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Neunzehntes Kapitel

Genau auf den Tag ein Jahr nach seiner zweiten Abfahrt zur Front, am siebzehnten Dezember 1918, traf Damian Maechler, von den Seinigen seit dem Waffenstillstand schon täglich erwartet und nun zuletzt doch überraschend, wieder im Gerberhaus ein; auch diesmal heil an allen Gliedern und abgemagert, aber nicht wie damals nach seiner Verschüttung von Gemütsverdunklungen belastet, vielmehr eher überwach und in seinem ganzen Wesen gestrafft, daß es auf Mutter Christel, Meister Jochen und Sessi, deren sich seit den bestürzenden Ereignissen der Novembertage, dem Zusammenbruch der Fronten, der Abdankung und Flucht des Kaisers und dem Ausbruch der Revolution eine tiefe Niedergeschlagenheit und Verstörung bemächtigt hatte, geradezu unfaßbar und befremdend wirkte.

Ja, Damian war in diesem einen Jahr zum zweitenmal ein völlig anderer geworden. Es war, als ob er sieben Häute von sich abgestreift hätte und, aus den rauchenden Trümmern und dem Schlachtendampf phönixgleich entstiegen, bereit sei, mit schon entfalteten Schwingen der neuen, schöneren und besseren Menschheitswelt entgegenzufliegen, die er vor sich zu sehen glaubte.

Seine gläubigen deutschen Augen sahen eine neue sittliche Ordnung der Völker in Freiheit und Gleichberechtigung nach dem verpfändeten Ehrenwort des amerikanischen Präsidenten und seinem Plan eines Völkerbundes als der Rechtsgemeinde freier Völker und damit den schöpferischen ewigen Frieden für die Menschheit heraufdämmern; sie sahen für Deutschland nach außen einen ehrenhaften Frieden, ohne Demütigungen, ohne Rachegefühle, ohne Versehrung seiner Grenzen und ohne Kriegsentschädigungen gewährleistet, und sie sahen im Innern des Reiches einen freien Volksstaat, eine wahrhafte Demokratie, ohne Feudalismus, ohne Privilegien, eine ihrer nationalen Würde wie ihrer sozialen Aufgaben gleich bewußte Republik deutscher Prägung im stürmischen Entstehen.

Aus solchen glänzenden Augen schaute Damian wochenlang auf das zukunftsträchtige Gären und Brodeln im Vaterland, als das er jetzt, im Blick aus dem Gerberhaus, all die tumultuösen Vorgänge in den deutschen Landen empfand, wie sie ihm täglich aus der Druckerschwärze der Zeitungen entgegenschlugen. Denn bis in das immer ein wenig verschlafene Badestädtchen waren die Wogen der Revolution, wenigstens bis in den Februar hinein, nur in Form mehr oder weniger unerfreulicher, aber immer noch nicht bedrohlicher Ausläufer gedrungen. Lichtscheues Gesindel randalierte da und dort, verhetzte Arbeiterelemente aus der am Rande Wilkaus gelegenen Maschinenfabrik suchten in Wirtschaften und auf der Straßenbahn sich in Szene zu setzen; aber außer, daß sie Ärgernis erregten und eine gewisse Unruhe in die Bürgerschaft trugen, blieb in Wilkau vorerst alles beim alten. Allerdings hörte man, daß sich auch in der Rehberger Garnison ein Soldatenrat gebildet hatte, von dessen Funktionen man sich jedoch kein klares Bild zu machen imstande war. Damian freilich gedachte, als ihm dies zu Ohren kam, wehmütig der herrlichen Kameradschaft seiner Männer, denen er sich wie einer verschworenen Schar zugehörig gefühlt hatte, mit denen er gemeinsam jahrelang all die Herzensnot und Todesnot bestanden, und die ihm bis zuletzt zuchtvoll auf dem Rückzug über die Rheinbrücken in die Heimat gefolgt waren.

Zu anderen Stunden wiederum, wenn er sich vorstellte, welche gewaltigen Aufgaben nach der Liquidierung des vierjährigen Völkerwahns vor den deutschen Menschen lagen, wünschte er sich auf irgendeine Weise tätig teilhaben zu können an dem Neubau dieses Staatswesens, dessen Vision er in sich trug, seit er den Grundlagen der griechischen Demokratie nachgespürt hatte.

In Breslau hatte sich, wie Damian den Zeitungen entnahm, Professor Methner zum Sprecher für die Zukunftsgedanken des Deutschtums gemacht, indem er sich, mitten im wilden Toben des Umsturzes, leidenschaftlich für die völlige Durchdringung von Sozialismus und Nationalismus einsetzte. Und als mit der Einberufung einer Nationalversammlung zu rechnen war, die nach Damians zuversichtlicher Erwartung das im Jahre 1848 im Sande verlaufene Werk der Einigung aller deutschen Stämme in einem großdeutschen Reich und nach Beseitigung aller dynastischen Widerstände im Rahmen einer neuen Reichsverfassung zustande bringen würde, schrieb Damian, einem plötzlichen Einfall nachgebend, an Professor Methner. Unter Berufung auf die stets so außerordentliche Wirkung seiner Rhetorik, die bis über den Ozean reichende Geltung seines Namens und auf seinen idealistischen Glauben an die Sendung des deutschen Geistes und Wesens appellierte er an den verehrten Mann, er möge sich doch von Schlesien aus für die kommende Nationalversammlung nominieren lassen und dort zu seinem Teil am großen Werk des neuen Reichsbaus mitwirken.

