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Sechzehntes Kapitel

Dieses beredtsam verborgene, einsam-eindringliche Hinaufgehobensein der vom Schicksal füreinander bestimmten Herzen erblaßte nicht mehr lähmend nach dieser Nacht des schweigenden Füreinanderseins, und wenn auch die Trauerdunkelheit in dem Hause auf der Feldgasse noch lange, lange umging und über Lotte herfiel, daß sie für Maechler wieder und wieder in die alte rätselhafte, verhüllte Ferne gerückt wurde, ganz erlosch der Schimmer nicht mehr, der sich unsichtbar zwischen den beiden hin und her wob.

Wie in der ersten Nacht stahl sich Lotte jedesmal spät und lautlos in das Giebelstübchen neben der Kammer Maechlers und huschte vor Tag hinunter zu ihrem Hausgewese. Der Gesell rührte mit keinem Schmunzeln, mit keinem Augenlicht, noch viel weniger mit einem Wort an ihr geheimes Vertrauen, sondern ging fleißig wirkend als von dem Toten berufener Pfleger und Verwalter aus und ein und saß über Rechnungen gebeugt am Tisch, um die Angelegenheiten des Gewerkes und Geschäftes gründlich mit Lotte zu beraten. Bei diesen vielfältigen Besprechungen nützte Maechler seine Überlegenheit nie aus, sondern trat immer hinter seinen Gründen zurück, daß Lotte zwar keine andere wie die von ihm erstrebte Entschließung übrigblieb, aber die letzte Entscheidung doch von ihrem Ermessen getroffen schien. Die eingestürzte Ufermauer am Heidewasser wurde ausgebessert und erhöht. Man beriet den Abbruch des Trockenschuppens an der Vogelsdorfer Straße und seine Neuaufrichtung in dem verwilderten Obstgarten hinter dem Hause. Der Lederausschnitt wurde ganz aufgegeben und die Stube zu einem gemächlichen Zimmer hergerichtet, in das man das Bett des gestorbenen Meisters schaffte. Umsichtig und schonend verwandelte Maechler den Zuschnitt des Hauses, so daß der Verlust des Meisters zwar noch fühlbar blieb, aber der Schmerz nicht mehr so eindringlich auf Lotte lastete.

So spielte sich das Leben der beiden immer mehr aufeinander ein, und in keinem konnte ein Bedenken aufkommen, daß das Licht, das in ihnen wirkte, der Trauer um den Toten irgendeinen Abbruch tue, denn die beiden traten aus ihrem alten Wesen scheinbar mit keinem Schrittchen heraus, Maechler nicht aus seiner Geschäftsbesessenheit und seiner Richtung auf die Umwelt, Lotte nicht aus ihrer rätselhaften Wesenferne und stolzen Herzenskühle. Trotzdem kam es oft vor, daß bei ihren Beratungen jedes zu gleicher Zeit nach einem Schriftstück griff und die Hände sich berührten. Jedes fuhr dann zurück, als habe es heißes Eisen angefaßt und ließ das Papier wie eine geladene Gefahr liegen, indes ihre Augen gleichzeitig sich irgendwohin verloren und belanglose Worte aus der ersehnten Nähe ins Lebensgewöhnliche führten. Aus der Liebesfeindseligkeit war Liebesheimlichkeit geworden. Aber je mehr eines vor dem anderen sich verbarg, desto mehr verriet es sich. Alles, was Maechler vorschlug, wurde gemacht, nicht so, daß Lotte die Dinge schweigend hinnahm: Aber ihre Entgegnungen waren Abschweifungen und ihr Widerstand war Verwirrung, bis sie endlich nach langem Luftlauf schnell, wortlos gewährte, was sie eigentlich gar nicht bekämpft hatte und das, je öfter sich dieses Spiel wiederholte, mit einem immer deutlicheren Aufzucken jenes geheimnisvollen Flimmerns ihrer großen, graugrünen Augen, das Maechler wehrlos machte und in ihm den Verdacht aufsteigen ließ, das Mädchen belustige sich nur über ihn. Dann, um ihr zu beweisen, wie bedeutsam und folgenschwer die Entscheidung sei, holte Maechler erst recht mit Gründen und tüchtigen Beweisen aus, ohne jedoch mehr zu erreichen, als daß Lottes Augen unter dem krankhaften Ernst ihrer Stirn noch mehr flimmerten, denn er wußte nichts von der Sehnsucht des Weibes, deren Herz aufgeblüht ist und von ihrer Natur getrieben wird, den Mann von der Welt zu lösen und an sich zu binden. Lottes Wesen schwang um Maechler in den immer engeren Kreisen eines Vogels, ehe er sich auf dem Baume seiner Wahl niederläßt.

