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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Nathanael Maechler lebte nach dem Tode seiner Frau, dessen wahre Ursache niemand in Wilkau erfuhr und die auch dem einzigen Sohn immer verborgen blieb, noch zwanzig Jahre. In einer Grambetäubung, die wie ein rätselhaftes Irresein ihn gefangenhielt, ging die Beerdigung Lottes an ihm vorüber. Er stand am Grabe, mehr einer leblosen Steinfigur als einem lebendigen Menschen ähnlich. So verstört war er, daß es den Anschein hatte, er begreife von allem nichts. Als ihm der alte Pfarrer Kelvel das Holzschaufelchen reichte, damit er die drei Krumen Erde zur ewigen Ruhe auf den Sarg seines Weibes schütte, erhob er verneinend die Hand, sah ratlos die Grabbegleitung an, die fast den ganzen Kirchhof füllte, und ging dann durch die Menschen, die ihm erschrocken auswichen, weil sie glaubten, er habe vor Schmerz den Verstand verloren. Er ging leicht taumelnd dahin und schob ohne ein Wort alle zur Seite, die liebenswürdig auf ihn eindrangen. Eine entfernte Verwandte seiner Frau, die aus Hohenfriedeberg herbeigeeilt war, wo sie verwitwet lebte, ahnte den Zustand des aus den Angeln gehobenen Mannes, folgte ihm stillschweigend, und als Maechler nach dem Verlassen des Kirchhofes einen Weg ins Feld hinaus einschlagen wollte, schob sie schonend ihren Arm unter den seinen.

»Nein, nein, Herr Maechler«, sagte sie einfach, »dahinaus geht's nicht. Kommen Sie nur. Ich weiß das besser.« Der Gerber lächelte leer und ließ sich gehorsam wie ein Kind in sein Haus auf der Feldgasse führen. Dort saß er versunken auf der Bank und mühte sich, die Fingerspitzen seiner Hände genau aufeinanderzupassen, und da sie immer wieder abgeglitten, legte er die weit auseinandergebreiteten Finger der Hände auf die beiden Oberschenkel und musterte sie mit einer Aufmerksamkeit, die sich durch nichts stören ließ. Da sah die liebe, einfache Ferntante aus Hohenfriedeberg ein, daß sie den Mann, der entweder für eine Zeit oder immer ein Verschollener seines zusammengestürzten Inneren sei, nicht verlassen dürfe, und nahm entschlossen die Leitung des Haushaltes in die Hand.

Maechler kümmerte sich um nichts, saß herum, legte sich, wo man ihn hinbettete, und war auch, wenn er nicht das kindhafte Händespiel betrieb, von dem unbegreiflichen angestrengtesten Lauschen in sich hinein gebunden. Dieser Zustand dauerte vierzehn Tage. Da verließ er an einem Vormittag das erstemal das Haus, ging über die Feldgasse in das schmale Ziergärtlein, das er für Lotte an Stelle des alten Werkplatzes errichtet hatte, trug die Bank an den Ufersturz des Heidewassers und versank nach dem Niedersitzen in den Anblick der unter ihm vorüberspielenden Wellen. Nachdem er wohl eine Stunde und länger das endlose Vorbeiwandern des Wassers betrachtet hatte, begann er, Blätter und Zweiglein von den Sträuchern zu zupfen, die er in den kleinen Fluß warf und beobachtete, wie sie von den Wellen auf Nimmerwiedersehen fortgeführt wurden. Dann trug er die Bank an ihre alte Stelle unter den Fichten, brach von den kleinen Blumenbeeten einen Strauß der schönsten Blüten, kehrte in sein Haus zurück und traf die gute Frau im Flur, die mit einem Topf in die Wohnküche wollte und vor seiner aufrechten Haltung und dem entschlossenen, fast drohenden Ausdruck des Gesichtes erschrak.

»Nein, nein, fürchten Sie sich nicht«, sagte er ruhig, »ich habe nur eine Frage an Sie zu richten, wegen der ich um Verzeihung bitten muß. Denken Sie, liebe Tante, ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen.«

»Nu, Herr Maechler ...«

»Nein, nicht Herr, um Gottes willen nicht! Wer unter allen Menschen ist Herr?« unterbrach er sie.