Die Antwort des Professors, auf die Damian so rasch gar nicht gerechnet hatte, traf schon nach wenigen Tagen ein. Sie gab ihm, so kurz und bündig sie ungeachtet des herzlichen Tones im ganzen ausgefallen war, hinsichtlich der Aussichten für die Begründung der neuen deutschen Volksgemeinschaft reichlich zu denken. Und doch war der Tag noch fern, an dem Damians Denken reif genug geworden sein würde, für sich die Folgerungen aus dieser beinahe grimmig humorvoll zugespitzten Erkenntnis seines Professors zu ziehen. Professor Methner schrieb: »Politisch bin ich nicht zu gebrauchen, denn ich bin Sozialist und leidenschaftlich national. So wollen mich die Sozialisten nicht, weil ich national bin, und die Nationalen nicht, weil ich Sozialist bin.«

Von Anfang März an änderte sich das bisher beinahe friedliche Bild des Städtchens wie mit einem Schlage. Es war, als wollten die Wilkauer nun mit um so größerer Vehemenz das bisher Versäumte nachholen, um nicht etwa als rückständig zu gelten.

Mit der ab Februar erfolgten Stillegung der Maschinenfabrik, die während des ganzen Krieges statt der Herstellung von Papiermaschinen der Rüstungsindustrie gedient hatte, und für die es nunmehr einstweilen keine Aufträge mehr gab, bemächtigte sich der davon betroffenen Arbeiter und ihrer Familien rasch eine heftige Erregung. Nicht nur entsprachen die Sätze der Arbeitslosenunterstützung nicht mehr den stark überhöhten Preisen des täglichen Bedarfs, sondern auch der Fortfall der ihnen bisher gewährten Zusätze zu den überaus knappen Lebensmittelrationen trug wesentlich dazu bei, ihre gärende Unzufriedenheit gefährlich zu steigern. Am Monatsende kam es zu den ersten Demonstrationen, Zusammenrottungen vor der Bürgermeisterei, zu Ausschreitungen gegen Gemüse- und Kolonialwarenläden, und als an einem der bitterkalten Tage, in denen die Wilkauer infolge völlig unzureichender Belieferung mit Heizmaterial für den Winter frierend in ihren meist kalten Stuben und Läden hausten, vor der Schloßgärtnerei ein voller Lastwagen mit Koks für die gräflichen Treibhäuser vorfuhr, wurden die Fuhrleute tätlich am Abladen gehindert, der Koks, den die Arbeiter im übrigen gar nicht für ihre Hausbrandöfen gebrauchen konnten, auf die Heidewasserbrücke gefahren und dort in das Bachbett geschüttet, wobei es von Drohungen gegen die wohlgenährten Prasser, Nichtstuer, Holzwucherer und Ausbeuter des Proletariats nur so hagelte.

Diese Ausbrüche der überreizten Volksseele machten sich einige Funktionäre der Kommunistischen Partei sofort zunutze und riefen durch Propaganda von Mund zu Mund für den übernächsten Tag, einem Montag, zu einer Versammlung aller Volksgenossen ohne Ansehen ihrer Parteizugehörigkeit in den großen Saal des »Braunen Adlers« auf. Dort würde Genosse Luschak zu ihnen sprechen und Sofortmaßnahmen zur Behebung all dieser ungeheuerlichen Mißstände vorschlagen.

Die Kunde von diesen Ereignissen drang natürlich auch bis ins Gerberhaus. »Luschak?« fragte Damian, als er mit Sessi und den Eltern beim Abendessen saß, erstaunt Mutter Christel. »Wer ist das? Der Name ist mir in Wilkau noch nicht begegnet.«

»Das glaube ich gern«, erwiderte Christel, und Damian erfuhr von ihr, daß es sich um einen erst vor etwa drei Jahren nach Wilkau gekommenen jungen Lehrer der Holzschnitzschule handle.

