Karl Simrock
Der Rhein
Karl Simrock

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Pfarrturm

Zehn Jahre nach dem Ankauf des Römers wurde der Grundstein zum Pfarrturm gelegt; vermutlich hatte man also an den Abbruch des alten Rathauses nicht gehen können, bis ein bedeutender Bau zur Herstellung des neuen vorgenommen worden war. Zum Ausbau des Pfarrturms brauchte man gar an die hundert Jahre, und hernach war er noch nicht fertig. Nach dem ältesten Riß war ihm die Zierde einer Schlußpyramide zugedacht, von der Kirchner eine Zeichnung geliefert hat. Hierdurch würde seine Höhe, die jetzt schon 260 Werkschuh beträgt, noch 60 Schuh gewonnen haben. Statt der Pyramide, die wohl der Kosten wegen unterblieb, setzte man ihm eine runde Kappe auf, welche die Wohnung des Türmers enthält, der zugleich Turmglöckner, aber nicht Domglöckner ist. Damit hat es nach des Mannes Erzählung, wenn ich recht behalten habe, folgende Bewandtnis. Die Kirche ist katholisch, aber der Turm und seine Geläute nicht. Die Katholiken haben unten ihre eigenen Glocken. Lange Zeit hatten die Lutherischen diese Kirche innegehabt; bei dem Interim mußte sie den Katholiken zurückgegeben werden. Dies geschah auch, aber der Rat behielt sich den Pfarrturm vor, weil der Turm nicht Kirche sei. Man sieht, daß Goethe Recht hatte, zu sagen, das Interim habe den Schalk hinter ihm. Fragt man, wozu der Rat den Turm und seine Glocken brauche, so ist die Antwort: Zum Ein- und Ausläuten der Messen. Auf diese bezieht sich in Frankfurt alles; der Fremde muß sich daran gewöhnen, wozu er gute Gelegenheit hat, da er gleich im Römer auf Kramläden stößt.

Von der Galerie, die bei der Türmerwohnung um den Pfarrturm läuft, genießt man einen Anblick, der die Mühe des Ersteigens reichlich lohnt. Wir finden ein Panorama nicht bloß, wie wir erwarteten, von Frankfurt und seinen Umgebungen, sondern von dem ganzen unteren Maintal, welches das schön gegliederte Taunusgebirge malerisch begrenzt, indem es sich aus der Nähe des Rheins und des Mains herzieht und allmählich ansteigend immer mehr von beiden Flüssen entfernt. Sobald es, Frankfurt gegenüber, im Feldberg und im Altkönig seine Höhepunkte erreicht hat, senkt es sich, die gleiche Richtung fortsetzend, ebenso allmählich in die Wetterau hinab. Wir haben den rechten Ort gewählt, die reizenden Formen des Maintaunus zu bewundern, an welche Humboldt selbst auf der entgegengesetzten Seite der Erde vergleichend zurückdenken mochte. Um den Gesamteindruck eines Gebirges zu gewinnen, darf man sich ihm bekanntlich nicht zu nahe stellen.

Soll sich dir die Ebene zeigen,
Mußt du erst den Berg besteigen;
Das Gebirge recht zu sehn,
Rat' ich dir, ins Tal zu gehn.

Nur eine gewisse Entfernung gewährt den Überblick des Ganzen und jener sanften Umrisse, deren Wellenlinien in der Nähe ins Eckige und Rauhe übergehen. Auch in dieser Beziehung darf man Frankfurts Lage glücklich preisen. Für den Mangel eigentlicher Berge in seiner nächsten, ziemlich flachen Umgebung entschädigt es dieses immer reizende und lockende Gebirge, das nicht zu nahe liegt, um an Reiz zu verlieren, nicht zu fern, um vergebens zu locken. Man weiß, wie gern die Frankfurter Partien nach dem Feldberg veranstalten; sie können sich aber auch auf die näheren Vorberge beschränken; man wird Kronberg, Königstein und Falkenstein, die dort so freundlich von ihren Höhen herüberwinken, so wenig als das in seinen vier Tälern versteckte Eppstein besuchen, ohne überall auf Frankfurter zu stoßen, ja sie haben an den schönsten Punkten ihre Lusthäuser und Landsitze.