»Nu, ich bin halt die Kusine der verstorbenen Frau Wennrich und heiße Hollmann.«

»Ja, Frau Hollmann, wenn es sich irgend machen läßt, so bitte ich Sie, für immer bei mir zu bleiben. Das Schlimmste ist, denke ich, nun bei mir vorüber. Haben Sie also weder Sorge noch Furcht. Ich habe nun noch notwendig in unserem Niedenführhause zu tun. Vielleicht nimmt mich das lange in Anspruch. Rufen Sie mich aber nicht. Wenn ich fertig bin, komme ich von selbst.«

Dann ließ er sich eine Vase mit Wasser geben, steckte die Blumen hinein und entfernte sich in das Haus der verstorbenen Jungfrauen, wo Lotte so oft den Glanz ihrer Kindheit genossen hatte.

Als Maechler am anderen Morgen wieder im Hause erschien, war sein Gesicht von der langen Schmerzkasteiung wohl noch bleich und gefurcht, aber gesammelt und entspannt. Er nahm ruhig mit Frau Hollmann und Jochen das Frühstück ein und erkundigte sich bei dem Jungen, der ängstlich und bekümmert war, liebreich nach dem Stand der Arbeit in der Gerberei, brachte es aber nicht fertig, ihm ins Gesicht zu sehen. Nachdem er mit dem alten Gesellen, aus dem das Schicksal des Hauses die sonnenbrüderliche Trottelei über Nacht vertrieben hatte, den ganzen Betrieb durchgegangen, begab er sich in das Gemeindehaus und übernahm von seinem Vertreter, dem Maurermeister Wohlseck, wieder die Verwaltung.

Einige Tage später reiste er nach Görlitz zu einem ihm befreundeten Gerbermeister, auch einem Nachkommen der vertriebenen Böhmischen Brüder, und brachte Jochen dort als Lehrling unter, denn der Anblick seines Jungen riß ihn immer wieder in die Finsternisse des Schicksals, von dem er heimgesucht worden war.