»Es ist ein hübscher, gerade gewachsener Mensch, wohl ein paar Jahre älter als du, mit einer etwas wild aussehenden schwarzen Künstlermähne, der immer ohne Hut umherläuft. Es hat schon viele hier gewundert, warum er nicht eingezogen wurde, aber er soll einen Herzfehler haben. In der Holzschnitzschule sagen die Schüler, daß er viel kann und ein tüchtiger Lehrer ist, aber sie mögen ihn nicht besonders, weil er ein unangenehmes Wesen hätte. Es hieß schon lange, daß er ein ganz Roter wäre, aber ich hätte doch nicht gedacht, daß er sich dazu hergeben würde, die Leute hier in Wilkau noch mehr aufzuhetzen. Was anderes kann doch bei der Versammlung nicht herauskommen.«

»Wir haben halt Revolution, Mutter, unsere Märzrevolution«, suchte Damian das Christel zu beschwichtigen, die sich richtig erbost hatte, »und daß die Leute sich Luft machen, wenn sie nichts verdienen, nichts zu heizen und kaum etwas zum Beißen haben, wundert mich gar nicht. Es kommt jetzt nur darauf an, daß vernünftig vorgegangen wird. Eine Hetzrede wäre das Falscheste, was dieser Herr Luschak unternehmen könnte. Na, ich werde jedenfalls mal hingehen und mir anhören, was der Mann zu sagen hat.«

Über diese Absicht Damians zeigten sich Sessi und Christel entsetzt und beschworen ihn, sich doch ja nicht unter die Revolutionäre zu begeben. Aber auch Meister Jochen hielt nicht mit seiner Meinung hinter dem Berge, daß er Damians Entschluß ganz und gar mißbillige, doch nicht etwa, weil er sich dadurch mutwillig einer gefährlichen Situation aussetzen würde. »Denke an deinen Großvater Nathanael«, ereiferte sich Jochen Maechler, »er hat das Beste für die Wilkauer gewollt, und sie haben ihm gewiß auch vieles zu verdanken, aber er hat sich für das Glück seiner Mitmenschen aufgerieben und darüber sein Geschäft, hier die Gerberei, so gut wie zugrunde gerichtet; zuletzt erschien ihm sein ganzes eigenes Leben wie fehlgeschlagen. Nein, nein, zwei Herren kann eben niemand dienen. Nur so weit die Kraft seiner Arme reicht, soll sich ein Mann betätigen. Und merke dir noch das, mein Junge, ich habe es schon so oft in meinem Leben gesagt, aber ich will es dir heute noch einmal ins Gedächtnis rufen: Wer über seinen Zaun brüllt, kriegt zuerst Streit mit seinem Nachbar und verfängt sich bald in Händel mit der ganzen Welt. Das ist meine Überzeugung, danach habe ich mein Leben lang gehandelt, und ich bin nicht schlecht dabei gefahren.«

Darauf erhob sich der Meister schwerfällig, ging hinüber zum Fensterplatz und ließ sich, wie erschöpft von einer ungewohnten Anstrengung, in den Backenstuhl fallen, wo er nach kurzer Zeit einschlief.

Damian schwieg zwar zu diesen Ansichten Jochens, die er nur zu gut kannte und von denen er wußte, daß es zwecklos gewesen wäre, sie dem Vater ausreden zu wollen. Aber gerade die Zitierung des Großvaters bestärkte ihn, wenn es dessen überhaupt noch bedurft hätte, in seinem Verlangen, nicht länger daheim sozusagen hinter dem Fenster zu sitzen und mit spießbürgerlicher Miene die Stirn in Falten zu ziehen über das, was draußen in der Welt geschah. Zumindest wollte er teilhaben an den Sorgen und Nöten der Mitmenschen, sich eingliedern in das Geschehen der Zeit, nicht anders, wie es der Staat schließlich auch in Kriegszeiten von jedem Bürger erwarten durfte, daß er sich in die Bresche schlug, wenn es galt, sich äußerer Feinde zu erwehren.

»Wenn wir Bürger hinter dem Ofen hocken bleiben wollen«, meinte Damian zu Sessi, als sie oben in der Schlafstube noch einmal in ihn drang, doch ihrem und der Eltern Rat zu folgen und sich von all diesem Straßenlärm fernzuhalten, »wenn wir ruhig zusehen wollen, wie die Arbeiter allein das Heft in die Hand nehmen, geben wir uns auf und sind allesamt verloren. Denn dann kommt es zur Diktatur des Proletariats, zur Herrschaft der Straße und, wie in Rußland, zum rettungslosen Chaos. Die These des Bolschewismus: Alles zerschlagen, damit das Neue wird, eine These, an die nur Narren und Schildbürger, ach, was sage ich, nur Wahnsinnige glauben können, diese These würde bald in Deutschland wie drüben in Rußland triumphieren, weil die Not in Deutschland zu groß geworden ist und sich wie ein epidemisches Gift im Volkskörper auszubreiten droht, wenn wir Bürgerlichen nicht aus unserem Stumpfsinn erwachen, die Zipfelmütze des deutschen Michel in die Ecke werfen und uns darauf besinnen, daß alles, was deutsche Kultur heißt, schließlich in Jahrhunderten aus dem Bürgertum gewachsen ist, und daß wir diese Kultur nicht nur zu retten, sondern weiter und höher zu führen haben. Darum hoffe ich nur, daß sich das Bürgertum überall und auch hier in Wilkau den Schlaf aus den Augen reibt und mit den Arbeitern in die Volksversammlungen geht, nicht um bloß zu demonstrieren, sondern um gemeinsam mit ihnen praktische und positive Beschlüsse zu fassen zur Behebung der dringlichsten Notstände und dadurch direkt mitzuarbeiten am Aufbau eines wirklich organischen sozialen Staates. Die Kultur wie der Staat des alten Athen entfaltete sich auch auf der agora, durch die Beschlüsse des Volkes, und zwar seiner gesamten Bürgerschaft und keineswegs etwa nur nach den Wünschen der Hafenarbeiter am Piräus.«

