Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Als Maechler am anderen Morgen in seine Kleider stieg, kam ihm vom vorigen Tage das eine sinnlich lebhaft zum Bewußtsein, daß er gestern abend im Dunkel unter sich eine Tür ins Schloß hatte fallen hören. Sicher war das Lotte gewesen, nachdem sie lange von dem Schicksal ihres Hauses in irgendeinem Winkel gegen die Wand gedrückt gestanden hatte. Daß er selber und seine scharf zupackende materialistische Art das empfindsame stolze Mädchen in den Flur getrieben haben könne, diese Erwägung rührte den doch sonst so intelligenten Menschen nicht an. Er war zu lange durch den Kampf mit den Widrigkeiten, ja Todesgefahren des Lebens gegangen, als daß er den weichen, blumenhaften Kräften, die etwa von einem jungfräulichen Mädchen ausgehen, eine sonderliche Gewalt über sich eingeräumt hätte. Er war ein zu männlicher Mann, für den weibliche Wesen Menschen aus einer anderen Welt bedeuten, die wohl rätselhaft, aber doch nicht ganz für voll genommen werden dürfen, will man nicht sich und ihnen schaden. Genug, Lotte hatte gestern die Tür drunten leise zugemacht, so wie durch die wilde Paula Großmann die Tür nach der Tollnacht zugeschlagen worden war. Das bedeutete für Maechler, daß ihm durch Lotte bestätigt wurde, was von Paula bis in die letzte Bewegung getrieben worden war: die vollkommene Trennung von seiner Vergangenheit, von der Welt der Rebellerei. Der Unterschied bestand nur darin, daß Paula jenseits der Tür lebte, den zertriebenen wirren Jahren als ihr letzter höllischer Feuerstoß angehörte, während dieses geheimnisvolle, schöne Mädchen diesseits der Tür in der neuen Welt eines tätigen Lebensaufbaues stand.

Diese Erwägung huschte traumhaft schnell durch Maechler hin. Nicht anders war es, als streiche ihm jemand geisterhaft leise über die Stirn und wische den letzten Schatten fort.

Als er drunten in die Stube trat, traf er Lotte allein, die geschäftig hin und her ging, den Tisch zu decken.

»Guten Morgen, Fräulein Lotte«, grüßte er sie fröhlich.

Das Mädchen nickte ihm zu und sah ihn verwundert an.

»Jawohl«, sagte er lachend, »die Tür ist zu, richtig zugemacht, müssen Sie wissen, und nun geht's los.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Maechler«, erwiderte sie gezwungen lächelnd, maß ihn beiläufig aus halben Augen und trat von ihm weg.

»Glaub' ich schon, Fräulein Lotte! Aber Sie sollen es erfahren, daß der Wagen vorwärts geschoben wird«, rief er in unbeirrbarer Heiterkeit.

In diesem Augenblick trat der alte Wennrich ein und sah fragend von einem zum anderen.

»Ja, Meister, ich habe Fräulein Lotte eben gesagt, daß wir alles schon in einen neuen Schick bringen werden. Sie sind klug, und mich juckt es in allen Gliedern«, sprach er hellen Gesichts zu dem Alten, der wohl kümmerlich, aber bereitwillig erwiderte:

»Ich hoffe es, Maechler. Es muß, muß, muß ja auch sein.«

»Nein, nein! Da ist nichts zu besorgen, und was an mir liegt, soll geschehen«, rief er zuversichtlich und nahm dann mit den beiden am Tisch Platz.