Vor seiner Übersiedlung nahm er seinen Sohn beiseite und sagte zu ihm: »Siehst du, lieber Jochen, unser Betrieb ist in Unordnung geraten und stark zurückgegangen, und ich weiß nicht, ob er so bald wieder in die Höhe gebracht werden kann. Deswegen mußt du in das große, blühende Geschäft meines Freundes, um nicht Zeit zu verlieren. Außerdem, mein lieber Junge, der Tod, der Tod ist noch zu dunkel über mir, und ich wäre für dein zartes Gemüt nicht der rechte Vater und Meister.« Da überwältigte es den starken Mann. Er riß den Jungen an sich und umarmte ihn so leidenschaftlich, daß dem armen Jochen fast die Sinne vergingen. Plötzlich ließ er ihn fallen und ging flüchtend aus der Stube, in der dieser erschütternde Abschied vor sich ging, denn Maechler fühlte, wie sein Gesicht von Tränen überströmt wurde. Nach dem Fortgang Jochens ließ er die Kammer, die er zu Anfang als eingewanderter Gesell bewohnt hatte, zu einer Stube ausbauen und richtete sich dort nach der Art eines Junggesellen ein. Dann drängte er sich immer stärker und ausschließlicher aus der Enge des mehr und mehr versickernden Handwerksbetriebes in die gemeinnützige Wirksamkeit für den Ort. Der Bau der neuen Wasserleitung wurde von ihm mit aller umsichtigen Energie betrieben, aus der aber nun jede Härte, jede Leidenschaft geschwunden war. Seine Kraft war Güte und seine Güte gelassener Ernst. Obwohl sich der Anlage manche unvorhergesehene Schwierigkeiten entgegenstellten, die ihre Vollendung verzögerten, ging der Bau ohne Reibung weiter, seit der Gastwirt Kammel freiwillig aus dem Gemeinderat ausgeschieden war und sein giftiges Mundwerk nur noch im eigenen Hause in der Gesellschaft ihm ergebener Tischdrücker gehen ließ. Kurz nach Beendigung der neuen Wasserversorgung brach in jener Gegend eine Typhusepidemie aus, die in den am Zacken gelegenen Ortschaften, besonders in Trennsdorf unterm Ägster und in Scherichsdorf, viele Opfer forderte. Wilkau blieb fast ganz verschont. Nur Kammel und seine Frau erlagen der Krankheit. Denn der Gastwirt hatte den Anschluß seines Hauses an die Leitung verweigert und in verblendeter Gegnerschaft das Verbot Maechlers lachend in den Wind geschlagen, das verseuchte Wasser des Zacken zu Trink- und Kochzwecken zu verwenden. »Ich werd's den Gemeindeeseln beweisen, daß das Wasser, das Gott laufen läßt, so gut ist wie jenes, das man verrückterweise in Rohre einsperrt«, prahlte er im Kreise seiner Kumpane. »Verseucht, sagt der hergelaufene Gerber. Sein Schädel ist verseucht, sonst nichts.« Danach verfuhr der von Feindseligkeit Umnebelte auch und schöpfte nach wie vor großsprecherisch und spottend das Wasser des Zackens, bis ihn und seine Frau die Krankheit anfiel, niederwarf und in kaum einer Woche auslöschte. Maechler war unter der geringen Grabbegleitung, die bei der Beerdigung seines unversöhnlichen Feindes hinter dem Sarg herschritt. Nachdem die Schollen in die Grube gefallen waren, kehrte der Gerber nicht in sein Haus zurück, sondern ging hinaus auf das Feld, wandelte lange zwischen den Teichen umher und betrachtete das Riesengebirge, das ihn nicht mehr bedrohte und erschreckte wie früher, da die Dunkelheiten seines Lebens noch ungesühnt auf ihm gelastet hatten. Nun war es ihm ein tiefsinniger, ergreifender Wegweiser aus seiner immer noch verborgenen umwölkten Einsamkeit in eine Höhe über aller Welt geworden, und er rang und sehnte sich danach, daß jenes Lichtreich, jenseits aller Berge und Nöte der Erde, das er einst durch den Glauben seiner Kindheit besessen hatte, wieder in ihn einkehre. Wohl erhoben und gestärkt, aber noch nicht befreit, kehrte er wie immer in stiller Versunkenheit in sein Haus auf der Feldgasse zurück.

Als die Epidemie ganz erloschen war, beging man die verschobene Einweihung des neuen Wasserwerks auf das feierlichste durch einen Dankgottesdienst in beiden Kirchen und einen festlichen Umzug. Maechler sprach wenige, einfache Worte des Dankes an alle, die an der Vollendung des Werkes treu mitgeholfen hatten, das zum Segen des Ortes und dem Gedeihen seiner Bewohner nach mancherlei Mühen glücklich vollendet sei. Er trat vollkommen zurück und wehrte mit wehem Lächeln die einmütigen Lobeserhebungen ab, die man auf ihn, als den eigentlichen Schöpfer des Baues, häufte. Und als am Ende der Feier der Maurermeister Wohlseck ihm die Urkunde überreichte, durch die die Gemeinde ihm und seinen Nachkommen zu immerwährendem Nießbrauch ein Gartengrundstück mit dem Blick auf das Gebirge schenkte, traten dem erblaßten Maechler die Tränen in die Augen, und er konnte vor Ergriffenheit nur einige Worte des Dankes stammeln. Freilich überzeugte er sich nach einiger Zeit, daß die guten Leute in der Aufregung vergessen hatten, die Bodenparzelle im Grundbuch als Gemeindeeigentum löschen und auf ihn übertragen zu lassen. Er tat aber keinen Schritt, diese Unterlassung zu beheben, um dem Verdacht der Habsucht zu entgehen, und weil er in jener Zeit schon in die lächelnde Gleichgültigkeit irdischen Dingein gegenüber einmündete.