Es ist nicht allein das Taunusgebirge, das auf dem Pfarrturm den Horizont blau umsäumt. Während dieses sich von Westen nach Norden zu ziehen scheint (seine wirkliche Richtung ist von Westen nach Osten), sehen wir im Süden die Höhen des Odenwalds in zwei Gipfeln, die wir für die des Melibocus und des Ölbergs bei Schriesheim ansprechen, im Osten, wo der Main verschwindet, das Freigericht und das Vogelgebirge, im Südwesten endlich den Donnersberg in der Pfalz, dessen sargartige Gestalt ihn auch hier nicht verkennen läßt. Nun ziehen die Schlangenwindungen des gelben Mains unsere Blicke nach sich, und wie sie sich Sachsenhausen nähern, weilen sie gern bei seinen waldigen, nicht ganz flachen Ufern. Es ist der Frankfurter Wald, ein Teil des Dreieich, der hier den Strom begrenzt und Nieder- und Oberrad mit den vielbesuchten Vergnügungsorten Sandhof, Riedhof, Lovisa sowie das Wäldchen einschließt, die schattenreicher und darum mit Recht beliebter sind als die auf der rechten Mainseite.

Dahin kehren wir, nachdem wir das regsame Offenbach begrüßt haben, zurück, um die übrigen der Hoheit Frankfurts unterworfenen Ortschaften aufzusuchen. Den großen Flecken Bornheim, der nach Kirchner besser ist als sein Ruf, daher von diesem nicht viel zu halten sein mag, finden wir ganz in der Nähe, Hausen mit seinen Niddamühlen ist aber durch das kurhessische Bockenheim von dem übrigen Frankfurter Gebiet getrennt; noch einsamer liegen Niederursel und Bonames, während Niedererlenbach und Dortelweil sich wenigstens paarweise zusammenhalten. Das ist alles, was Frankfurt noch von der Grafschaft des Bornheimer Berges besitzt, die, zur Ausstattung seines Palastes gehörig, eine jener Reichspfandschaften war, zu deren Einlösung es ein Recht erworben hatte. Sie zu erzwingen, gebrach ihm aber die weltliche Macht; zwar das namengebende Bornheim, nicht aber der Hauptort, das dort zwischen Hügeln halb versteckte Bergen, ist ihm geblieben. V. Fichard meint indes, die Stadt habe zu ihrem Glück in dieser fruchtbarsten Gegend Deutschlands kein ausgedehnteres Gebiet erworben, weil sie dadurch früher oder später manchem Zwist mit den umgebenden Landesherren ausgesetzt worden wäre, ohne an eigentlichem Wohlstand zu gewinnen. Immer noch bleibt sein Territorium groß genug, den Vergleich mit manchem deutschen Fürstentum auszuhalten, wie denn gleich das benachbarte Hessenhomburg, dessen weißen Turm wir dort schimmern sehen, diesseits des Rheins kein größeres Gebiet besitzt.

Zwischen Hausen und Niederursel liegen Praunheim und Heddernheim, beide aus Trümmern des römischen Novus vicus gebaut, welchen jetzt das nahe Heidenfeld bedeckt. Das minder lebhafte Grün der Saat, die über den gegossenen Straßen der Römerstadt wächst, zeichnet in trockenen Sommern einen Grundriß derselben auf die Flur, der, aus der Vogelperspektive gesehen, deutlich genug ins Auge fallen müßte. Von der Saalburg bei Homburg, wo Drusus nach seinem Rückzug von der Elbe gestorben sein soll, lief eine Straße durch dieses von einigen sogenannte Castrum Hadriani und verband Mainz mit den Befestigungen am Taunus. Auch hier waren dem Mithrasdienst Tempel und Altäre geweiht; das Museum zu Wiesbaden bewahrt letzteren, wie den zu Neuenheim gefundenen die Heidelberger Bibliothek. Habel und Kreuzer haben sie beschrieben, wir verweisen dahin. Bekanntlich enthalten die Reliefs auf den Mithrasaltären immer dieselbe Darstellung: wer einen gesehen hat, hat sie alle gesehen, auch diejenigen, welche die Erde etwa noch birgt. Dies ist nicht so seltsam, als wenn Neuenheim bei Heidelberg eine Übersetzung von Novus vicus bei Frankfurt wäre.