So sprang Maechler in sein neues Leben. An Stelle der alten Vorsatzgruben wurden große Lohtonnen angeschafft. Der Böttcher zu Schwarzbach, bei dem sie in Bestellung gegeben wurden, war der Schwager jenes Wilkauer Besitzers am Ende der Vogelsdorfer Straße, in dessen Garten der Wennrichsche Trockenschuppen lag. Dieser war von dem Gerber erbaut, der noch heute das vollkommene Eigentumsrecht darauf besaß. Nur war es zur Zeit der offenen Todfeindschaft zwischen dem Schlosser Neefe und Wennrich zu einer Meinungsverschiedenheit wegen des Bodenpachtzinses gekommen. Das kleine Bäuerlein, ein sonst gutmütiger, aber kurzhalsiger Mann, hatte von dem wucherlichen Schlosser ein Notdarlehn auf Schuldschein erhalten. Um den ungeduldigen Gläubiger zur Verlängerung der Zahlungsfrist geneigt zu machen, hatte sich der gedankenlose Bauer von dem Schlosser in eine bitterliche Hitze gegen den Gerber hetzen lassen, daß er von Wennrich eine ungebührliche Erhöhung der Bodenmiete forderte, und als diese nicht bewilligt wurde, den Abbruch des Trockenschuppens und Versetzung des Grundes in seinen früheren Zustand verlangte. Wennrich, der durch Zwischenträger erfahren hatte, von wem diese geradezu giftige Feindseligkeit des so gutmütigen lederweichen Mannes rührte, war in jener Zeit des Unglücks und der Empörung über die Gemeinheiten seines früheren Freundes schon so im Glauben an die Menschheit erschüttert worden, daß er aus Lebensekel es ablehnte, sich mit dem Bauern in Auseinandersetzungen und Streit einzulassen. Eines Tages ließ er kurzerhand alle Häute aus dem Trockenschuppen räumen und beantwortete von nun an alle Bemühungen des Bauern, zu einem Ausgleich zu kommen, mit undurchdringlichem Schweigen. Nicht lange danach aber war in dem geldgierigen Schlosser seine scheinbare Sorge um das Wohl des Bauern so verraucht, daß er mit aller Rücksichtslosigkeit und Härte die längst fällige Forderung gerichtlich eintrieb. Nun neigte sich das dumpfe gutmütige Herz des enttäuschten Bäuerleins wieder auf die Seite des Gerbers. Aber aus Scham und in der Hilflosigkeit seines armen Geistes fand er keinen Weg zu Wennrich, der alle Verbindungen zu der Welt abgeschnitten hatte und selbstgefangen in seinem Hause saß mit einem friedehungrigen Gemüt, das immer wieder von den Wunden seines unversöhnlichen Innern zu einer Rachsucht vergiftet wurde, vor der er erschrak und die er bekämpfte. Maechler überschaute bald die unglückliche Verknäulung. Mit Hilfe des wohldenkenden Böttchers aus Schwarzbach kam er bald mit dem Bauern in Verbindung, in dem er nicht, wie Wennrich es hingestellt hatte, den plumpen, blindwütigen Bullen, sondern einen einfältigen, von Grund aus rechtlichen Mann fand, der nur von der Hinterhältigkeit des Schlossers in diese böse Verwicklung geschoben worden war, die er, alles in allem, bedauerte und zur äußeren Markierung seines Rechtes bloß die Zahlung der aufgelaufenen, um ein geringes erhöhten Bodenmiete und eines kaum nennenswerten Schadenersatzes verlangte. Er war von der umsichtigen, unbeschwerten Weitläufigkeit Maechlers geradezu beglückt, sackte schmunzelnd den Betrag ein und trug von dem Hoftor aus dem Davongehenden mit dröhnendem Baß, der die ganze Straße erfüllte, seinem alten Freunde Wennrich die besten Grüße auf.

Wohl nahm der Meister Maechlers Bericht über die Neusicherung des Trockenschuppens zweifelnd geneigten Kopfes und mit schiefen Augen auf und räumte bei der Erzählung der herzlichen Freundschaftsgeneigtheit des Bauern schon höhnisch den Speichel in seinem Munde zusammen, aber das Ausspucken unterließ er doch, als der Gesell eindringlich und greifbar die Sinnesveränderung des Bauern darstellte und dessen Zorn über den Schlosser ausmalte, weil er von ihm eigensüchtig in die Feindschaft zu Wennrich gehetzt und dann zum Lohne für seine gutmütige Dummheit mit dem härtesten Undank, ja ärgerlichsten Gerichtsplackereien gestraft worden war. Aber als Wennrich daraufhin seinen Ekel hinunterschluckte, von Maechler jedoch den offenen, rücksichtslosen Krieg gegen den Allerweltschurken Neefe verlangte, schüttelte der überlegene Gesell den Kopf.

»Wer haut, kann nicht bauen, lieber Meister«, sagte er lächelnd. »Und wir wollen doch aufbauen. Nein, nein, vorderhand überlassen wir den Fuchs seinem eigenen Gestank. Daran wird er zugrunde gehen. Nicht heut und nicht morgen; aber wenn sein Maß voll ist, gewiß. Indes kann ruhig zugegossen werden, daß es schneller geht.«

Diese Worte brachten über Wennrichs Gesicht ein dämonisches Glänzen. Er riß sich vom Stuhle auf und begann leidenschaftlich durch die Stube zu laufen, indes immer langsamer und gemäßigter. Am Ende aber trat er zu Maechler, legte ihm sanft die Hand auf die Achsel, und als der so Berührte den Kopf hob, sah er schon wieder die alte, trauervolle Güte in dem Gesicht des Meisters, der erschüttert und leise sagte:

»Maechler, Sie haben recht. Immer vergeß ich die Heilandsworte: Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr. Es gibt noch einen Himmel über uns.«

In dem Gesellen stieg die Erwiderung auf, daß der Himmel wohl über uns steht, wir aber damit nicht unsere Häuser bauen können. Aus Schonung unterdrückte er jedoch die Worte und begab sich an die Arbeit.