Damian redete dies und noch manches andere, während sie schon in ihren Betten lagen, weniger um Sessi zu überzeugen, die für ihren Widerstand eigentlich nur noch ihren ererbten aristokratischen Widerwillen gegen das, was sie die Hefe des Volkes nannte, ins Feld zu führen wußte, sondern um sich selbst über alles klarzuwerden, was in ihm seit dem Ausbruch der Revolution brodelte und nach Ausdruck rang.

*

Vierundzwanzig Stunden später, es ging schon auf die elfte Stunde, lag Sessi resigniert und unruhig zugleich, da sich Damian nicht hatte umstimmen lassen und nun seit bald drei Stunden noch immer nicht aus der Versammlung gekommen war, noch wach in ihrem Bett, während Mutter Christel, die nicht eher schlafen zu gehen entschlossen war, als bis sie Damian wieder sicher im Gerberhaus wußte, schon in ihrer Nachtjacke, eine dicke Decke um die Beine gewickelt, bei ihr auf dem Bettrand saß. Um sich ihrer Besorgnis zu erwehren, in die sich eine heimliche Neugier mischte, wie es wohl auf der Versammlung zugegangen sein mochte, redete das Christel von allem anderen, nur nicht von dem, was sie eigentlich im Augenblick innerlich beschäftigte, von der Teuerung, von der Kohlennot, von Jochens immer schlimmer werdenden Gemütsverdunklungen, die ihn sogar im Schlaf peinigten, daß er sich wie von bösen Geistern überfallen, ächzend und dumpf murmelnd stundenlang in seinem Bette wälze und manchmal richtig um sich schlage.

Die kleine Schwarzwälder Wanduhr hatte gerade elf geschlagen, als die beiden Frauen unten die Haustüre öffnen und schließen hörten und Damian kurz darauf federnd in die Stube trat.

»Ja, seht mich nur beide genau an, ihr Lieben«, rief er lachend noch auf der Schwelle, als er die beiden Frauen so erwartungsvoll beieinanderhocken sah. »Ich lebe noch, man hat mich weder verprügelt, noch ist mir sonst was Übles geschehen. Im Gegenteil. Staunen werdet ihr, ich bin selbst noch ganz benommen von dem, was ich heute abend erlebt habe.«

Und Damian sprudelte förmlich aus sich heraus, wie alles verlaufen war, indes Mutter Christel und Sessi gespannt seinem ausführlichen und immer aufregenderen Bericht lauschten:

»Der große Saal war bald überfüllt, die Fabrikarbeiter waren wohl vollzählig erschienen, viele mit ihren Frauen. Aber auch aus den anderen Schichten der Bevölkerung hatten sich zahlreiche Besucher eingefunden, vor allem Kaufleute und Handwerker, auch ein paar Herren vom Gemeinderat und der eine oder andere Lehrer. Nur die sogenannten besseren Kreise hatten sich ängstlich zurückgehalten, und von den Adligen war natürlich nicht einer gekommen. Um einen besseren Überblick zu haben, hatte ich mir ziemlich weit hinten an einem Seitengang einen Platz gesucht. Neben mir saß der frühere Hauptmann Anderseck, ihr wißt ja, der Teilhaber der Wilkauer Teigwarenfabrik. Vorn hatten sie ein richtiges Rednerpult aufgebaut und mit einem großen roten Tuch drapiert, was ich geschmacklos und unklug fand. Ein Vorarbeiter aus der Maschinenfabrik, ein unbeholfener älterer Mann, der kaum ein paar richtige Sätze von sich geben könnte, aber wohl von den Kommunisten vorgeschickt worden war, eröffnete die Versammlung und erklärte gleich, daß er dem Genossen Luschak das Wort erteile. Dieser Luschak ist ja ein äußerst gefährlicher Bursche, das war mir schon nach ein paar Minuten klar. Er redete, nur durch häufige zustimmende Zurufe der Arbeiter unterbrochen, die immer hitziger wurden, fast anderthalb Stunden auf die Versammlung ein. Und wie er redete! Ein Agitator, ein fanatischer Kommunist stand da oben, der genau weiß, wie man Massen aufwiegelt, ihre schlechten Instinkte weckt. In mir bäumte sich alles auf gegen diesen Hetzapostel. Es hätte gar keinen Sinn, euch noch mehr davon zu erzählen. Um es kurz zu machen: nach einer guten Stunde hatte Luschak die Arbeiter, die stark in der Überzahl waren, so weit, daß sie mir bereit schienen, auf einen Wink von ihm sich zu erheben, jeden im Saale, der nicht zu ihnen gehörte, zu verprügeln, auf die Straße zu laufen, die Läden zu plündern, die Villen anzuzünden und vor allem ins Schloß einzudringen und dort alles kurz und klein zu schlagen. Ich kam mir vor wie auf einem Pulverfaß, an dem schon die Lunte brennt. Da packte es mich mit einem Male, daß ich aufsprang, die Reihen entlang nach vorn stürmte, den Genossen Luschak, der völlig verdutzt dastand, vom Pult wegdrängte und mit Stentorstimme in den Saal hinein zu reden begann. Wie ich es anfing, weiß ich nicht, was ich alles sagte, weiß ich auch nicht mehr, ich weiß nur noch, daß es aus mir redete, bis mir der Schweiß aus den Poren brach, und daß mich die Leute reden ließen, die Zwischenrufe, die ich gar nicht beachtete, bald verstummten und schließlich die ganze Versammlung wie hypnotisiert auf das hörte, was ich sagte.«

