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Zwölftes Kapitel

Aber das ist ja das Eigentümliche im Aufbau und der Weiterentwicklung der Familien, daß die Töchter nicht oft die Wesensart ihrer Mutter erben und die Söhne von Grund aus ihren Vätern unähnlich sind. Jochen Maechler griff das Leben anders an wie sein Vater Nathanael. Und soviel sich jener Mühe gab, seinen Damian sozusagen vom ersten Tag an nach seinen Grundsätzen zu bilden und aus ihm auch einen einfachen, tätigen Erben und Nachfolger in seinem Handwerk zu machen, es gelang ganz und gar nicht. Von Kind auf hing das Herz Damians an tausend bunten Träumen. Den großen, blauen Augen des zarten Knaben, die bei aller Klarheit in der letzten Tiefe der Iris wie von einem weltfremden Rausch erfüllt waren, malte sich das Leben offenbar ganz anders wie den übrigen Menschen. So geschah es, daß er eines Morgens sein Frühstück in einer noch verzauberteren Verschollenheit, mit einem noch ferner hinzielenden Blick zu sich nahm und von seiner Mutter durch keine munteren Anregungen aus der unerklärlichen Entrücktheit gelockt werden konnte, so daß Christine endlich von ihren Bemühungen abließ und dem eigenartigen kleinen Menschlein mit verwundertem Lächeln und doch auch mütterlichem Stolze nachschaute, wie es versonnen und mit feierlichem Beinheben über die Haustürschwelle dem Vorgärtchen zustrebte, das Weglein, gleichsam meditierend, hinging und dann vor einer roten Mohnblüte stehenblieb, die in der stillen Sonnenluft regungslos über dem Beet hing. In einem solchen wunschlosbeglückten Verzaubertsein, wie es nur Pflanzen können, war die Blüte gebannt – als schlafe sie. Und nachdem der kleine Damian in der ersten Verblüffung über solch vollkommene Ruhe einen Augenblick stutzend stehengeblieben war, näherte er sich behutsam auf den Zehenspitzen der Mohnblüte, als schleiche er an ein träumendes Wesen heran, und rief dann, die Arme ausbreitend, »Husch!«, so wie man etwa Tauben aufscheucht. Als aber die Mohnblüte nicht wie ein erschreckter Vogel aufflog und bunt davongaukelte, sondern regungslos dahing wie vorher, bückte sich das Gerberjunglein zu der Blume und liebkoste sie mit dem zartesten Streicheln, als bitte er um Verzeihung, sie erschreckt zu haben. Solcherlei unbegreifliche Merkwürdigkeiten blühten aus dem kleinen Damian immer wieder, und der erstaunten Mutter erschienen sie wie ein Wunder so, als spiele er noch mit Engeln, oder der Himmel, aus dem doch alle Kinder kommen, überschimmere ihn von Zeit zu Zeit wieder, weil er das Knäblein besonders liebte. Auf diese Weise wurde es ihr auch klar, warum Damians Geburt so schwer gewesen und beinahe in den Tod übergegangen war. Weil eben der Himmel ihn der Erde nicht gegönnt hatte.

Darum hätschelte Christine den Kleinen noch inniger und störte, wenn es nur immer ging, nie seine versonnenen Spiele, die sich oft in ein Traumland verloren, zu dem die Erwachsenen nun einmal keinen Zutritt haben. Er sollte möglichst lange in dem Paradiese der Kindheit hausen, weil sie der Überzeugung war, daß sich das Leben der Menschen bis ins höchste Alter hinein aus den Quellen jener versunkenen Zeit immer wieder Verklärung aller Not und überirdische Sicherheit in dunklen Wirbeln trinke.

