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Drittes Kapitel

In Damian hinterließen die häuslichen Geschehnisse jener Ferienwochen eine sonderbare Beladenheit, für die er sich selbst zunächst keine Begründung wußte, um so weniger, als der Vater doch offensichtlich wieder in die gewohnten Lebensgleise zurückgefunden hatte. Es war auch nicht etwa Sorge um das gesundheitliche Befinden des Vaters oder um das seiner wieder lebenszuversichtlichen und schon viel wohler aussehenden Mutter, die Damians Gemüt, längst nachdem er in Breslau im Bann seiner Bücher lebte, noch immer belastete; auch nicht einmal der Gedanke an eine neuerliche Bedrohung ihrer Existenzgrundlage, falls den Vater jene krankhafte Lebensabseitigkeit noch ein zweites Mal, und dann vielleicht endgültig, packen sollte. Eine solche Überlegung anzustellen, hätte auch seinem Wesen gar nicht entsprochen, denn Damian war einer jener glücklichen, man könnte auch sagen seelenhaften Naturen, für die es irgendwelche Probleme der eigenen Lebenssicherheit, nicht aus Leichtfertigkeit, sondern weil sie über ihnen stehen, überhaupt nicht gibt. Hierin schlug Damian ebenso gründlich aus der Art seiner Väter, wie in seiner Abneigung, für seine Person ihr ehrbares Handwerk fortzusetzen. Seine Bedrückungen rührten vielmehr aus dem Stoß, den seine jugendlich schwärmerische Daseins- und Menschheitsauffassung durch die hintergründigen Reden des Vaters empfangen hatte. Die Lebensmaximen seines Vaters stellten, worüber sich Damian klar war, gleicherweise den notwendigen Ausfluß seines Wesens wie eine natürliche Folge jener Erfahrung dar, die Jochen für sich selbst aus dem Alterszustand seines Vaters Nathanael zog, der sich in seinem rastlos tätigen Dasein für das Glück der Mitmenschen scheinbar nutzlos aufgerieben hatte. Aber diese Lebensmaximen widersprachen alledem, was Damian gefühlsmäßig als das hohe Ziel seines Zukunftsstrebens in sich trug.

Je länger Damian den zerbrochenen Weisheitssprüchen des Vaters in seiner Breslauer Stube nachgrübelte, desto mehr fühlte er sich von ihnen wie gelähmt und in seinen idealistischen Grundsätzen gefährdet. War es ihm einmal tagelang gelungen, sie aus seinem Bewußtsein zu verdrängen, so überfielen sie ihn unvermutet mit desto quälenderer Gewalt gerade dann, wenn er etwa durch ein paar schmerzverhaltene Zeilen von Sessis Hand an das Schicksal ihres Vaters erinnert wurde, das ihr das Leben im Elternhaus angesichts der Zerrüttung der Ehe ihrer Eltern zuzeiten fast zur Qual machte; oder dann, wenn er, wie sooft, sich wieder einmal vom Geiste seines Großvaters Nathanael angeweht und doch zugleich verwirrt durch den Gedanken fühlte, daß sich dieser hochfliegende Geist an den Gitterstäben aus Menschenhand hatte zu Tode flattern müssen.

In solchen Augenblicken hörte Damian ebenfalls den Vater, wie er mit seiner bohrenden Stimme der Mutter und ihm eine seiner Lebenserkenntnisse vorhielt, die er besonders gern im Munde führte: »Was geht mich der Weg zwischen Hamburg und Berlin an, wenn ich von Wilkau nach Rehberg zu wandern habe? Und leuchtet die Lampe auf dem Tisch heller, wenn ich das Licht des Sirius erforsche?«, und er ärgerte sich, daß der Vater ihm damit Großvaters Lebensfiasko mit einigem Recht als Warnung hinstellen konnte.

Was aber das gescheiterte Lebensschiff des hochbeanlagten Generalstabshauptmanns Baron von Korff, Sessis Vater, anging, so empfand Damian, bei aller kritischen Einstellung zu dessen Haltlosigkeit gegenüber dem über ihn hereingebrochenen Unglück, das schwere Unrecht, das diesem glänzenden Geist vom Leben zugefügt worden war, nicht minder tief als jenes, das einst seinem Großvater im Alter beschieden war. Ja, auch hier mußte er sein Herz und seinen Verstand hüten, nicht dem Vater in dem Mißtrauen zu folgen, das sich in diesem gegen den Bestand aller Menscheneinrichtungen gebildet hatte, und das er dem Sohn als Leitfaden fürs Leben bei jeder möglichen Gelegenheit vor Augen hielt.