Damian unterbrach sich einen Augenblick, ehe er dem Höhepunkt seines Berichts zusteuerte. Man konnte ihm anmerken, wie er sich beinahe diebisch an der Fassungslosigkeit Christels und Sessis weidete, die hauchstill dasaßen und deren Augen wie gebannt an seinen Lippen hingen.

»Während ich so redete und redete«, fuhr Damian schließlich fort, »überlegte ich mir fortwährend, daß es doch darauf ankomme, den Leuten zum Abschluß etwas Greifbares zu bieten, bis es mir plötzlich wie eine Erleuchtung aufging, was ich ihnen vorschlagen sollte. Ich erinnerte mich, daß sich schon fast überall in den Städten Volksräte gebildet haben, die es vorgeblich als ihre Aufgabe ansehen, die Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, für Abstellung der schlimmsten Auswüchse der Volkswut und für die Beseitigung der gröbsten Mißstände im öffentlichen Leben zu sorgen. Es sind zwar rein revolutionäre Gebilde, aber ich halte sie im Augenblick für unumgänglich, es kommt nur darauf an, wie sie zusammengesetzt sind. Wenn beherzte Männer von anständiger Gesinnung darin wirken, werden sie nur Segen stiften, den fanatischen und randalierenden Elementen entgegentreten können und allmählich alles wieder in ein ruhiges Fahrwasser zurücklenken. Darauf baue ich auch in Wilkau. Daher schloß ich meine Rede mit dem Vorschlag zur Einsetzung eines Volksrates, der in einer zweiten Versammlung, die so bald wie möglich stattfinden möge, gewählt werden solle.

Ihr könnt euch einfach nicht vorstellen, was daraufhin geschah. Die Leute sprangen von ihren Plätzen, jubelten mir frenetisch zu, riefen im Chor, ich sollte die Bildung des Volksrats übernehmen, stürmten dann beinahe das Rednerpult, hoben mich herunter und trugen mich auf ihren Schultern durch den Saal.

Jetzt bin ich also«, schloß Damian ein wenig nachdenklich, »der Wilkauer Volksbeauftragte zur Bildung eines Volksrates und kann, auch wenn ich es wollte, gar nicht anders, als die Sache augenblicklich in die Wege leiten.«

Seinen Zuhörerinnen hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Mutter Christel faßte sich zuerst und meinte endlich:

»Ja, mein Lieber, nun mußt du ausessen, was du dir eingebrockt hast. Ich fürchte nur, daß du nicht viel Freude erleben wirst. Wie Vater die Sache aufnehmen wird, wage ich gar nicht auszudenken.«

»Und ich«, ließ sich nun auch Sessi vernehmen, »finde es einfach geschmacklos von dir, Damian, wenn du wirklich noch die Absicht haben solltest, diese Dinge weiter zu treiben. Du wirst dich doch als Offizier und Akademiker nicht im Ernst dazu hergeben wollen, dich hier in Wilkau vor allen Leuten als eine Art Volkstribun aufzuspielen?«

»Von Aufspielen kann gar keine Rede sein, meine Liebe«, erwiderte Damian ein wenig ärgerlich und mit Nachdruck, »ich fühle mich durchaus als Beauftragter, als Mandatar der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die angesichts unhaltbar gewordener Zustände und offenbar schwerwiegender örtlicher Mißstände sich durch mich noch einmal haben davon überzeugen lassen, daß mit Gewaltmaßnahmen das Übel nicht auszubrennen wäre, sondern daß vernünftig vorgegangen werden muß. Und ich bin nicht gesonnen, das Vertrauen zu enttäuschen und mich vor der Verantwortung zu drücken. Wer über mich die Nase rümpfen will, soll das ruhig tun, davon werde ich mich nicht eine Sekunde anfechten lassen. Und nun wollen wir kein Wort mehr darüber verlieren, liebe Frau.«

Damit beendigte Damian kurzerhand alle weiteren Einwände von seiten Sessis, die er ihr schon am Gesicht ablas, und begann sich auszukleiden, so daß auch Mutter Christel sich bald erhob und mit einem versöhnlichen Gutenachtgruß entfernte.