Allein solcherlei Hemmungen, die bald aus einer Art religiöser Verdumpfung, bald aus seiner Verbitterung der ganzen Welt gegenüber, bald aus Schmerz über den Verlust von Frau und Sohn entsprangen, mußten von Maechler noch oft überwunden werden. So wollte er von den Verhandlungen mit dem Lohmüller in Trennsdorf unterm Ägster nichts wissen, weil er auch »diesen kugelrunden Wicht« unter der weitverzweigten Schar seiner Widersacher sah. Der Gesell beschwichtigte ihn, und als er mit dem Müller die Lohlieferung für das nächste Frühjahr unter den günstigsten Bedingungen abgeschlossen hatte und Wennrich berichtete, daß dieser etwas wirbelige, tätige Mann auch nicht von einem Hauch des Mißtrauens gegen ihn getroffen worden sei, nahm das der Meister schon mit erstaunter, aber ehrlicher Verwunderung auf, ohne daran mehr als mit einem Kopfschütteln zu mäkeln. Und um sein erstes freudiges Aufatmen zu verbergen, erzählte er die Sage von jenem unseligen Grafensohn, an die damals noch das ganze Volk glaubte. Im sechzehnten Jahrhundert wohnten die Grafen Schilling in der jetzt verfallenen Burg auf dem Ägster, dem Berg, an dessen Fuß das Dorf Trennsdorf liegt, und wohl in Saus und Braus, wie es Sitte bei dem Adel jener Zeit war. Am schlimmsten trieb es der zweite Sohn des damals regierenden Grafen, dem kein Humpen zu groß und kein Mädchenschleier zu zart war. Auf einem großen Fest verfiel der jähe Jüngling in eine so ungestüme Liebesbrunst zu der Tochter das Grafen von Schweinichen, die mit ihrem Vater anwesend war, daß er, vom Weine erhitzt, ihren Bräutigam, einen Ritter von Pannwitz, hinter die Burg an die Mauer lockte und nach kurzem Streit erstach. Er warf den Leichnam über die Mauer in den Höllengrund und floh, von der grausigen Tat plötzlich ernüchtert, noch in derselben Nacht. In dem wilden Getümmel jener Zeit blieb er verschwunden und soll im Türkenkriege umgekommen sein. Aber seitdem sah ihn der Wächter in manchen Nächten mit einem Dolch in der Brust unter Stöhnen und Wimmern ratlos an der Mauer hin und her irren und dann mit einem lauten Schrei in den Höllengrund springen. Noch heute, nachdem die Burg längst in Trümmer gegangen ist, hören die Trennsdorfer manchmal sein Stöhnen, sein wimmerndes Klagen und dann den schrillen Schrei.

Maechler sah den Alten lächelnd an, der nach Beendigung seiner Erzählung fast glückvoll vor sich hinschaute.

»Mein Lieber«, sagte er wieder zu Worten kommend, »gewiß, es mag Sage sein. Wahr aber bleibt in Ewigkeit, daß die Gerechtigkeit Gottes auf Erden nicht aufhört. Und auch ich fange an, wieder daran zu glauben. Und Sie, Maechler, sollten nicht darüber lächeln, denn Sie sind ein Werkzeug in seiner Hand.«

Ehe Maechler sich zum Widerspruch aufraffen konnte, war Wennrich aufgesprungen und lief fluchtartig gegen die Schlafzimmertür. Dort drehte er sich noch einmal um und sagte unsicher zu dem verdutzten Gesellen:

»Merken Sie sich's! Jawohl! Ich glaube an Sie.«

Dann war er in dem Gemach verschwunden. Maechler ging langsam, kopfschüttelnd und erschüttert aus der Stube.

Auf dem Flure wäre er fast mit Lotte zusammengestoßen, die eilig aus der gegenüberliegenden Lederschnittstube kam.

»Na, was suchen Sie?« fragte sie beiseite tretend und sah ihn mit hochmütigen Augen an. Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte sie mit spöttischem Auflachen in die Stube.

