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Achtes Kapitel

Mitten in der Nacht brach wohl der Lärm los, von dem der Wirt gesprochen hatte. Es polterte wie von umhergeworfenen Möbelstücken, dann und wann krachten die Türen. Stimmen schrien durcheinander, bald hatte eine meckernde den Vorrang, bald eine grobe, befehlende, die sich hin und wieder zu brutalen, kurzen Kommandos steigerte, und jedesmal, wenn sie sich in eine solche widerstandslose Wildheit aufgeschwungen hatte, trat eine Stille ein, in der wie aus einer halb zugeschaufelten Grube etwas wie ein langer Zeremoniengesang in der Kirche ertönte, von einer hohen bebenden Stimme getragen, die manchmal sich schluchzend überschlug und nach anfeuerndem Gepolter verschiedener Rufe sich wieder zu getragener, ergriffener Begeisterung steigerte, bis sie in einem ekstatischen Schrei erlosch, dem dann ein wahres Beifallsgebrüll folgte. Maechler hörte das alles und war doch so in seinem nicht abreißenden Traum gefangen, daß diese Vorgänge ihn nie ganz aus der schweren Schlafberückung zu reißen imstande waren, sondern alles wie in seinem Traum geschah, der sich immerfort wandelte und doch nie anders wurde. Die grobe Stimme donnerte aus den Häusern, an denen er rastlos vorübergehen mußte, es meckerte aus den Winkeln, in die er sich endlos verwirrte, das Türkrachen wurde zu den Finsterballen, mit denen ihn Paula Großmann immerfort einmauerte, und das hohe Singsagen stammte von der Stimme des kleinen Verrückten, die er von der Peterbaude, von Brän und den Grandorfer Teichen her kannte.

Immer halb erwachend, wollte er sich erheben und versank doch immer in das endlose Traumwandern, bis doch der Lärm einmal so stark wurde, daß die Schatten- und Gespenstermauern zusammenfielen und er ins vollkommene Wachsein auftauchte. Drunten wurde die Tür aufgerissen. In einem Stoßen und Taumeln kämpften trunkene Rufe durcheinander, so als schlügen Männer aufeinander ein. Ein unförmiger Baß, in dem Maechler die Stimme des Groblings auf dem Schloßplatze erkannte, brüllte wie ein aufs höchste gereizter Stier: »Laßt mich, ich zerquetsche den jämmerlichen Hund!« Ein kindhaft hoher Verzweiflungsschrei, mehr ein schrilles Quieken, folgte. Dann flog die Haustüre auf und etwas wie ein Ballen wurde auf die Straße geworfen. Darauf trat Stille ein.

Maechler öffnete das Fenster und schaute auf die finstere Straße hinunter. Erst konnte er nichts erkennen, dann, als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, wie sich ein Mann aus dem Staube erhob, taumelte, einen und den anderen kleinen, furchtsamen Schritt auf die Tür zu tat, aus der er eben geworfen worden war, dann aber die Arme erhob und leise segnend die Worte sprach: »Auch dir, reicher Schlosser, der doch im Herzen ein Grab hat, voller Totengebein und voller Unrat, auch dir, Dicker, gemästeter Neefe, verzeihe ich im Namen Gottes, der den Morgen der Welt einmal heraufführen wird, wenn die Zeit erfüllt ist.« Leise weiterpsalmodierend, dann und wann aufschluchzend, ging Ignaz Wildner die Straße davon auf das Feld zu und war bald in der Finsternis untergetaucht.