Ein Abend im tiefen Herbste brachte endlich diesem langen Liebesspiel vorläufig ein glückhaftes Ende. Die beiden hatten beschlossen, den Werkplatz über der Straße am Heidewasser hinter das Haus zu verlegen. Die Einwilligung zu dieser Änderung war Lotte nicht leicht geworden. Sie erinnerte sich wohl ihres Einverständnisses mit dem Plan, den Maechler am zweiten Tage nach seinem Eintritt in das Haus als unbedingte Notwendigkeit ihrem Vater gegenüber ausgesprochen und verfochten hatte. Da aber nun seine Ausführung ernstlich in Angriff genommen werden sollte, scheute sie in ihrem Herzen lange davor zurück. Denn dieser Platz war doppelt geheiligt, einmal durch den schweren Kampf, den ihr Vater um seine Behauptung gegen seinen Todfeind Neefe und zeitweilig sogar gegen den größten Teil der Gemeinde hatte führen müssen, und dann durch seinen Tod, der dort in der Wetternacht eigentlich seinen Anfang genommen hatte. Diesen Fleck seiner alten Bestimmung zu entreißen, das empfand Lotte schmerzlich als ein Vergehen gegen ihren Vater. Außerdem kämpfte sie um die Blumenbeete hinter dem Hause, zwischen denen sie so oft in den schweren Jahren der Gemüts- und Lebensverdunklung ihres Vaters grübelnd hin und her gegangen war, wie aus den Sorgen und Kümmernissen ein Ausweg ins Licht gefunden werden könne. So vieles hatte im Hause sein Gesicht verwandelt, nun sollte auch dieser abgeschiedene Platz zu innerer Einkehr verschwinden und dem unaufhaltsam wachsenden Geschäftsbetriebe geopfert werden. Da die weiblichen Wesen aus ihrem Herzen leben, daß der tiefste und letzte Sinn ihres Geistes aus diesem ewigen Feuerquell des Daseins steigt und wieder in ihn zurückmündet, sind sie auf eine geheimnisvoll tiefere Weise mit dem Leben verbunden, werden wohl von seinem Wandelfluß getragen und stehen doch gewissermaßen in der Raum- und Zeitlosigkeit viel unbedingter als der Mann, der zeitig von seinem Werk und Zweckwillen in das Getriebe der Umwelt geschmiedet wird. Aber während er unbeirrten Auges die nächsten Verkettungen überschaut, werden der Frau von ihren vielverbundenen Ahnungen durch ein rätselhaftes Gesicht die Schatten der letzten Folgen zugetragen. Aus einem solchen Grunde wehrte sich Lotte gegen die Verlegung des Werkplatzes von dem Heidewasser hinter das Haus, nicht aus Gegnerschaft gegen den lebendigeren, reicheren Fluß des Betriebes, sondern aus der instinktiven Furcht heraus, daß Maechler von der Vielgeschäftigkeit in tausend Unternehmungen abgetrieben werde, wo das Glück innigen Zusammenlebens nicht gedeihen konnte. Aber von diesen Befürchtungen kam nie ein Wort über ihre Lippen. Sie schwieg, weil sie die geheime Liebessicherheit ihres Herzens nicht verraten durfte und sprach nur von den gefühlsmäßigen Widerständen ihres Gemütes, die von Maechler zwar nicht als belanglose Schatten niedergetreten, aber doch mit immer entschiedenerer Hand beiseite geschoben wurden. Der erste Schritt der Wiederaufrichtung des Betriebes erfordere notwendig den zweiten und dritten, wolle man nicht wieder in die alte Verödung der Existenz zurückfallen. Leidenschaftlich malte er ihr die Zukunftsmöglichkeiten der immer weiteren Ausbreitung des Betriebes aus und verstieg sich sogar zu Andeutungen über die Verwandlung des kleinen Handgewerkes in eine Fabrik. Indes er so kämpfte, kamen sich ihre Herzen immer näher. Dasjenige, dem Lotte mit ihren Lippen widersprach, fühlte er in ihrem Inneren widerklingen, nicht so ganz als Annahme seiner Gründe, sondern als immer reineren Wohllaut des ihm zugewandten Wesens.