Als Damian schon eine Weile das Licht ausgelöscht hatte, glitt Sessi auf sein Lager hinüber und begann noch einmal den Versuch, ihn umzustimmen und ihm das Versprechen gleichsam abzuschmeicheln, die ganze Volksratsgeschichte fallen zu lassen.

Wenn Damian auch entschlossen war, über diesen Punkt nicht mit sich reden zu lassen, so berührte ihn Sessis zärtliche Stimme und Schmiegsamkeit doch bald um so verwirrender, als er sich ihr, eingedenk ihres feierlichen Gelöbnisses kurz nach der Hochzeit, auch seit seiner Rückkehr aus dem Felde geflissentlich ferngehalten hatte und jetzt der Hoffnung hingab, sie habe sich eines Besseren besonnen, wolle ihre unerklärliche Büßerinnenhaltung aufgeben und ihr Versprechen einlösen, das sie ihm damals freiwillig gegeben hatte.

Aber wie Sessi sich in ihrer Erwartung getäuscht hatte, Damian würde ihrem liebevollen Drängen nach Aufgabe seines Entschlusses nicht widerstehen können, ebenso sah sich Damian in seiner Hoffnung auf eine Sinnesänderung Sessis getäuscht. Wohl schien es ihm zunächst, als käme Sessi seinem Verlangen entgegen, doch mit einem Male entzog sie sich seinen Armen, begann genau wie damals bitterlich zu schluchzen und stotterte:

»Ach, armer, liebster Damian ... ich kann nicht ... ich schäme mich ja so ... es ist doch wahr gewesen ... es ist nur noch viel schlimmer geworden ... Gott verzeihe mir ... ich kann es nicht!«

So flehentlich stieß sie diese Worte hervor, daß sie Damian erschütterten und sein Verlangen erstickten. Zugleich aber fühlte er sich von dem unbegreiflichen Wesen Sessis erneut dermaßen in seiner Liebe verletzt, daß er es für unter seiner Würde hielt, ihren Lippen das Geheimnis ihrer tiefen Not zu entreißen.

Noch lange hörte er sein Weib wie gefoltert in ihre Kissen weinen, bis ihn endlich der Schlaf übermannte.

*

Am nächsten Morgen erhob sich Damian nach einer in abgrundtiefem Schlaf verbrachten Nacht, ohne Sessi gegenüber mit einem Wort weder auf seinen unerschütterlichen Entschluß in der Volksratsangelegenheit noch auf das befremdende eheliche Geschehen der vergangenen Nacht zurückzukommen. Dann stürzte er sich zum ersten Male seit seiner Rückkehr ins Gerberhaus in einen aufgabenreichen Tag, der ihn bis in den späten Abend hinein in Anspruch nahm. Eine Fahrt nach Rehberg, zahlreiche Gänge in Wilkau, Verhandlungen im Gemeindeamt und in der Redaktion des »Wilkauer Anzeigers«, Besprechungen mit Gewerkschaftsfunktionären – alle diese Maßnahmen dienten der Vorbereitung der Gründungsversammlung, die er noch vor Ablauf der Woche zustande bringen wollte.

Eine Anzeige in der Donnerstagnummer des »Anzeigers« unterrichtete die gesamte Einwohnerschaft von der auf Freitagabend wieder in den »Braunen Adler« anberaumten Versammlung zur Gründung eines Volksrates für die Stadt Wilkau. Sie war namens eines nicht weiter benannten Aktionsausschusses gezeichnet: »Der Volksbeauftragte: Dr. Damian Maechler.«

Als diese Anzeige, die sich in ganz Wilkau wie ein Lauffeuer herumsprach und je nach Einstellung der Menschen lebhafte Zustimmung oder hohnvolle Ablehnung auslöste, Meister Jochen zu Gesicht kam, er befand sich gerade mit Christel allein in der Wohnküche, schlug er mit der Rechten so heftig auf den Tisch, daß das Christel blaß wurde. Dann begann er, sich alles das, was sich in ihm in den letzten Wochen, ja seit dem Zusammenbruch der Fronten und dem Beginn der Revolution an Bitterkeit und Enttäuschung über diese Zeit und ihre Menschen und nicht zuletzt über seinen einzigen Sohn und Erben aufgespeichert hatte, in einer so verzweifelten langen Klagerede vor dem armen, hilflos dastehenden Christel von der Seele zu sprechen, daß das liebe Wesen davon tief betroffen wurde und sich zuletzt aufweinend auf die Ofenbank fallen ließ.