Am Morgen, später als Maechler es sich vorgenommen hatte, erwachte er und sprang mit dem Vorsatz aus dem Bette, sich sofort weiter auf die Wanderschaft zu machen, nicht nur weil seine Barschaft fast aufgezehrt war, sondern auch, weil aus seinem Traumtreiben wohl von den Finsterballen her, durch die ihn fortwährend Paula Großmann drohend eingemauert hatte, ein Gefühl in seinem Gemüte zurückgeblieben war, daß ihn hier in Wilkau eine unübersteigbare dunkle Wand bedrohe. Und als er gar durch das kleine Fenster seiner engen Schlafkammer über niedrigere Schindelfirste hinweg den wogenden Kamm des Riesengebirges in dem Schwarzblau nahender Wetterunheimlichkeit eine Weile betrachtet hatte, stand sein Entschluß fest, ohne Umschweife Wilkau den Rücken zu kehren. So packte er seine Sachen zusammen, ließ sie dann aber doch in einer unbegreiflichen Anwandlung auf dem Schemel neben seinem Bett liegen, ergriff den Stock und stieg die steilen Holztreppen hinunter in das Gastzimmer, das zu seinem nicht geringen Verwundern keine Spur des nächtlichen Tobens mehr trug. Der Fußboden war sauber gefegt, Tische und Stühle standen in gesitteten Reihen, die Gläser blinkten geordnet aus dem Schrank, die Fenster waren geöffnet, und in der Luft spürte man fast nichts mehr von der rauchigen Muffsäuerlichkeit, die ländlichen Wirtsstuben anhaftet. Das Zimmer war leer. Nur aus der Küche hörte er das heitere Gespräch zwischen dem Wirt und der Wirtin, das bald von einem tiefen Gelächter des Mannes, bald von dem lustigen Lachkollern des Weibes unterbrochen wurde. Maechler konnte nichts verstehen und legte endlich unter lautem Aufhusten seinen Eichenheister eben nicht sanft, auf einen Holzstuhl. Darauf erschien sofort der Wirt in der Stube und begrüßte ihn mit einer übermütigen Verschmitzheit im Gesicht, die wenig mehr von der gewohnten grämlichen Verstecktheit übrigließ. Dann leistete er Maechler bei dem einfachen Frühstück Gesellschaft und war nach der fröhlich-spöttischen Erkundigung über Maechlers Nachtruhe bald mitten in der Erzählung der nächtlichen Vorgänge, von denen er aber mit kaum verhehltem Prahlen sprach, als handele es sich nicht um eine wilde Ausschreitung, sondern um ein übermütiges Festlein. Maechler öffnete nicht ein Fältchen seines Innern und seiner Vergangenheit. Er brauchte nur da und dort mit verständnisvollem Gelächter oder einem etwas erstaunten Ausruf ein klein wenig nachzuhelfen, wenn der Erzähler an dieser oder jener gar zu bedenklichen Stelle ins Stocken geriet. Gestern, das war der Inhalt der Erzählung des Wirtes, hatte sich der Schlossermeister Neefe, einer der reichsten Männer des Ortes, zum Besuch angesagt, um, wie er sich ausgedrückt hatte, auf seine Weise die gräfliche Taufe zu begehen. Und wenn Neefe etwas feiere, dann stöben die Funken wie in seinem Handwerk. Feuer und Fröhlichkeit seien bei einem gesunden Mann eben immer beisammen, und daß der Schlosser Neefe, sein langjähriger Gast, wohl manchmal in allen Nähten das Platzen kriege, aber doch ein durchaus wohlgefügter Mann sei, dafür könne, er, Kammel, der Wirt vom Grünen Baum, seine Hand unbedenklich ins kochende Wasser stecken. Ja freilich, die zwei »G« könne er ja nicht loskriegen, grade und grob sei er schon. Aber eben deswegen hätten die heimlichen Dungmäuler und verborgenen Giftspritzer unrecht, ihn als Urheber der Explosion hinten am Grafenschloß im achtundvierziger Frühjahr zu bezeichnen. Ob das aber der Gerber Wennrich auf der Feldgasse gewesen sei, der deswegen vierzehn Tage im Rehberger Kreisgefängnis in Untersuchung gesessen habe, das wolle er nun keineswegs behaupten.

Hier verlor sich Kammel in Weitschweifigkeiten und Beteuerungen seiner eigenen Redlichkeit, daß Maechler ihn geradezu auf den Weg zurückbringen mußte, indem er sagte: »Ja, das werde sicher so sein.« Also Neefe sei gestern abend auf dem Schloßplatz gewesen, um von außen etwas von dem Taufgepränge des Grafen Schilling mit abzubekommen.