Es blieb Maechler nichts übrig, als dem unbegreiflichen Mädchen in bitterlicher Verwunderung nachzuschauen und dann sich im Weitergehen wieder einmal in die Dunkelheiten der Frage führen zu lassen, was er um Gottes willen an sich habe, daß Lotte ihm gegenüber in eine solche nie ruhende Widerspelligkeit verfallen war, nachdem sie ihn doch anfangs als Mithelfer im Kampf gegen das Schicksal ihres Hauses behandelt hatte. Aber da boten sich so viel Ahnungstreppen, eine solche Menge, schon nach den ersten paar Schritten in undurchdringliches Dunkel mündende Überlegungsgäßchen an, daß Maechler auch heut bald wieder davon ablassen mußte, zur Klarheit über den Grund der Abneigung Lottes zu gelangen. Vielleicht war seinem Wesen von der tollen Brunstnacht in der Bradlerbaude etwas eingeprägt worden, was die Seele dieses unberührten Mädchens witterte, so also, daß der höllenheiße Schatten der Paula Großmann zwischen Lotte und ihm stand und wirklich die Worte dieser Gebirgsteufelin sich zu erfüllen schienen, die sie ihm, durch alle Glieder kochend, damals zugeschworen hatte, etwas von ihr sei in sein Wesen eingedrungen, woran er zugrunde gehen werde, wenn er nicht bei ihr bleibe.

Ja, dieser widersinnige, alpische Gedanke überfiel Maechler plötzlich mit solch betäubend sinnlicher Grelle, daß er einen Augenblick wirklich in ein knabenhaft törichtes Grausen gekippt worden wäre, wenn er sich nicht mit lautem Gelächter von solch läppischen Schatten zu klarer Besinnung gerissen hätte.

Kaum waren die ersten Laute seines Lachens aufgeklungen, denn Maechler stand noch immer grübelnd im Flur nicht weit von der Stelle, wo er mit Lotte fast zusammengestoßen wäre, als die Stubentür aufflog und das Mädchen erstaunt herausschaute.

»Nein, nein, ich meine nicht Sie«, sagte Maechler sich auslachend und stieg die Treppe in seine Kammer hinauf.

Von diesem Vorgang an gab sich Maechler erst recht mit aller Anspannung seiner Kraft der Arbeit für die Wiederaufrichtung der Wennrichschen Geschäfts- und Lebensehre hin und ging jeder inneren und äußeren Reibung mit Lotte aus dem Wege, obwohl er von der geheimen Lieblichkeit dieses Mädchens, die wie ein selig-sonniger Abgrund um sie stand, immer und immer wieder berührt und traumhaft gefangengenommen wurde.

Es machte sich von selbst, daß er im Walde der bei der Besichtigung der von dem Trennsdorfer Lohmüller gekauften Rindenstapel mit dem gräflichen Wildmeister zusammentraf und von ihm erfuhr, wie sehr man im Schloß Wennrichs Zusammenbruch bedauere. Aber seitdem der Meister vor fünf Jahren die Abholung der Wilddecken recht unfreundlich abgelehnt hatte, sei natürlich die Verbindung mit einem auswärtigen Fellhändler gesucht und gefunden worden. Es bedürfe freilich nur eines guten Wortes, um dem Meister wieder die Lieferung zuzuwenden. Denn niemand bedauere das unverdiente Unglück des guten ehrenhaften Mannes mehr als der Graf, nicht zum wenigsten auch deswegen, weil nach seinem Rücktritt von allen Ämtern die Verhältnisse in der Gemeinde durch den Schlosser immer verfahrener und unterwühlter würden.

Wennrich mußte freilich einer tagelangen Bearbeitung unterworfen werden, an der sich auch Lotte, freilich nicht in Maechlers Gegenwart, beteiligte, bis man dem lieben Mann den Festtagsrock zu dem Gange ins Schloß angeschwätzt hatte, und auch dann noch ging er zitternd, mit niedergeschlagenen Augen mehr wie ein Verurteilter, der um Gnade fleht, durch die paar Straßen aufs Schloß. Denn es war das erstemal seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis, daß er sich bei Tage in Wilkau sehen ließ. Aber wie kehrte er zurück? Fast wie im Triumph. Vor der dem Gerber ganz unvermutet höchsten Liebenswürdigkeit des Grafen und der Gräfin war der wie aus der Nacht unversehens ans Licht geschleuderte Mann dermaßen ergriffen worden, daß er vor Schwäche in seinem Stuhl zusammengesunken war. Nach dem Wiedererwachen hatte man ihn in den gräflichen Wagen geführt, in dem er langsam, einen Strauß Blumen von der Gräfin auf den Knien, durch die zusammengelaufenen Wilkauer vor sein Haus in der Feldgasse gefahren wurde.