Der Deutsch-Französische Krieg von 1870 und 1871 brauste als ein fernes Gewitter an ihm vorüber, das ihn wohl bewegte, aber nicht mehr in neue Hoffnungen hinaufriß. Er hatte mit seiner leidenschaftlichen Hingabe an den Glauben der Höherzüchtung des Menschenwesens durch günstige Umgestaltung der Daseinsbedingungen zu oft in seinem Leben Schiffbruch nicht nur an anderen, sondern sogar an sich gelitten, daß er die Freude und Begeisterung des Volkes über den herrlichen Waffensieg und die machtvolle Einigung Deutschlands wohl nicht ablehnte, aber auch nicht mehr von ihr fortgerissen wurde. In seiner Rede bei der Siegesfeier warnte er sogar vor einem Überschwang der Hoffnungen und vor übertriebenen Erwartungen. Dieser Sieg, sagte er, sei nur zu einem Teil die Erfüllung eines jahrhundertealten Traumes der Deutschen. Im tiefsten sei er die eindringliche Mahnung an jeden einzelnen, in sich selbst einig, rein und stark zu werden nach den Forderungen des göttlichen Urgrundes unserer Natur, weil sonst die Macht des geeinten Reiches einem Haus gleiche, das auf fließendem Wasser oder mahlendem Sand stehe.

Die Wilkauer hatten zu oft Maechlers Appell an die Selbstverantwortung der Persönlichkeit vernommen und wurden davon nicht sonderlich berührt, da sie diese immer wiederholte Mahnung für eine fixe Idee des früh alternden Mannes hielten. Aber sie überhörten die tiefe Wandlung der Überzeugung, die nach seinen Worten in ihm vorgegangen war. Früher hatte er vom Wohlsinn und der unbedingten Redlichkeit des Bürgers als der Grundlage für sein und des Staates Glück gesprochen. Nun war ihm durch die Schicksale seines Lebens die Einsicht aufgedrängt worden, daß alles äußere Glück Wind und Gefahr sei, wenn es nicht aus der Verbundenheit mit dem unaussprechbar göttlichen Sinn seines tiefsten Inneren steige und in ihn zurückmünde.

Nach dem lahmen Beifall, den seine Rede bei der Siegesfeier gefunden hatte, verließ er leise lächelnd den Festtrubel, begab sich auf das ihm geschenkte Grundstück, das er »Berggarten« getauft hatte, und ließ sich, auf einem verborgenen Bänklein sitzend, von dem himmelssüchtigen Gebirge weiter einem, außerweltlichen Reich entgegenführen, das aus seiner Seele in sein Leben drängte.

So pilgerte er in stillen Stunden jahrelang der Gnade entgegen und erlahmte dabei nicht in der Sorge für das Wohl des Ortes, ein untadeliger Mann, der in allem dem rechten Recht zustrebte, mußte es aber trotzdem erdulden, daß die Schatten seiner dunklen, schicksalsschweren Vergangenheit in ihm nicht zur Ruhe kamen und sein Gemüt immer wieder verdüsterten.

Sein Geschäft verfiel mehr und mehr, und endlich stand es ganz still, da der weißhaarige Gesell eines Tages ohne Abschied verschwand, weil ihn die Sucht nach der Landstraße und dem freien, unbehüteten Schweifen unwiderstehlich gepackt hatte. Maechler lächelte wohl auch hier, aber schmerzlich und trauervoll. Der Herr haut weiter, sann er, und der alte Wennrich regt sich rächend wider mich aus dem Grabe, weil seine Tochter an mir gestorben ist, und die Finsternis wird noch mein Haus und mich fressen, wenn es mir nicht gelingt, sie aus mir herauszuschaffen. Denn einen neuen Gesellen einzustellen hatte auch keinen Zweck, weil es ja nichts mehr zu tun gab. So blieb für ihn nur der innere Weg zur Rettung aus dieser geheimen Pein übrig, gegen die er vergeblich ankämpfte, weil jedes neue Mittel gegen die Schatten sie wieder in neuer Gestalt vor ihm aufleben ließ. Jeder Hieb rief sie; jedes Ringen mit diesen Lemuren verstrickte den völlig ratlos gewordenen Maechler nur tiefer mit ihnen. Nach einem letzten Kampf im »Berggarten«, der vom Morgen bis an den Abend dauerte und mit völliger Ohnmacht endete, ging er doch den Weg, den sein Mannesstolz bisher zurückgewiesen hatte. Im Schutze der Dunkelheit trat er in das Zimmer des Pfarrers Kelvel, der an seinem Schreibtisch saß und im Schein der Lampe eifrig arbeitete. Beim Erscheinen Maechlers drehte sich der inzwischen zum Greise gewordene Geistliche um und schob die Brille in die Stirn hinauf, um besser sehen zu können. Denn der Besucher war nach dem leisen Gruß im Dunkel an der Tür stehengeblieben.