Kammel nickte sich nach dieser Bemerkung mit listiger Heiterkeit als einem geübten Pfiffikus zu, der den geheimsten Wurm herauszuziehen imstande sei, und sagte es Maechler auf den Kopf, daß er in dem Gedränge neben Neefe gestanden habe und etwas von seiner ungeschminkten Geradheit zu kosten bekommen habe, und da Maechler es lachend zugab, eilte Kammel schneller und zusammengefaßter in der Erzählung weiter. Der Graf sei ans Fenster getreten und habe an die versammelten Wilkauer eine liebreiche Ansprache des innigen Dankes gehalten. Kaum aber sei er hinter der geschlossenen Gardine verschwunden gewesen, als der kleine, verrückte Ignaz auf den Zweigen eines Baumes, den er katzenhaft schnell erkletterte, seine bekannte Predigt von dem nahen Menschheitssonntag gehalten habe, die aber diesmal mit einer an Beschimpfung grenzenden Verunglimpfung des Grafen endete, den er nicht Schilling, sondern Silberling geheißen und mit Judas verglichen habe.

Hier ließ Kammel in seiner Erzählung abermals eine Pause eintreten, weil er offenbar wider Willen in ernste Besinnlichkeit gerissen wurde. Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und pfiff leise durch die Zähne, wie ein einfacher Mensch sich benimmt, wenn er vor undurchdringliche Lebensgeheimnisse gerät.

Maechler störte ihn mit der Frage: »Was ist nun mit dem verrückten Ignaz eigentlich los?« aus dieser Verfangenheit.

Der Wirt riß sich auf und sagte: »Wissen Sie, eben kommt mir das in die Quere! Der Ignaz, er heißt eigentlich Wildner, ist offenbar guter Leute Sohn. Wo er zu Hause ist, weiß niemand sicher. Die Leute sagen, er habe auf Geistlich studiert und sei kurz vor der Priesterweihe gewesen. Da kam das tolle Frühjahr und riß ihn aus dem heiligen Hause. Unvermutet, wie durch die Luft gefahren, erschien er in der Grafschaft Glatz, zog in dem Neurodener Bergwerksbezirk umher und wiegelte die Dörfer auf, bis es in Hausdorf losging. Ja, und sie haben toll gewirtschaftet, wie man hört. Wildner immer unter ihnen, nein, geradezu vorneweg. Als das Hexenkochen vorüber war und jeder sein Mäuseloch zum Verkriechen suchte, erwischten ihn die Gendarmen und schlugen ihn, bis er halbtot liegenblieb. Man mußte den Zerbeulten statt ins Gefängnis ins Krankenhaus stecken, und als er wieder zusammengepflastert war, zeigte sich, daß sein Verstand vollkommen zerschlagen war, und man ließ ihn als einen ungefährlichen Trottel laufen, weil er von seinem früheren Leben nichts mehr wußte. Nun irrt er im Lande herum, redet jeden Mann, dem er begegnet, als hohen Herrn an und erscheint jedes Jahr im Sommer hier in der Gegend. Da steigt er aufs Gebirge, um Gott näher zu sein, verbringt eine und die andere Nacht in den Latschen auf dem Kamm, betet und beschwört Gott, endlich die Welt von aller Ungerechtigkeit zu erlösen.