Soweit Meister Jochens Lebensansichten auf Ehrenhaftigkeit, Fleiß und Pflichterfüllung hinausliefen, trug Damian sie im Blut; soweit sie jedoch in jene tiefe Lebensmelancholie mündeten, die den Vater zu der Behauptung verführte, daß es geradezu gefährlich für ein glückhaft gesichertes Leben sei, wenn der Mensch mehr Geist besitze oder auch zu besitzen trachte, als zur Erfüllung seiner einfachen beruflichen oder bürgerlichen Pflichten notwendig sei – was natürlich eine Sentenz war, die sowohl auf Baron Korff wie auf Damian selbst und sein unverhohlenes Bildungsstreben abzielte –, so lehnte Damian sich innerlich entschieden gegen sie auf. Und darin konnte ihn auch weder das Schicksal des Großvaters noch das des Barons Korff wankend machen, mochte er an ihnen den Wahrheitsgehalt der Lebensansichten seines Vaters auch noch so oft messen und prüfen. Damian sah wohl ein, daß er bei dieser Aufgabe einer Gleichung mit viel zu vielen Unbekannten gegenüberstand, als daß er sie auf seiner augenblicklichen Lebensstufe lösen könne. Daß er sich in seinem idealistischen Streben schließlich doch nicht beirren ließ, war freilich nur zum geringsten Teil das Ergebnis seines eigenen Widerstandes. Dazu verhalf ihm vor allem derjenige Teil seines Wesens, der Sessi gehörte. Erst jetzt in Breslau ermaß Damian ganz und genoß es in tiefen Zügen, was Sessi ihm in jenen für ihn so beschwerten Ferienwochen durch ihre Aufgeschlossenheit und Anteilnahme an seiner seelischen Bedrängnis geholfen und in ihm zurechtgerückt hatte.

Auf eine echt damiansche Weise verwandelte sich ihm eines Abends die ganze Weit, als er, schon ein wenig überdreht von der geistigen Mühle des Tages, in dessen Verlauf er durch gut ein halbes Dutzend verschiedener Lernstoffe getrieben worden war, vor dem Schlafengehen rasch noch, wie es seit Jahren seine Gewohnheit war, das Datum des beendeten Tages von seinem Wandkalender riß, um das kleine Gedicht auf der Rückseite zu lesen. Wie oft hatte er auf diese Weise nicht schon seinen Tag mit einem Fund beschlossen, der ihn so beglückte, daß er, der Verse leicht behielt, von ihnen gleichsam zu sich selbst zurückgeführt, sie mit in seinen Schlaf hinübernahm. An diesem Abend entdeckte er auf dem Kalenderblatt die Verse:

»Wünsche sich mit Wünschen schlagen,
Und die Gier wird nie gestillt.
Wer ist in dem wüsten Jagen
Da der Jäger, wer das Wild?

Selig, wer es fromm mag wagen,
Durch das Treiben dumpf und wild
In der festen Brust zu tragen
Heil'ger Schönheit hohes Bild.«

Sie trafen ihn mitten in sein Herz und lenkten seine Gedanken bald mit beinahe magischer Gewalt dem Bilde Sessis zu, das ihm im Geschirr des Tagespensums wieder einmal fast entglitten war. So übermächtig ergriff es Damian, daß jenes süße Lied aus seinen Kindertagen, das Sessilied, in ihm aufzuklingen begann, das sich ihm auf unbegreifliche Weise einst wie in einem wachen Traum zu Worten gefügt hatte, darin er mit tiefem Erschrecken erkannte, daß sie in Form gereimter Verse aus seinem Munde kamen. Und wie dieses herzensgeheime Sessilied jetzt in ihm aufblühte, sprach er es abermals inbrünstig und andachtsvoll versunken wie ein Gebet, schon auf sein Lager hingestreckt, vor sich hin in die Stille der Nacht:

»Versunken ist die dunkle Nacht,
Und was von fernher glüht und blüht,
Das ist die sel'ge Zaubermacht,
Die himmlisch leitet mein Gemüt.«

Da geschah ihm, an der Schwelle des Schlafes, daß er von den Bildern seines Inneren zurückgeführt wurde in die hohen Stunden jener Begegnung mit Sessi am zweiten Weihnachtsfeiertage in den Ferien, da sie gemeinsam in den klaren Wintertag an den Teichen vorüber nach Grandorf hinausgewandert waren.