»Bitte, treten Sie näher«, sagte Kelvel gütig dringend, wartete aber die Ausführung seiner Aufforderung nicht ab, sondern ergriff die Lampe und ging mit ihr nach dem Tisch in der Mitte der Stube. Da erkannte er den Eingetretenen.

»Ah, Herr Maechler, das ist mir ja eine besondere Freude, Sie einmal bei mir zu sehen«, rief er glückhaft aufgeräumt, zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und lud ihn zum Sitzen ein.

Maechler nahm unentschlossen und zögernd Platz.

»Also, was bringen Sie, Herr Gemeindevorsteher, oder womit kann ich Ihnen dienen?« sagte er nach schneller Prüfung des vergrübelten, schwermütigen Maechlergesichtes etwas betroffen.

Aber der Besucher antwortete auch jetzt nicht gleich, sondern saß mit zugefallenen Augen eine Weile da.

Dann reckte er sich auf, sah den Pfarrer gerade und entschlossen an und fragte:

»Ich bringe etwas und will mir etwas von Ihnen holen, Hochwürden, aber nicht als Gemeindevorsteher und nicht als Mann, nein, nichts von alledem, sondern als Katholik.«

Ober das Gesicht des Pfarrers, den die Jahre aus der starren Unduldsamkeit und der konfessionellen Stößerei herausgeführt hatten, ging ein Glänzen.

»Soso«, sagte er liebreich, »nun, was ist es denn?«

»Kann ich beichten?« fragte Maechler ohne Umschweife.

»Jetzt?«

»Gleich.«

»Haben Sie das Gewissen erforscht?«

»Jahrzehntelang.«

Kelvel saß einen Augenblick sinnend. Dann erhob er sich rasch und sagte: »Gut. Verzeihen Sie, ich bin gleich wieder da.«

Damit verließ er das Zimmer.

Als er bald darauf im Chorhemd und der übergelegten Stola wieder erschien, riegelte er die Tür ab, um vor Störungen sicher zu sein, und Maechler, der sich mehr als dreißig Jahre von allen Gnadenmitteln ferngehalten hatte, riß alle Furchen seines Lebens auf, von dem Tage an, da es ihn in die tollen Wirbel der Revolution gerissen hatte, bis zu der Nacht, da Lotte von den Finsternissen aus der Welt geschlagen worden war. Nichts verhehlte und beschönigte er, keine Falte seines durchwühlten Innern ließ er in Verborgenheit.

Und als er zwei Stunden später nach empfangener Absolution in einem Zustand seliger Erschöpfung sich erhob, begleitete ihn der Pfarrer wie ein beglückter Vater bis an die Treppe.

Am andern Morgen empfing Maechler in der Frühmesse die Kommunion.

Seit dieser Zeit hatten die Schatten seiner schwerein Vergangenheit keinen Fug mehr über ihn. Sie waren wie von einer außerweltlichen Sonne aufgesogen.

Ja, er konnte sogar seinen Sohn Jochen wiedersehen, ohne von Selbstvorwürfen und Gram bedrängt zu werden. Der kam nun öfter zu seinem Vater von Görlitz herunter, wo er noch in derselben Gerberei, jetzt als Leiter des ganzen Betriebes, arbeitete.

Obwohl er im Laufe der Jahre sah, wie sein Vater immer mehr und mehr zerfiel, zögerte er doch noch, nach Hause zu kommen, weil er seiner Geliebten, der Tochter eines reichen Sattlers und Riemers, noch nicht ganz sicher zu sein glaubte.