Von Glück betäubt, ging der liebe Mann tagelang wie entgleist umher und vermied es sichtlich, mit Maechler allein zu sein. Aber wenn er sich unbeobachtet glaubte, ruhten seine Augen groß und verwundert auf dem Gesellen, durch den er und sein Geschäft so umsichtig und sicher ans Licht geführt worden war. Nur einmal übermannte ihn die glückhafte Erschütterung, die er vor Maechler zu verbergen suchte. Eines Abends waren die beiden hinter dem Hause mit der Aufschichtung der Häute in den neuen Lohtonnen beschäftigt, und Maechler wußte es klug einzurichten, dem wohl schon etwas erstarkten, doch noch immer unmächtigen Manne die entscheidenden Griffe in die Hand zu spielen, die schwere Arbeit aber auf sich zu nehmen, so daß zwischen dem Meister, der die hinterlistige Güte des andern bald merkte, und dem Gesellen ein stummer Rangstreit entstand, bei dem Wennrich doch immer den kürzeren zog. Denn, mochte er noch so verbissen mit seinem Haken den schwersten Teil der Haut anpacken, mit einigen wie ungeschickt aussehenden Wendungen drehte Maechler die größte Last der glitschigen Haut auf seinen Haken, daß dem Meister nur die leichte Bauchseite, oft nur die Beine zu bewältigen übrigblieben. Und doch, als die Tonnen geleert waren und große Häutehaufen daneben lagen, rann der Schweiß übers Gesicht des Meisters, und die Hakenstange, die er ausruhend auf den Boden gestemmt hatte, bebte in seiner ausgezehrten Hand.

»Sie sind ein Teufelskerl, Maechler«, sagte er schweratmend.

»Was hat's denn, Meister?« fragte der Gesell in gutgespielter Unwissenheit lachend.

»Na, was es hat? Tun Sie doch nicht so! Ich fische, und Sie ziehen 'raus. Jetzt sind es die Häute, dann ist es der Lohmüller, dann der Böttcher und am Ende der Graf Schilling. Mensch ...!!« Das letzte Wort war ein Ausbruch. Die Kinnladen Wennrichs bebten vor nicht zu bezähmender Erschütterung. Er warf den Haken weg, und mit überströmten Augen kam er auf Maechler zu, als wollte er ihn in die Arme schließen. Aber im letzten Augenblick faßte er sich doch mit zusammengebissenen Zähnen, ergriff die Hände des Gesellen, drückte sie, als wolle er sie zerquetschen, stotterte: »Gott« und »danke« durcheinander und ging dann schnell und ein wenig taumelnd, als habe er schweren Schnaps getrunken, ins Haus.

Unmittelbar danach schloß Maechler mit einer großen Häutefirma in Breslau einen Vertrag ab, durch den er die jährliche Lieferung von hundert Häuten übernahm, und sicherte sich die Abnahme der fertigen Ware durch einen bedeutenden Lederhändler in Rehberg, um sich der Abhängigkeit von Riemern, Sattlern und Schustern, die immer mäkelten und schlecht bezahlten, zu entziehen. Aber wie er an den Lohtonnen dem Meister die Leitung überlassen hatte, so bemühte er sich, alle anderen Unternehmungen als Ausfluß der Entscheidung Wennrichs zu behandeln, und genoß die Genugtuung, den vielenttäuschten Mann in einem immer mehr zunehmenden Selbstvertrauen richtig aufblühen zu sehen. Er besuchte wieder regelmäßig die Kirche, die er nach dem Unglück in der Furcht und Scheu eines Geächteten gemieden hatte, fing an, sich unter die Leute zu mischen, machte sonntägliche Spaziergänge und nahm sogar an diesem und jenem Vergnügen teil.

Aber diese Welt der Friedsamkeit, des Vertrauens und ehrlicher Hochschätzung, die dem Meister bei den ersten Ausflügen aus der selbstgewählten Gefangenschaft entgegenkam, war ebenso wie das Aufblühen des Geschäftes Maechlers Werk. Nicht bloß das Interesse an seinem Handwerk befeuerte seine vielfältige rastlose Tätigkeit. Denn wenn er auch die Tür zu der Weltschwärmerei seiner Rebellenzeit vollkommen zugeschlagen hatte und sicher war, daß, nie mehr ein Funkenstoß ihn von daher erreichen könne, so hielt er doch an dem Glauben fest, daß alle Menschen in der Tiefe gut seien. Man müsse den Irregeleiteten nur schonend den rechten Weg weisen und den Schwachen helfen, so würde die Welt eher und wundenloser besser werden als durch überhastete und schnelle Gewalttat. Seinen offenen Augen entging nicht die Gärung und verborgene Unzufriedenheit der Menschen jener Zeit nach dem Erlöschen der glänzenden Schimäre, die die einen in maßlose Erwartungen, die anderen in übertriebene Furcht und Erbitterung getrieben hatte, so daß die ersten nun von heimlichem Groll verzehrt wurden, die zweiten in aufgeblähter Überheblichkeit nicht nur die alte wacklig gewordene Ordnung wiederherstellen, sondern sie auch sogar zurückschrauben wollten.