Leibhaft sah Damian Sessi hoch und schlank neben sich schreiten, nein, wie in einem schwebenden Fliegen, das Vögel selig macht, die in erdentrückte Höhen gestiegen sind und in ihrem Flug ihre Daseinsseligkeit kosten. Sie trafen unterwegs nur wenige Menschen, meist einfache Leute aus dem Volke, aber Damian wunderte sich nicht darüber, daß sie betroffen stehenblieben. Er wußte, daß jedermann in Wilkau, der Sessi das erstemal begegnete, das gleiche widerfuhr, und auch, daß man ihr wie einem Rätsel nachstarrte, auch wenn sie schon lange vorüber war, um schließlich wie über etwas Unbegreifliches unter beglücktem Lächeln den Kopf schüttelnd den Weg fortzusetzen. Jetzt hörte er sich zu Sessi sprechen, die ihn mit keinem Wort unterbrach, bis er sich alles, was ihn bedrängte, vom Herzen geredet hatte, und ihm nur von Zeit zu Zeit das Gesicht zuwandte, aus dem ihm ihre dunklen großen Augen entgegenblickten. Darin glänzte es von einer stillen schwärmerischen Lebendigkeit, zugleich aber lag eine melancholische, etwas skeptische Tiefe in ihnen, wie sie sonst nur weit älteren Menschen eigen ist, die durch eine nie wiedergutzumachende Enttäuschung gegangen, wovon sie zwar schwermütig, aber weise geworden sind.

Als Damian endlich schwieg, nahm Sessi nur seine Hand und drückte sie ihm stumm, als wolle sie ihm sagen, wie gut sie ihn verstanden habe. Mit keinem Wort jedoch ging sie, wie Damian es erwartete, auf seines Vaters Lebenszerstörung oder auf die Selbstvorstellungen ein, mit denen sich Damian unter dem Eindruck der väterlichen Lebensansichten im Kampf mit seinen eigenen Idealen am lichten Tag herumschlug wie mit Nachtmahren. Statt dessen vergalt sie den Ausbruch der Gefühle ihres Freundes, während sie Hand in Hand weiterschritten, mit einer Damian gegenüber noch niemals bezeigten Offenheit über die triste, wenn nicht gar tragische Welt, in der sie seit ihrer Kindheit wie gefangen lebte und aufwuchs, ohne daß es abzusehen war, wie sie sich jemals aus ihr würde befreien können. Hätte sie sich nicht mit den Jahren immer bewußter eine innere Welt als Insel aufgebaut, an die das Unglück ihres Vaters und das Leid ihrer Mutter nur wie die Brandung des Meeres ans felsige Ufer emporlecken und nagen konnte, sie wäre schon hundertmal davongelaufen. Freilich, das müsse sie zugeben, ohne ihre Mutter Leonie wäre es ihr wohl kaum gelungen, sich auf diese Insel zu retten. Denn sie sei es gewesen, die es wenigstens versucht habe, ihr einen Weg zu weisen, um festen Boden unter die Füße zu bekommen. Leider sei es allerdings der Mutter selbst nicht aufgegangen, daß der Weg, den sie ihr zeigte, nur erst ein Umweg war, oder aber, sie wollte und konnte den einzig wahren Weg nicht einschlagen, weil sie schon nicht mehr jung genug war, mit alten Traditionen und Vorurteilen zu brechen. Wahrscheinlich sei das auch nur ganz jungen Menschen möglich. Sessi zögerte eine Weile, ehe sie weitersprach:

»Weißt du, lieber Damian, was Mutter mich zu lehren versuchte? Nur, wer adelig, selbstverständlich adlig von Geburt sei, könne sich über die Widrigkeiten und die Niedrigkeiten des Lebens erheben und es meistern. Ich aber habe, seit ich auf dem Rehberger Lyzeum Goethes ›Iphigenie‹ und dann zu Hause alle seine Gedichte gelesen habe, nur das Göttliche im Menschen, wie es Goethe verstanden und gelehrt hat, zu meiner Insel erkoren; jenes Göttliche, das erst den edlen Menschen ausmacht, ob er nun adlig ist von Geburt oder nicht. Den unbekannten höheren Wesen, die wir ahnen, können wir selbst nahekommen und ihnen gleichen, wir dürfen uns nur durch nichts, aber auch gar nichts von dem rechten Wege abbringen lassen und in keinem Augenblick die hohe sittliche Forderung vergessen: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!«

Sessi redete das alles und noch manches der Art scheinbar mehr zu sich selbst als zu Damian, so als wenn sie sich selbst an ihren Worten ins Hohe und Lichte emporschwinge. Auf Damian aber wirkte dieser Gefühlsausbruch Sessis, als löse sich währenddessen der Krampf seines eigenen Inneren. Seine Augen begannen zu leuchten, und ergriffen von der Verschwisterung ihrer Seelen in dem gleichen höchsten Ziele ihres Erdendaseins fand er auf dem Heimweg den Mut, Sessi, die es in schwacher Abwehr geschehen ließ, zu umarmen und ihren verschwiegenen Bund mit einem Kuß auf ihre Lippen zu besiegeln.

Das Letzte, was Damian an diesem Abend schon mit geschlossenen Augen und doch noch wachen Sinnen von sich selbst und der Welt empfand, ehe ihn der Schlaf umfing, war der unsagbare Wohlgeschmack dieser Mädchenlippen, kühl und rein wie frischer Schnee und köstlich herb und süß wie eine Bitterkirsche.


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