Jochen Maechler sah wohl auch lange Zeit diesen bunten Traum- und Wolkenfahrten seines Damian schmunzelnd zu, als er aber merkte, daß der Kleine ohne jedes Interesse an allem vorüberging, was nach praktischer Nützlichkeit aussah, wurde er nachdenklich und machte sein Christel darauf aufmerksam, daß man nun beginnen müsse, Damian auf der Erde anzusiedeln, da das Leben der Menschen doch nicht ein Spielen mit himmlischen Schäfchen, sondern ein verteufelt ernster Kampf sei, und wenn man nicht früh lerne, seinen Wagen zu kutschieren, so kriege man ihn nie sicher in die Hand und ende früher oder später mit zerbrochenem Gefährt in irgendeinem Graben. Christel gab der Besorgnis ihres Mannes recht, wenn sie ihr auch nicht das schmerzliche Gewicht einräumte wie der lebensmißtrauische Jochen. Vorerst kamen die beiden überein, den gleichaltrigen Reinhard Neefe öfter in das Gerberhaus zu ziehen, damit ihr Damian in Gesellschaft dieses turbulenten, wuschelhaarigen Kerlchens sozusagen eine festere Haut und härtere Hände bekomme. Dieser Gedanke ging eigentlich von Christine aus, die damit zu Agnete wieder in lebhaftere Verbindung zu kommen hoffte. Jochen willigte in den Vorschlag seiner Frau ein, trotzdem er fühlte, durch dieses läßliche Gewähren gegen den felsenfesten Vorsatz zu verstoßen, das Gerberhaus für immer gegen die Neefesche Sippe zu verschließen. Aber er beruhigte sich doch; denn was konnte so ein Junge schon groß machen, den man nur wie einen bunten Papierfetzen hereinließ, damit sein verstübelter Damian sich die versessenen Beine etwas gelenkiger springe. Und es ging auch alles nach Wunsch, die Blumenbeete wurden zertreten, Küchentöpfe gingen in Scherben, das Handwerkszeug wanderte aus, das Gartenpförtchen riß sich aus den Angeln und fiel auf die Straße, die beiden Abenteurer verschwanden auf Stunden irgendwohin, und Damian erschien allein mit zerrissenen Hosen und zerschundenen Händen. Aber wenn alles vorüber und wieder eingerichtet war, merkte man an Damian nichts von dem Flackern seines Gespielen, keine Ungebärdigkeit, keinen Trotz, nicht einmal versteckte Frechheit. Er sammelte wieder wie sonst still und vergrübelt merkwürdige Hölzchen, Steine, Blumen in besonderen Schächtelchen und Kästchen und sang leise dabei. Kam in solchen Stunden, da er in seinen geheimen Wassern untergetaucht war, Reinhard zu ihm, so hörte er wohl seinen unruhigen und krausen Schwätzereien und Verlockungen geduldig eine Weile zu, sagte aber dann sein leises unwiderrufliches »Ich mag nicht« und sah dem enttäuscht und ärgerlich Davongehenden mit abwesendem Lächeln nach.

Das beglückte den Gerber wohl im innersten Wesen, weil er sah, daß die beiden Jungen wie von einem Ableger der luftleeren Schicht auseinandergehalten wurden, durch die er und der Inspektor für immer getrennt waren, und daß kein Flämmchen von den unruhigen und versteckten Flugfeuern Reinhards in seinen Damian übersprang. Trotzdem konnten er und Christine sich dabei nicht beruhigen, denn das abseitige Träumen und gemütische Verschollensein hielt an, und so beschloß man, ihn durch Übertragung von kleinen Hilfeleistungen und leichten Arbeiten in das Leben einzuführen, wie es alle Menschen treiben. Er mußte Unkraut jäten, das Brennholz in die Küche tragen, den Weg rechen, dem Vater beim Werken zur Hand gehen, indem er dies und jenes zu- und abtragen mußte. Nach seiner sanften Art wehrte er sich nicht dagegen, verfiel aber nach kurzer Zeit in rastlose Trauer und brach oft, mir nichts, dir nichts, in fesselloses Weinen aus, das die Mutter bis ins Herz erschütterte, so unglücklich klang es, so erloschen und glanzlos war das Blau seiner großen Augen. Und überließ man ihn wieder seinen versunkenen Spielen, die er mit gesammelter Hingabe wie ein wichtiges Gewerbe trieb, so kehrte bald die alte schleierschöne Heiterkeit und die wohllautende Lebendigkeit in ihn zurück.

Am unzufriedensten über dieses aussichtslose Gewese seines Jungen war natürlich Jochen Maechler. Manchmal packte ihn richtiger ärgerlicher Unwille. Denn er brauchte einen einfachen, derben Gerber, nicht einen Vogel, einen Bastler oder Haftelmacher. Mit dem Schuleintritt Damians wurde es auch nicht anders. Denn nun gab es für ihn nur noch seine Schularbeiten. Sogar seine rätselhaft bedeutsamen Spiele versanken schnell um ihn. Die Kästchen, Schachteln und Päckchen mit ausgeschnittenen Bildern unter seinem Bette waren vergessen, und er saß achtsam wie ein fleißiger Mönch über der Schreibtafel, blätterte erstaunt in der Fibel, drängte jeden Morgen lange vor der Zeit ängstlich auf den Schulgang und hatte keine andere Sorge und Freude mehr wie die ihm vom Lehrer aufgetragenen Arbeiten, dessen Liebling er vorn ersten Tage an war.

