder richtiger: lebenskräftig. Wahrscheinlich würden sie auf dieser noch allzuharten Erde erst in fernen Zeiten einmal heimisch werden und dann ohne eine andere Aufgabe als die ihrer erfreulichen Existenz gleich irgendwelchen zarten Naturgewächsen blühen können. So war ich also ein Zufrühgeborener? Und dabei fühlte ich mich doch auch wieder als das bisher letzte Glied einer Kette von Vorfahren, als Produkt einer ganzen Entwicklungsreihe. Ja, zuzeiten wußte ich nicht einmal, ob ihr Höhepunkt schon hinter mir liege und ich nur ein schmächtigerer Nachfahre sei.

Meine Hoffnung, auf die ich alles gesetzt hatte, durch meine Meldung zum Heer wieder den Anschluß an das Geschehen der Zeit zu finden, war zerschlagen. So kam ich ausgebrannt und richtungslos hierher nach Wilkau. Da rettete mich ein alter Spruch meiner Vorfahren, den ich von meiner Mutter erfuhr, vor der schlimmsten Verzweiflung. Ich begann wenigstens wieder an eine unbekannte Kraft zu glauben, die über alles Lebendige wacht und es nach ihrem uns unerforschlichen Sinne lenkt. Ehrfürchtig unterwarf ich mich dieser Väterweisheit und war durchaus geneigt anzuerkennen, daß sich unter dem Einfluß jener über uns waltenden Allmacht die Zeitalter gestalten, also auch das unsrige sich nach ihrem Willen formen wird, ohne daß wir Menschen ihr mehr als Handlangerdienste dabei leisten dürfen.

Heute weiß ich, daß ich mit dieser Auffassung auf dem besten Wege war, mich in eine mißverstandene Weisheit zu verlieren. Denn ich erwachte wie unter dem lauteren Tönen erzener Glocken, als mich die Stimme Fichtes anwehte, dessen Reden ich inzwischen las, zu einem neuen Glauben an mich selbst und an die Bestimmung im besonderen, die wir deutsche Jugend heute wie vor hundert Jahren zu erfüllen haben. Doch höre diese seine eigenen Worte, die ich sogar in seinen eigenen Schriftzügen vor mir sehe, denn ohne zu ahnen, wie tief sie mich noch einmal bewegen sollten, lagen sie, von seiner Feder geschrieben, im vorigen Jahr unter Glas in der Jahrhundertausstellung aus, und ich betrachtete sie mir damals lange, auf eine magische Weise davon angezogen: ›Wohl mögen Regen und Tau und unfruchtbare oder fruchtbare Jahre gemacht werden durch eine uns unbekannte und nicht unter unserer Gewalt stehende Macht; aber die ganz eigentümliche Zeit der Menschen, die menschlichen Verhältnisse, machen nur die Menschen sich selber und schlechthin keine außer ihnen befindliche Macht. Nur wenn sie alle insgesamt gleich blind und unwissend sind, fallen sie dieser verborgenen Macht anheim; aber es steht bei ihnen, nicht blind und unwissend zu sein. Zwar in welchem höhern oder niedern Grade es uns übel gehen wird, dies mag abhängen teils von jener unbekannten Macht, ganz besonders aber von dem Verstande und dem guten Willen derer, denen wir unterworfen sind. Ob aber jemals es uns wieder wohlgehen soll, dies hängt ganz allein von uns ab, und es wird sicherlich nie wieder irgendein Wohlsein an uns kommen, wenn wir nicht selbst es uns verschaffen.‹ Nun sah ich ein, daß mir wie uns allen Gnade von oben nur in dem Maße zuteil werden kann und wird, wie wir uns selbst unser persönliches oder als Volk unser völkisches Lebensrecht schaffen und erhalten.

Und noch eines sah ich ein: Wir sind nur Glieder einer edlen Kette von Vorfahren, aber keine schmächtigen Nachfahren, wir stehen in der Mitte, wir werden Nachkommen haben und müssen sorgen, daß die Kette nicht abreiße. Wie das nächste Geschlecht, das von uns ausgehen soll, sein wird, hängt allein von uns Lebenden ab. Und gelingt es uns Deutschen, die wir schon solange nach einem Reich des Rechts, der Vernunft und der Wahrheit streben, nicht, es heute zu verwirklichen, geht morgen zugleich alle Hoffnung der abendländischen Menschheit auf Rettung aus der Tiefe ihrer Übel zugrunde.«

Es war ein Brief von vielen Seiten geworden, und als Damian ihn sich mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit noch einmal überlas, ehe er ihn verschloß, fühlte er selbst, daß er damit die Einsicht und die Richtung wiedergewonnen hatte, deren er für die kommenden Monate bedurfte. In einer kurzen Nachschrift gab er Walter noch zu verstehen, wieviel Dank er doch ihm dafür schulde. Denn nur im Stromkreis ihrer Freundschaft sei er dieser Selbstbesinnung fähig gewesen.