Maechler, der die Phraseologie der ungegorenen Freiheitssucht beherrschte, verstand es, wo immer er auch auf seinen vielen Geschäftsgängen hinkam, die Bitterkeit der Zurückgedrängten zu dämpfen. Den anderen, die sich triumphierend in die rückläufige Zeitwelle warfen, gab er klug zu schmecken, daß man Schatten weder essen, noch sich in sie kleiden, noch aus ihnen neue Häuser bauen könne. Die tüchtige Zeit und der neue Staat falle nicht vom Himmel, sondern rühre vom guten und tüchtigen Menschen her. Dabei verfiel er nie in leidenschaftliche Schwätzerei. Ruhig und besonnen sagte er sein Ja und Nein, aber so, daß er es niemand aufdrängte. Wenn er die, mit denen er gesprochen, verlassen hatte, so kam es ihnen wie ein eigen gefundenes Wort von selbst auf die Lippen. Der katholische Pfarrer schrieb seinem Einfluß die Rückkehr Wennrichs zur Kirche zu. Dem evangelischen Pastor fiel es bald erfreulich auf, weil er, obwohl anderen Glaubens, überall überlegt die Partei des schwachen, trägen Gemeindevorstehers Schlicker ergriff, wenn dieser auf dem rechten Wege war, und ihn im stillen beriet, wenn er in der Widerwehr von seinen Gegnern einer falschen Richtung zugetrieben wurde. Denn wie es in jener Zeit lag, begann der Kampf der beiden Konfessionen wieder schlimme vergiftete Formen anzunehmen, und die beiden Geistlichen von Wilkau erhitzten sich in immer ärgerer Weise, der evangelische vom Staate protegiert, der katholische im Schatten des Grafen Schilling. Maechler neigte dem einen Teil zu, ließ dem anderen Teil volle Gerechtigkeit widerfahren und trug so manches zur Beruhigung der Gemüter bei.

Alle wunderten sich darüber, wie es zugehe, daß dieser landfremde Gerbergesell überall einen solchen Einfluß ausübe. Aber der große, ruhige Mann durfte sich nur zeigen, so verstummten seine Widersacher, denn sein Verstand war klar, aber nicht verletzend, sein Wort einfach, aber treffend, seine Güte fest, sein Weg unbeirrbar und sein Charakter makellos. Was er angriff, gelang, was er wollte, das kam ihm entgegen, und es gab kaum einen, der nicht in ihm den Schwiegersohn des alten Wennrich sah.

Fragte ihn aber der und jener, wann denn die Hochzeit mit Lotte sein werde, so sah er ihn erst verwundert an und antwortete dann lächelnd, daß er die Sprache, die zu so etwas notwendig sei, wohl nicht verstehe, oder speiste die müßige Neugier mit einem anderen launigen Spaß ab, daß kein Frager klüger davonging, als er zu Maechler getreten war.

Denn zwischen ihm und Lotte stand noch dieselbe Luft, die sich aus unbegreiflichen Ursachen von dem schrankenlosen Bekenntnis des Mädchens beim Antritt seiner Stelle erzeugt hatte. Ja, in dem Maße, wie sich die glückhaften Unternehmungen Maechlers häuften, wurde Lotte noch kühler, ferner, abseitiger, oft geradezu schroff. Sie mochte wohl von dem Bangen befallen worden sein, Maechler könnte ihre bedenkenlose Offenheit in der Darstellung des Schicksals und der Not ihres Vaters als Anpreisung ihrer Person aufgefaßt haben. Deswegen begegnete sie ihm in der Folge sehr zurückhaltend, und da er offenbar gleichgültig an dieser Verdunkelung ihres Betragens vorüberging, ließ sie ihn sogar oft als Meisterstochter sein Gesellentum schmecken, und weil auch damit aus dem klugen und überlegenen Mann nicht mehr als ein langer, erstaunter Blick zu holen war, verbiß sich ihr verletzter Stolz noch mehr, noch bitterer. Nach und nach erschienen ihr Maechlers glückliche Unternehmungen als das Bestreben, umsichtig alles an sich zu bringen und damit von selbst auch sie in Besitz zu bringen, wie etwa eine Katze beim Hauskauf nicht besonders erwähnt wird. Deswegen wurde ihr sein unausgesetztes Pläneschmieden widerlich, und sobald die beiden Männer die Beratung einer neuen Unternehmung begannen, ging sie gleichgültig und abgeschmackten Gesichts davon. Was war dieser Maechler auch für ein Mensch, um den die Abenteuer einer jahrelangen Wanderschaft gewitterten, obwohl er nie davon sprach, und der offenbar dabei alles Gemüt, jede Frömmigkeit und allen Glauben verloren hatte, daß er alles nur mit dem Verstande angreift und mit den robusten Händen vollendet.