In dieser halben Stunde mußte sie so deutlich wie noch nie zuvor erkennen, daß ihrem Jochen seine ganze Welt- und Lebensanschauung, alle seine Grundsätze, auf denen er wie auf einem granitenen Unterbau sein Leben errichtet zu haben glaubte, wie unter letzten Schicksalsstößen zusammengebrochen waren. Alle diese Grundsätze, nach denen seiner Meinung nach ganz Deutschland durch vierzig Friedensjahre wohlbestellt gewesen sei, hatten sich, kaum daß das Schicksal begann, an ihnen herumzuklopfen, als hohl erwiesen gleich taubem Weizen, der nur leeres Stroh ergibt, wenn er auf der Tenne gedroschen wird. Und sein Sohn, von dem er insgeheim immer noch gehofft habe, daß er vielleicht doch zu etwas Höherem berufen sein würde, gäbe sich jetzt gar noch dazu her, selbst diesen armseligen Strohschober in Brand zu stecken und zu vernichten.

»Weib, ich sage dir, ich sitze hier als ein ausgemachter Narr. Ich habe in diesem Haus gelebt und gewerkt in der Sicherheit eines Narren, der sich in einem Stuhl aus Wasser zur Ruhe setzen und in einem Bett schlafen will, das mit Wind gefüllt ist. Ja, du lieber Herrgott ...!«

Unter diesem Ruf warf er die ausgebreiteten Arme in die Luft, brach aber sofort ab und schüttelte verzweifelt seinen Kopf.

Durch ihre tränenfeuchten Augen beobachtete das Christel unterdessen in jäher Sorge ihren Jochen, der jedoch nach kurzem Verharren schwerfällig aufstand und sich in seinen Backenstuhl niederließ, um wie meistens, so auch diesmal, nach kurzer Zeit darin einzuschlafen. Doch als ob sich der Schlaf, nachdem er das Opfer in seine entrückte Ruhe eingefangen, nicht mehr weiter um den zu ihm Geflüchteten kümmere, sondern den Traumgeistern überließe, begann der Gerber nicht anders wie in seinen traumdurchtobten Nächten erst dumpf und angstvoll zu murmeln, dann unter Bewegungen verzweifelter Gegenwehr so notvoll zu ächzen, daß Christel den Anblick nicht länger ertragen konnte und aufstand, um ihn den Fängen seiner Peiniger zu entreißen. Nach vielem Rütteln erwachte er, sah sich enttäuscht in der Stube wie in einem fremden, unbekannten Raume um und sagte dann leise, noch im halben Stammeln des Traumes, ihr dabei gütig die Hand reichend: »Ich danke dir, liebes Christel, daß du mich geweckt hast. Aber es hat ja wenig Sinn. Die finstern, finstern Wagen... Ich gerate noch einmal unter ihre Räder ... Jaja. Christel ... Mich kann nun keiner mehr vor ihnen retten, eben hörte ich schon deutlich ihre Räder rollen, es dauert nicht mehr lange, und sie jagen über mich hin. Aber euch beiden soll nichts geschehen ...«

Als Damian zur Vesperzeit heimkam, nahm ihn Christel beiseite, verständigte ihn von dem Verzweiflungsausbruch Jochens, verhehlte ihm auch nicht ihre Erschütterung und tiefe Sorge um ihn, war aber einsichtig genug, nicht noch einmal in Damian zu dringen, seine Absichten mit dem Volksrat aufzugeben. Da Damians Gemüt schon seit dem nächtlichen Erlebnis mit Sessi mehr aufgebürdet worden war, als er neben der Verantwortung für die Durchführung der Volksratsangelegenheit gebrauchen konnte, wehrte er sich instinktiv dagegen, sich von dem, was ihm Christel über Vaters Verstörung eröffnete, noch stärker belasten zu lassen. Darum unterdrückte er gewaltsam seine eigene Betroffenheit über die Folgen seiner politischen Aktivität auf den schon seit Jahren in ausgesprochener Lebensferne eingesponnenen Vater und suchte Mutter Christel damit zu beruhigen, daß sie doch aus Erfahrung wüßte, wie zwecklos es sein würde, an diesem Zustand noch etwas ändern zu wollen, ja daß allein dann, wenn der Vater sehen würde, daß seine, Damians, Absichten zum Guten ausschlügen, eine Hoffnung bestünde, ihn noch einmal seinem ganzen Gram und seiner Lebensverstörung zu entreißen.

Auf diese Weise gelang es ihm auch wirklich, Christels Befürchtungen einigermaßen zu zerstreuen und ihrer unvermindert herzlichen Zuneigung zu ihm sogar ein frohes Lächeln zu entlocken, das ihm ihr gläubiges Vertrauen in die Richtigkeit seines eigenen Weges versicherte. Im tiefsten hatten ihm die Eröffnungen Christels über den Vater doch einen solchen Stoß versetzt, daß er sich noch einmal Mütze und Mantel holte, um auf einem Gang in den milden Märzabend seine innere Sicherheit wiederzufinden, vielleicht auch schon den Zugang zu der Ansprache zu gewinnen, die er am nächsten Tage in der wichtigen Gründungsversammlung zu halten gedachte, der er sich doch nicht unvorbereitet gegenüberstellen wollte.