*

In den letzten Ferientagen fand Damian sich zur Freude von Mutter Christel endlich auch wieder in sein altes, offenes und liebenswürdiges Wesen zurück, jegliche Verbiesterung war von ihm abgefallen. Alleweile fand er sich in der Wohnküche bei der Mutter ein und brachte ihr scherzend irgendeine Kleinigkeit mit, die er eingekauft hatte, ein Päckchen Streichhölzer oder einen Steg Kernseife, damit sie ihre Vorräte ergänzen könne, mit denen sie sich tatsächlich wie für eine jahrelange Belagerung verproviantiert hatte. Dann ließ er sich wie in seinen Knabenjahren auf seinem Lieblingsplatz, der Ofenbank, nieder und plauderte mit ihr von Breslau, von Walter, oder las ihr aus der Zeitung vor, während sie eifrig an Socken und allerhand Wollsachen für die Soldaten strickte. Gelegentlich traf er hierbei auch auf Frau Agnete, Reinhards Mutter, mit der sich Christel zu diesem Liebeswerk zusammengetan hatte, obwohl Meister Jochen es lieber gesehen hätte, wenn sie jede Verbindung zu der Familie des »verruchten« Grubeninspektors abgebrochen hätte. Aber Jochen war seit Kriegsbeginn derart mit Heeresaufträgen überhäuft, daß er sich außer zu den Mahlzeiten nie in der Wohnküche blicken ließ. Er arbeitete mit nur einem kränklichen Gesellen so angestrengt in der Werkstatt, daß er darüber sogar nur gelegentlich dazu kam, seinem abgründigen Pessimismus über die Kriegsereignisse freien Lauf zu lassen.

Agnete, die unter dem stets gereizten Wesen ihres unsteten und in undurchsichtige Unternehmungen verwickelten Mannes eine stille, etwas verhärmte, ein wenig zu früh gealterte Frau mit noch immer schönen Zügen geworden war, schwärmte Damian gegenüber mit bescheidenem Stolz von Reinhards Ansehen im Alumnat und von seinem Fleiß, der so weit ginge, daß er nicht einmal jetzt zu den Sommerferien nach Hause gekommen sei.

Während Damian Agnete wortlos zuhörte, die sich offensichtlich bemühte, in ihm das verblaßte Bild des Jugendfreundes wieder aufzufrischen und es freundlich zu belichten, bewegten ihn zunächst die widersprechendsten Gefühle. Über sein Zerwürfnis mit Reinhard war er längst hinweggekommen, er grollte ihm auch nicht mehr, seit er ahnte, daß sich Reinhard nur aus einer tiefen Scham über die Ursachen ihrer Entzweiung, die er selbst verschuldet hatte, von ihm fernhielt; aber seine alte Zuneigung für ihn war erloschen, den Platz, den Reinhard einst in seinem Herzen einnahm, hatte nun Walter inne. Dennoch konnte er nicht leugnen, daß ihn jedesmal, wenn er sich Reinhards erinnerte, die Empfindung eines schmerzlichen Verlustes anwehte. Aber durch Agnetes Einwirkung stärker als sonst an seine alten Gefühle für Reinhard herangeführt, überließ sich Damian widerstandslos der warmen Aufwallung seines Herzens. Wie von einer Eingebung geleitet holte er am Tag vor seiner Abreise den Band Fichte aus seiner Stube, schrieb hinein: »Hast du's im Wesen, um so besser wirst du es auch lesen! Für Reinhard zur großen Erhebung von 1914 von Damian«, und übergab ihn, schon eingeschlagen und verschnürt, Agnete mit der Bitte, das Buch Reinhard zu übermitteln. Mit freudigem Erstaunen nahm sie es entgegen. Aber als sie Damian fragte, ob sie Reinhard noch etwas von ihm bestellen solle, verneinte er das dankend und bat sogar ausdrücklich darum, Reinhard darüber hinaus kein Wort, weder über sich noch über ihn zu schreiben. Dann verließ er unvermittelt den Raum.

Am nächsten Tage schied Damian, diesmal ohne allzu hemmende Anwandlungen, wieder für Monate aus dem Gerberhaus und von Sessi, der er nur das Versprechen abnahm, ihm öfter zu schreiben.


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