Aber merkwürdig, die Verunglimpfungen, die sie so unersättlich sammelte, vermochten nicht in die Tiefe ihres Herzens zu dringen, in dem mit Eintritt Maechlers ein Gefühl erwacht war, das sie nicht verstand und nicht beherrschte. O nein, das war nicht Liebe, was sich da immer stürmischer sammelte! Das glaubte sie zu wissen, wenn sie ihre Schulkameradinnen beobachtete, die den Erwählten gefunden hatten und nun in Weichheit sich verloren, in fesselloses Schwärmen, in Brustwärme und im Schwelgen kleiner Hoffnungen, in dieses fade, lächerliche Getue, dieses Gehimmel und törichte, eitle Wortgeplätscher. Auf keinen Fall war das Liebe! Wenn sie Maechlers Schritt schwer und sicher über die Stiegen gehen hörte, so sprang ein Zorn in ihr auf, daß sie die Hand auf ihr empörtes Herz legen mußte, und wenn sie ihn gereizt oder verletzt hatte, verfiel sie in Finsternis, und ihre Augen, die noch in Triumph und Rachsucht funkelten, füllten sich, ohne daß sie es wollte und hindern konnte, mit Tränen. Immer wurde sie in Stolz getrieben, an dem sie litt, in Kälte, gegen die sich eine Süße empörte, die wie ein hungriges Feuer in ihr tobte.

Einige Male versuchte Maechler sie zu einem Spaziergange über das Feld einzuladen. Sie ließ ihn ruhig ausreden, genoß seine Ungeschicklichkeit und Verlegenheit, sah ihn groß und herrisch an, daß er die Augen senkte, und lehnte dann mit höhnischem Kräuseln ihres schönen vollen Mundes ab. Ja, eines Tages drang der Vater in sie, sich doch nicht so in das Haus zu vergraben. Das brachte ihr Blut so in Wallung, daß sie richtig aufschrie: »Das verstehst du nicht, alter Mann!« Dann floh sie aus der Stube, lief über die Treppe hinauf und schloß sich in die Giebelstube ein. Durch kein Zureden und keine Güte war sie zu bewegen, herauszukommen. Als die beiden sich aus dem Hause entfernt hatten, kam sie hervor und ging mit einer solchen Schwermut durch alle Räume, als sei sie eine Betrogene und Verlassene. Dann setzte sie sich auf die Bank unter dem Giebelvorbau. Die Luft stand unbeweglich im Licht. Die Blüten auf den Beeten des Vorgärtchens sahen unwirklich aus, als gehörten sie einer anderen verklärten, verwunschenen Welt an. Das leise Rauschen des Heidewassers über die Feldgasse hinter der Ufermauer klang, als gehe es fern und hoch hinter dem Blau des Himmels vorüber, und Lotte geriet in einen Zustand der Verströmtheit, in ein traumartiges Verlorensein. In dieser unbeschreiblichen, seligen Bewußtlosigkeit erhob sie sich und suchte unter den Geranien an dem Fenster den schönsten Strauß aus, trug ihn in Maechlers Kammer hinauf und stellte ihn auf das Brett des kleinen Fensters. Als sie sich zurückbog, sah sie in dem winzigen Spiegel an der Wand ihr Gesicht, das lieblich weich wie das eines Kindes war, mit geröteten Wangen und verzauberten Augen. Da packte das Mädchen ein solches Erschrecken, daß sie den Geranienstrauß vom Fenster stieß. Als sie den dumpfen Laut hörte, mit dem der Topf drunten im Hof in Scherben ging, atmete sie befreit auf und verließ hochaufgerichtet die Kammer, deren Tür sie hinter sich zuwarf, ohne sich umzudrehen. Den Strauß stopfte sie in den Müllkasten und säuberte den Hof, daß nichts mehr, kein Krümchen Erde, kein Topfsplitter zurückblieb.