Während dieses heimlichen Ringens schwand der Sommer, und es ging in einen Herbst hinein, der das Laub der Bäume zu einem wahren Feuerbrand entzündete. Der Himmel lag tagaus, tagein in wolkenloser Verklärung über den Bergen, die nicht anders wie dunkle Wunder in der Höhe hinwogten. Der Oktober schien ein anderer Mai zu sein, und der November sah aus, als sei er nicht der Beginn des Winters, sondern der Anfang des Frühlings. Diese glückhafte, ungewöhnliche Verschiebung der Natur rettete Wilkau und die Umgegend aus den Schrecken des Unwettergrauens, sie verwirrte auch Lotte aus den Schatten ihrer Befürchtungen in bunte, oft ungeduldige Erwartungen, daß sie, wenn auch nicht zustimmend, aber lächelnd alle Arbeiten geschehen ließ, die mit der Umwandlung des Werkplatzes verbunden waren. Maechler aber schaffte in einer wahren Raserei, um vor Eintritt des Winters noch alles zu vollenden. An einem Abend, als er mühselig die letzte und größte Lohtonne auf Rollen über die Feldgasse bugsiert hatte, stand er, hochaufatmend und den Schweiß aus der Stirn streichend, und überlegte, wo er das hölzerne Ungetüm am zweckmäßigsten unterbringe. Lotte war leisen Schrittes aus der Hintertür getreten und stand, ohne daß es der Grübelnde gewahrte, schon ein Weilchen hinter ihm. Als er ihre Nähe gewahr wurde, drehte er sich wie ertappt um und sah sie überrascht an, die erst eine kurze, aber tiefe Weile mit sprechenden Blicken in seine Augen sank und dann entschlossen und energisch über ihre Stirn fuhr, als wische sie da endgültig etwas weg.

»Ist's gut so, Fräulein Lotte?« fragte sie Maechler, der das wohl beobachtet hatte und wie eine letzte, sanfte Mißbilligung deutete.

»Warum soll es das nicht sein?« fragte sie wider und bekam bei einem kleinen Auflachen ein aufreizendes Schmollen um den schönen vollen Mund. »Es geschieht eben, was sich nicht ändern läßt. Man verfrachtet mich eben mir nichts, dir nichts vom Heidewasser hinters Haus.«

»Sie?« fragte Maechler ratlos.

»Ja, ja, ja. Mich und niemand anders«, antwortete das Mädchen mit einem überfluteten Gesicht, dessen Röte bis unter die Nackenhaare ging, und aus ihren Augen brach ein Feuer, das den armen Gesellen in sich hineinriß. Der aber deutete sich die Erregung Lottes auf die bittere Seite eines gut weiblich geschmierten Vorwurfes und packte, ohne ein Wort zu erwidern, um seine Verlegenheit nicht merken zu lassen, die Tonne wieder an, aber nun grimmig wie seinen Feind. Allein noch ehe er sich auf das hölzerne Ungetüm stürzen konnte, war auch Lotte herzugesprungen und hatte zugegriffen. Ja, da der Gesell seine Finger fest an den Rand der Tonne krallte, packte er die Hand Lottes, und rückte er weg, erwischte er sie wieder. Indes rumpelt die Tonne über das Gärtlein, und da Maechler denkt: »Zum Schinder, was soll das sein?« und sieht der Jungfer forschend ins Gesicht, lacht sie ihn aus, und während ihre Brust vor Anstrengung arbeitet, daß das Mieder knackt, sagt sie in kuriosem Übermut: »Jaja, ich bin bei allem dabei, und wenn's in die Sträucher geht.«

Da merkte Maechler, woher der Wind bei Lotte wirklich pfiff, schrie ein rasendes, beglücktes »Hoho!«, gab dem Faß mit dem Fuß einen Riesenstoß, daß es polternd samt der Jungfer Lotte, die nicht schnell genug loslassen konnte, in die Sträucher rumpelte, und erhaschte sich die Geliebte, ehe sie zu Falle kam; dann riß er sie sich an den Mund herauf und trank und trank sie mit seinen Lippen wie ein zum Umsinken Verdursteter. Lotte aber schmiegte und saugte sich so in den Mann hinein, daß er in dem abendrotem Himmel tausend Feuerräder kreisen sah und mit dem Mädchen nicht auf der Erde unter den Sträuchern stand, sondern durch die hohe Luft zu fliegen meinte.

Und wie es nicht anders sein konnte, schloß sich an diese abendrote Verlobung ein kleiner Schmaus der beiden verstohlen Glücklichen in der altväterlichen Stube auf der Feldgasse. Das Licht war über ihnen und in ihnen. Es glänzte aus dem verzauberten Maechler und strahlte aus den großen, unergründlichen Augen Lottes mit einem Fragen und so ferner Unruhe, daß der Gesell endlich in sie drang, ihm doch das zu sagen, was sie noch auf dem Herzen habe.