Als er ins Freie trat, schien die Abendsonne so einladend in das Vorgärtchen, daß er es, vom Hin und Her dieses Tages doch ein wenig ermüdet, der ihn auch heute kaum hatte zur Ruhe kommen lassen, vorzog, auf den geplanten Gang zu verzichten und sich auf dem übersonnten Bänklein unter dem Frontspieß des Gerberhauses niederließ.

Hier gab er sich bald beim leise glucksenden Plaudern des Heidewassers einem mehr träumenden als scharf zergliedernden Denken über die Lage Deutschlands nach dem Zusammenbruch und über die notwendigen Folgerungen hin, die es in dieser Schicksalsprüfung nunmehr für den Einzelnen wie für die Gesamtheit zu ziehen galt. Doch sowie er sein Streben nach innerer Klärung und Sammlung auf die Ansprache im Volksrat zu richten begann, um die es ihm im Grunde zu tun war, geriet er sofort in einen Wirbel sich widerstreitender Gedankenströme, die ihm selbst unerklärlich waren, weil er sie nicht als aus seinem eigenen Denken herrührend empfand. Vielmehr erschien es ihm, als kämpften zwei fremde Widersacher, ein innerer und ein äußerer, leidenschaftlich miteinander um die Oberhand über seinen Geist. Der eine, der in seiner Brust, das erkannte er deutlich, trug die gequälten Züge seines Vaters und drängte sich vorwurfsvoll in seine Pläne und Vorsätze. Der andere dagegen, der außer ihm, hatte keine körperlichen Merkmale, sondern wuchs gleichsam als ein Schemen neben ihm auf, der mit überlegener Dialektik gegen die Stimme des anderen zu streiten begann. Damian selbst fühlte sich inmitten dieses geheimnisvollen, Ringens, dem er wie ein gespannter Zuschauer folgte, fast ausgeschaltet. Nach einer Weile war es dem überlegenen Geist gelungen, die vorwurfsvolle vaterähnliche Stimme so zu schwächen, daß es Damian war, als versänke sie in eine bodenlose Tiefe. Die schemenhafte Gestalt neben ihm indes war geblieben, die, wohl anders als er und ihm doch gleich, aus einer unendlichen Weite bis zu ihm herangeschwebt war. Das ging ihm nun aber doch über die Hutschnur. Empört über diese ganze Alfanzerei erhob er sich, blieb aber sofort regungslos stehen. Denn das geheimnisvolle Wesen schwebte auch auf, sah ihn gesichtslos an und bewegte sich dann wehend durch den kleinen Vorgarten von ihm fort und ließ zugleich ein Locken hinter sich hergleiten, dem nicht zu widerstehen war. So begann Damian, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu werden, wie im Traume, der Erscheinung zu folgen, kam aber nur bis zum Gartenpförtchen. Dort mußte er einfach stehenbleiben, weil sich der Unbezeichenbare zu seinem maßlosen Erstaunen auf ein geisterhaftes Pferd schwang und davonstob, die Feldgasse hinunter, über die Heidebrücke, daß die Holzbohlen unter seinen unsichtbaren Hufen donnerten. Das Traben donnerte ferner und ferner, schwächer und schwächer, immer höher in die Himmelsweite hinauf, und verlor sich endlich dort in der Höhe hauchleise wie eine Traumerinnerung. Da kam Damian zu sich und begriff nicht, was vorgegangen war. Denn er hatte nur gewähnt, der Erscheinung bis zur Gartenpforte gefolgt zu sein; er saß in tiefer Dunkelheit noch immer an derselben Stelle, auf der er sich vor Stunden niedergelassen hatte.

Tief erschüttert stand er auf und ging ins Haus. Wollten denn die Folgen seiner Grabenverschüttung gar nicht aufhören? Wenn auch längst nicht mehr so oft wie früher, immer wieder wurde er so in innere Unbegreiflichkeiten geschleudert.

Sessi schlief schon, als er in die Stube trat. Behutsam streifte er die Kleider ab, legte sich bekümmert ins Bett und war eben darüber her, sich in seine gewohnte Schlaflage zu rücken, da schoß grell die Gewißheit über ihn hin, daß der Rätselhafte sein Großvater Nathanael, vielmehr sein hochfliegender Geist gewesen sei. Jäh setzte er sich in seinem Bett auf, sprang heraus, tastete sich zum Fenster, öffnete es und horchte gespannt in die Nacht den geisterleisen Hufschlägen nach, mit denen er in die Höhe verschwunden war. Aber nichts anderes war mehr zu hören als das Heidewasser, das geruhig seine Wellen vorüberklinkerte. Dennoch ließ der unbegreifliche Zwang, hinter das Geheimnis zu kommen, das ihm unten auf der Bank widerfahren war, nicht nach, und er fuhr fort, in die Nacht hinauszuhorchen. Da fühlte er, wie sich eine Hand begütigend auf seine Stirn legte und nach einigem Verharren wieder so von ihr löste, wie sie gekommen war, schwerelos, unwirklich gleich einem Luftzug aus der Nacht.


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