Nach diesem Ausbruch überfiel sie aber ein noch grenzenloseres Einsamkeitsgefühl. Hatte sie vorher die Empfindung gehabt, im Vaterhause eine Entrechtete und Betrogene zu sein, so kam sie sich nun, nach diesem Vergehen an der unterdrückten Sehnsucht ihrer Süße, von der ganzen Welt ausgeschlossen vor. Um wieder in das Leben zurückzufinden, ging sie in das Nachbarhaus, wo die Jugendfreundinnen ihrer verstorbenen Mutter, die Schwestern Niedenführ, zwei alte Jungfrauen, wohnten, die sich durch Handarbeiten und vom Vermieten einiger Zimmer an bescheidene Badegäste ernährten. Immer, wenn Lotte durch solche Strudel des Innern in eine unbekannte Welt ihres Wesens gerissen wurde, suchte sie Zuflucht in der lautlosen Stube dieser alten Frauen, deren graues Haar schon stark ins Weiße zu spielen begann, wie ihre einsamen Seelen sich nur noch im Lichte der Vergangenheit sonnen konnten. Die Stricknadeln der einen pinkten, der Faden der anderen fuhr leise durch die in den Stickrahmen gespannte Gitterleinwand, und die längst versunkenen Tage ihrer Kindheit und Mädchenzeit wachten in Geschichten auf, die Lotte schon hundertmal gehört hatte. Heute aber sog sie den verblaßten, entrückten Schimmer der Erinnerung dieser alten Weiblein mit der Gier und dem Heißhunger einer fast Verzweifelten ein, weil durch jene verschollene Welt auch ihre Mutter gegangen war, jung wie sie und in einer Art, die ihrem Wesen in vielem glich. Denn auch sie war lebendig und fröhlich, aber still, in herber Scheu durchs Leben gegangen. Mitten im spielenden Plätschern am Heidewasser hatte sie schon als Kind ein Staunen erfaßt, daß sie mit großen, verwunderten Augen dem Glitzerspiel der Wellen zugeschaut und dann, auf einem Stein sitzend, verloren dem Rauschen des Wassers gelauscht hatte, als die anderen längst davongegangen waren. Sie war auf der Kummerharte heimlich von ihren beeren- und pilzsuchenden Freundinnen gegangen, um weitab, einsam nur für das Echo zu singen und hatte einst einen läppischen, zudringlichen Jungen mit Steinwürfen über den Berg hinabgetrieben. Denn bei aller Verschlossenheit wurde sie von Zeit zu Zeit von einer Leidenschaftlichkeit gepackt, die dann auch ihren so behüteten Mund in ein fesselloses Strömen und eine Beredsamkeit brachte, daß sich alle verwunderten, die sie hörten.

Lotte lauschte den Geschichten der beiden Alten, bis das Abendrot in den Kronen der Bäume schon zu versiegen begann. Dann ging sie heim mit der wiederaufgefrischten Sicherheit, daß ihr Wesen von dem Geist der Mutter gelenkt, nicht von diesem Maechler verwirrt sei. Nicht für ihn, sondern für die Mutter hatte sie in traumhafter Ergriffenheit den Geranienstock auf das Fenster gestellt. Warum sie ihn aber dann heruntergestoßen hatte, an dieser Bedenklichkeit schlüpfte sie abgewandten Herzens vorbei. Zu Hause traf sie den Vater und Maechler schon am Tische sitzend. Wennrich empfing sie als Ausreißerin mit liebenswürdigen Vorwürfen, Maechler nickte nur zustimmend mit dem Kopf und krümelte ein erzwungenes Lächeln um den Mund zusammen. Dabei blieb sein Gesicht ernst, und seine Augen maßen sie so bekümmert, daß sie sich mit einem Ruck abwenden mußte, um die Röte zu verbergen, die ihr ins Gesicht schoß.

Trotz dieses Kampfes mit der Leidenschaftlichkeit ihres verkehrten Herzens blühte Lotte geradezu auf: Ihr reiches Blondhaar wurde noch glänzender, ihre Augen strahlender, das Feuer auf dem Grunde der graugrünen Sterne berückender, ihr schwebender Gang sieghafter, und wenn sie lachte, oft ohne Grund, für sich allein, so packte das Maechler so schmerzend in der Brust, daß er die Augen schließen mußte.


 << zurück weiter >>