Eines Tages fand er den alten Vater bei seinem Eintritt am Tisch sitzen. Statt, wie es seine Art war, ihm entgegenzugehen, verharrte er, erschüttert lächelnd, auf seinem Platz, und als ihn Jochen bekümmert fragte, was ihm sei, antwortete er, daß er gestern sein Amt niedergelegt habe, da er fühle, daß er den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Da sah Jochen, daß seinem Säumen ein Ende gemacht werden müsse und drang in sein Mädchen, nun mit ihrem Versprechen ernst zu machen. Noch im Sommer desselben Jahres führte er sie in das Gerberhaus auf der Feldgasse.

Nathanael Maechler lebte als Ausgedinger in dem Hause, in dem jetzt der andere Geist seines nun werktüchtigen Sohnes herrschte, betreut von der Schwiegertochter, einer kernigen, festen, immer heiteren Frau, zu der der Alte oft zu einem besinnlichen Plausch aus seinem Dachstübchen herunterkam. Wie bei allen Greisen, sank auch in dem früh gealterten Maechler alle vergangene Wirklichkeit mehr und mehr in Traumfernen hinaus, und es gab sogar Stunden, in denen ihm sein ganzes Leben wie ein Irregehen erschien. Dann saß er länger als sonst auf dem Bänklein, das er sich eigenhändig in dem kleinen Hinterhöfchen neben ein winziges Blumenbeet gebaut hatte, oder strich, vor sich hinmummelnd, um die Lohtonnen, bis es ihm gelang, dem Schattenhauch zu überwinden. Dann blühte das abendrote Glück in seinem Herzen auf, da er Lotte mit den flimmernd großen Augen unter dem Strauch das erstemal an sich gerissen hatte. Oder er ging, wenn das Lebenszwittern, wie er es nannte, über ihn kam, in den »Berggarten« und erheiterte und erhob seinen Geist durch den Anblick des nun entsühnten Riesengebirges und die Schau über den Spiegel der himmelssüchtigen Teiche zu der alten, weitgeschwungenen Altersgüte.

Eines Tages blieb er länger als sonst draußen. Das Mittagessen war längst überfällig, und die junge Frau hatte schon einigemal die Feldgasse hinauf Ausschau nach ihm gehalten, aber immer vergebens. Als sie schon beunruhigt mit Jochen in der Stube beriet, was zu machen sei, hörten sie jemand das Vorgartenpförtchen aufklinken und eilig zuschlagen und meinten, es sei Maechler, der so ungewohnt zurückkehre. Aber da stürzte ein fremdes, greisenhaft zusammengeschrumpftes Männchen in die Stube, weißköpfig und abgemagert, ließ die Tür, durch die er gestürmt war, angelweit offenstehen, sah sich mit entgleisten Augen ratlos in der Stube um und schrie dann mit ausgemergelter Stimme keuchend:

»Wo ist der Herr? Ich sah einen großen Vogel in der Luft sterben und doch weiterschweben, ein Licht erlöschen und weiterschimmern. Wo ist der Herr?«

Nachdem er diese Worte in Absätzen hervorgestoßen hatte, sah er sich wieder ratlos in der Stube um und begann dann schluchzend zu weinen.

Die beiden sahen, daß sie es mit einem Irren zu tun hatten, kannten aber Ignaz Wildner, der es war, nicht, weil er sich jahrzehntelang von Wilkau ferngehalten hatte.

Die Frau schob ihm einen Stuhl hin, weil er vor Müdigkeit taumelte, und bot ihm einen Teller Essen an. Er achtete ihrer nicht, schluchzte weiter und ging dann ohne Gruß fort. Man sah ihn auf der Sandbrücke stehenbleiben. Nachdem er lange in Sinnen versunken über das Geländer gelehnt hatte, spuckte er ins Wasser und verlor sich dann in den Häusern von Scherichsdorf.

Jochen Maechler eilte, von dem Vorfall in ahnungsvolle Angst getrieben, wie er ging und stand, fliegenden Schrittes in den »Berggarten« hinaus, kam aber schon zu spät. Sein Vater kniete zusammengerutscht vor der Bank, das Gesicht in die gefalteten Hände gedrückt. Der Tod hatte ihn beim Gebet überrascht.


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