Sehen Sie, dieses kleine, verwirrte Männchen wetterte also gestern abend aus dem Baume gegen den Grafen, den er geradezu einen Fürsten der gleißenden Finsternis nannte, bis voreilige liebedienerische Hitzköpfe sich daran machten, ihn aus dem Baum zu holen und gehörig zu stäupen. Die meisten aber lachten über sein Wahngequassel, und Neefe, mein Freund, nahm sich des Armen an auf eine Weise, daß Wildner, aufgefordert oder nicht, dem davongehenden Schlosser wie ein dankbares Hündchen hierher in den Grünen Baum folgte. Dort hinten hat er lange am Tisch gesessen, ohne ein Wort zu sprechen, wie abwesend, fast ohne Atem. Wissen Sie, mit unheimlich großen Augen, die er nicht einmal rührte, sah er fortwährend auf den Schlosser, der hier an dem Tisch im Kreis seiner Freunde saß und sich's wohl sein ließ. Und wie es zu gehen pflegt, als Neefe sich den Kopf heiß geleckt hatte, fing er an, einen um den anderen in der Runde zu hänseln, sogar den Gemeindevorsteher, weil er sich im Schloß am Jägertisch hatte bewirten lassen. Der aber, wie es seine Gewohnheit ist, ließ ruhig dämmernd und lächelnd alles an sich vorübergehen, bis er dem Schlosser ein Wort versetzte, das ihn ins tiefste Gekröse getroffen haben muß. Ich war gerade draußen und hab's nicht gehört. Als ich aber hereinkam, schrien alle durcheinander mit Ausnahme des Gemeindevorstehers, der still seinen Hut vom Rechen langte und unversehens verschwand.

Jetzt aber ging es erst recht los. Dem Schlosser steckte die Bemerkung des Gemeindevorstehers, ich glaube, er hat von dem Schuß hinterm Schloß gesprochen, wie ein vergifteter Span im Halse, der heraus mußte, koste es, was es wolle. Der verrückte Wildner wurde aus dem Dunkel an den Tisch geholt und so lange bearbeitet, daß er endlich, der nur Milch und Wasser zu trinken pflegt, einen Schnaps nach dem anderen hinuntergoß. Plötzlich kam es über den Kleinen. Er sprang in die Mitte der Stube und begann seine Menschheitspredigt. Die Arme in die Luft gebreitet, redete er, bis er vor Schluchzen nicht mehr konnte. Aber der Schlosser war halt aus dem Häuschen, und wenn sich Ignaz kaum erholt hatte, wurde er von neuem angestachelt. Neefe ließ Wein kommen, und Wildner geriet in eine wahre Rednerwut. Alles bog sich vor Lachen. Der Verrückte wurde aber von einer Art Verzweiflung gepackt, kniete nieder und küßte inbrünstig die Diele. Dann erhob er sich und ging, steif wie eine Fahnenstange, auf den Schlosser zu, machte vor ihm halt, maß ihn lange mit seinen weiten, unheimlichen Augen, daß keiner vor Betroffenheit ein Wort zu sprechen wagte, und redete darauf halberloschen und todestraurig vom Fluch, der auf den Menschen laste. Unvermutet überschüttete er den Schlosser mit Beschimpfungen, die nicht enden wollten, nannte ihn Beutelschneider, Ehrabschneider, Wucherer, ein übertünchtes Grab, einen heimlichen Wolf und hielt ihm zuletzt, in fassungsloses Weinen ausbrechend, die Faust vor die Stirn. Was dann kam, ist kaum zu beschreiben, so schnell ging alles. Neefe brüllte wie ein Stier. Der Kleine quiekte. Die Stubentür flog auf, die Haustür, und ehe man recht atmen konnte, lag Wildner auf der Straße.«

Kammel war mit seiner Erzählung am Ende. Sein anfängliches Prahlen hatte sich ganz verloren. Aber er raffte sich von seiner Betretenheit schnell auf, fuhr mit der Hand über den Tisch, als wische er Belangloses fort und sagte lachend: »Ja, Geschäft ist Geschäft! Was will man da machen? Man muß die Feste feiern, wie sie kommen. Die Zeiten sind schlecht, und wegen eines Verrückten geht der Wind.«

Maechler war bleich geworden, erhob sich und sah ernst zu Boden. Dann richtete er sich unter einem tiefen, abschüttelnden Atemzuge auf und bewegte bitter lächelnd den Kopf: »ja, die Welt ... und die Menschen! Sie sind noch lange keine Wasserhühner«, sagte er dabei, ließ sich dann die Papiere geben und versprach, in einigen Stunden seine Sachen zu holen.

Mit kaum hörbarem Gruß ging er an dem Wirt vorüber, der ihm fassungslos nachschaute, und schloß leise die Tür hinter sich.


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