So rückte Damian vom ersten in das zweite Schuljahr, immer am vordersten Platz, immer wach, gesammelt und voll eines lieblichen Ernstes. Mit seinem Kindheitsfreund, Reinhard Neefe, verkehrte er fast nur gleichsam amtlich, das heißt über die gemeinsamen Schulaufgaben hin, vor allem auch, seitdem er sich mit Leidenschaft einer neuen Liebhaberei hinzugeben angefangen hatte.

Der Lehrer der neuen Klasse war ein geschickter, handfertiger Zeichner, der es liebte, den Unterricht mit hingeworfenen Skizzen an der Wandtafel amüsanter, faßlicher und einprägsamer zu machen. Diese Zeichnungen von Pflanzen, Tieren, Gerätschaften oder Menschen bei besonderen Verrichtungen, beim Säen, Fahren oder Pflügen, machten auf Damian einen so tiefen Eindruck, daß er dem frisch draufloszeichnenden jungen Lehrer mit atemlosem Erstaunen zusah, ihn rückhaltlos bewunderte und begann, ganz im geheimen ihn nachzuahmen. Niemand, selbst nicht seiner Mutter zeigte er je etwas von dem, was er verborgen auf die Schiefertafel malte. Näherte sich die neugierige Christine dem versunken Strichelnden, so schrak er auf, wischte alles schnell aus und lief beschämt davon, nicht ohne nachher wegen seiner Ungezogenheit um Verzeihung zu bitten. Und da sie bei sich selber schon geraume Zeit zu der Überzeugung gekommen war, daß der Junge seinem innersten Wesen nach doch zu etwas anderem ausersehen sei, als in Tonnen nach Häuten zu fischen, kaufte sie ihm heimlich Papier und Buntstifte, allerdings mit dem Versprechen, sich nie und nimmer von dem Vater erwischen zu lassen. Ihrem Manne gegenüber spielte sie freilich die bekümmerte Mutter, weil sie merkte, mit welch drohendem Ernst Jochen an der Überzeugung festhielt, daß Damian, reiße es wohin immer, Gerber werden müsse, dies eine, sonst nichts anderes auf der Welt. Möge er sich jetzt noch eine Weile, na und wenn es sein müsse, bis zur Schulentlassung, mit dem Lern- und Schreibkram abgeben, was ihm natürlich nicht schade, dann aber pfeife er, das solle sie erleben, über die Schneide des zweigriffigen Messers, daß die Haare fliegen. Er, Jochen, habe seiner Mutter versprochen, auf der Tonne durchs Leben zu reiten, und er komme nicht, nach allem Überlegen, darum herum, daß dies Versprechen auch für Damian, seinen Jungen, gelte, der doch nichts anderes wie er selber, der Vater, sei, nur eben mit jungen Beinen. Christel antwortete nichts darauf, sondern legte ihre Frage nur in das überlegene Lächeln, mit dem sie ihn forschend von der Seite ansah, daß über den Gerber plötzlich die jähe Wut herfiel.

»So«, rief er zornig, »du lachst noch dazu?«

Damit hieb er seine riesige Faust wie einen Stein auf den Tisch, daß es krachte.

Und als die erschreckte Christine ihn ratlos anstarrte, was das denn zu bedeuten habe, sagte er noch immer kochend: »Jawohl, hier liegt meine Faust auf dem Tisch, und merk dir's Christel, sie öffnet sich nicht von selber. Nie, nie! So wahr mir Gott und meine Mutter helfe!«

Seine Stirn war eine einzige Wulst, seine Lippen waren blutleer und zitterten. Mit gesenktem Kopf saß er nach diesem Ausbruch der sprachlosen Christine gegenüber. Dann setzte er, ohne das Gesicht zu erheben, mit abgeschlagener Stimme hinzu:

»Wenn nicht ein Stärkerer über mich kommt, als ich selber bin.«

Und wartete auf seines Weibes Antwort. Als diese ausblieb, erhob er sich, sagte karg: »Gute Nacht, Christel«, und verschwand im Schlafzimmer.

Frau Maechler ging ihrem Manne nicht nach, sondern betrachtete ernst und großäugig die Jahre der gescheuerten Tischplatte, die vor langer, langer Zeit Jochen mit dem Daumennagel nachgefahren war. Danach nestelte sich aus ihrem Gesicht ein tiefes, unendlich gütiges Frauen- und Mutterlächeln. Sie erhob sich und stieg leise zu ihrem Damian hinauf in das kleine Mansardenstübchen, da er seit einem Jahre nicht mehr bei seinen Eltern schlafen konnte. Das Junglein schlief fest und hatte ein seliges Lächeln auf dem Gesicht.

Christine hauchte einen Kuß auf seine Lippen und stieg dann leise in das eheliche Schlafzimmer hinunter.


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