»Gut, es soll so sein«, antwortete das Mädchen, räumte den Tisch ab, ergriff mit der einen Hand das Licht, mit der anderen die Rechte des Mannes und führte ihn hinauf in die Kammer Maechlers. Dort stellte Lotte das Licht auf die Kommode, öffnete deren oberen Schub, langte den abgegriffenen Zettel mit dem Gebet der Maechler hervor und bat Nathanael, ihr die Verse laut vorzulesen. Der Gesell, verwundert und bestürzt, sperrte sich ein wenig, traf aber in die immer tiefer aufleuchtenden Augen des Mädchens und in ein Gesicht, dessen Züge mehr und mehr aus dem seligsten Liebesschwung in schmerzlich-bange Entschlossenheit glitten, so daß Maechler endlich merkte, daß das liebe, unbegreifliche Wesen nicht von bunter Laune, sondern von der unabänderlichen Macht eines festen Entschlusses zu diesem Verlangen getrieben werde. Sicher, das sah er ein, da war kein Ausweichen möglich, und so las Maechler die ehrwürdigen Verse, mit denen er so oft in seinen wilden Rebellenjahren nach dem Himmel gegriffen hatte, und die das letztemal aus der Todesnot im Bärengrunde von seinen fiebertrockenen Lippen geglitten waren:

»Laß mich, wenn ich hier geschlafen,
Wieder wandern meine Straßen.
Schicke mir durch meinen Fleiß,
Was bei dir steht hoch im Preis.

Guten Willens eine Tracht
Lad mir auf in dieser Nacht.
Stets mein Herr und stets dein Knecht,
Droben Gnade, drunten Recht.«

In Maechler wachte alle alte, in die Höhe stürmende Sehnsucht, alles Seelendrängen aus dem Blute seiner Vorfahren wieder auf, während er befangen und von dem Mädchen berückt die bekannten Worte unsicher, stockend, aber so ergreifend sprach, daß Lotte das Überglänzen ihrer Augen aus bezwungenen Tränen nicht verhindern konnte. Als er zu Ende gekommen war und schwieg, fragte ihn Lotte mit einer dunkel gewordenen Stimme:

»Glaubst du das, Maechler? Wahrhaftig aus tiefster Seele?«

»Ja, gewiß, liebe Lotte«, antwortete Maechler und langte nach ihr, sie an sich zu ziehen. »Weißt du aber ...«

»Kein Aber und kein Wenn«, sagte sie lächelnd und mit einem tiefen Aufatmen. »Es ist der einzige Weg, auf dem wir beide zufrieden und glücklich gehen können.«

Dann gestand sie ihm alles, wie sie, von seiner harten, rücksichtslosen Weitläufigkeit zurückgestoßen, ihn förmlich gehaßt habe, wie sie von diesem Widerwillen aber in ihrem verfallenen Herzen gepeinigt worden sei und endlich auf dem Wege wunderlicher Zufälle in den Besitz des Schlüssels gekommen sei, der ihr das Geheimnis dieser verschlossenen Schublade und damit den Einblick in sein tiefstes Wesen geöffnet habe. So, auf diese Weise sei sie ganz sein, weil sie glaube, daß sie ihm dergestalt auch alles sei. Denn anders und mit wenigerem könne sie sich, und sollte es ihr Leben kosten, nie und nimmer zufrieden geben.

Dies wurde alles nun nicht wie ein flammender Monolog von der in die Höhe gerissenen Lotte auf Maechler abgeschossen, sondern war das Ergebnis eines leidenschaftlich verliebten Gesprächs zwischen beiden, das mit dem Ergebnis schloß, daß Nathanael ihr nicht nur das Vermächtnis seiner Vorfahren, sondern auch die Sorge um die Aufrechterhaltung des Geistes in Verwahrung gab, der sie in dieser Stunde erst wahrhaft vereinigt hatte. Bei allem Ernst dieser beiden sonderbar schweren Menschen jubelte ihr Herz immer stürmischer und sang das Blut immer lautere und heißere Lieder, daß sie sich, wie von dem Traum entführt, aus der Bodenkammer in Lottes Zimmer zu einer hochzeitlichen Nacht zusammenfanden, in der sich alle Liebessterne entzündeten, die der Herrgott für zwei aus der Ewigkeit Zusammengefundene bereit hält.

Und in dem Augenblicke, als die zwei, von dem Glutherzen des Weltalls aufgelöst, ineinanderschmolzen, sah Lotte den Himmel um sich, über, unter sich angefüllt mit lauter dickbauchigen, glänzenden Gerbertonnen, und auf jeder saß ein klein-winziger Engel, mit Blondhaaren wie ihr Nathanael, der das hölzerne Untier voll himmlischen Ernstes einem Feuer zukutschierte, in das Lotte erst mit seligem Lachen, dann in vollkommenem Erlöschen durch die Liebesverzückung versank.


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