Indem wir uns zu diesem zurückwenden, begegnen uns noch zwei seiner größten Sehenswürdigkeiten: die Rothschildsche Villa auf dem Weg nach Bockenheim und der neue Kirchhof zwischen dem Eschenheimer und dem Friedberger Tor. Das schöne Portal des letzteren könnten wir von unserem Standpunkt auch mit Hilfe des besten Fernrohrs nicht sehen, weil es uns nicht, wie jenes des dahinter liegenden jüdischen Begräbnisplatzes, die Front zukehrt. Das schönste Denkmal des christlichen würde uns doch kein Fernrohr zeigen, weil es die Bethmannsche Familiengruft verbirgt. Wem die Gelegenheit versagt ist, in diese hinabzusteigen, der bediene sich der 1837 erschienenen Zeichnungen.Bas-reliefs exécutés en marbre dans le caveau de la Familie Bethmann par le chevalier Thorwaldsen. Trois planches, lithographés par F. Leuchtweiss. Francfort s. M. Publiés par Charles Jugel, Libraire. Leider begleitet sie kein Sterbenswörtchen Text, und so wird uns die Aufgabe gestellt, Thorwaldsens unsterbliche Gedanken zu erraten. In dem Mittelbildnis ruht ein Sterbender auf einem Marmorblock, den Rücken an den abgewandten Genius mit der umgekehrten Fackel gelehnt, dessen rechte Hand, die Mohnhäupter haltend, über die Schulter des Schlummernden herabhängt, indem der Arm zugleich dessen Kopf zu stützen scheint. Vor dem Entschlafenden schreitet mit fliegendem Gewand eine kräftige Gestalt heran, welche dessen Rechte aufhebt, um ihm den Kranz des Nachruhms, aus Eichenblättern gewunden, in die Hand zu drücken. Die Gruppe auf dem Bild zur Rechten besteht aus drei Figuren, in welchen wir die trauernden Hinterbliebenen zu erkennen glauben. Die mittlere Figur, die sitzend die Hände zum Himmel streckt, möchten wir für die Gattin, die beiden Mädchen für die Töchter halten. Die eine kniet vor der Mutter und läßt den Kopf in ihrem Schoß ruhen, die andere, aufrecht hinter ihr, legt ihr die Rechte wie beschwichtigend auf den Rücken, mit der Linken den eigenen Kopf nachdenklich stützend. Schwieriger möchte das dritte Bild zu erklären sein. Die Muse der Geschichte, wenn nicht hier schon unser Irrtum beginnt, setzt den rechten Fuß auf das Rad der Zeit; auf ihrem Schenkel ruht die steinerne Tafel, die sie mit der Linken hält, während die Rechte den Griffel führt. Vor ihr gießt ein Flußgott Wasser aus einer Urne; in der Rechten scheint er ein Ruder zu halten, womit wohl auf die Schiffahrt gedeutet wird. Da ihn kein Weinlaub, sondern Ähren und Feldblumen krönen, so wird der Main, nicht der Rhein gemeint sein. Hinter Clio blickt ein Löwe, das Symbol der Kraft, hervor. Die Muse scheint also männliche Taten, die dem Handel am Mainstrom zugute gekommen sind, in den Stein zu graben.

Wir sind mit der Familie Bethmann zu wenig bekannt, um zu wissen, welchem ihrer Mitglieder dieses schöne Denkmal gilt. Moritz von Bethmann war es aber, der nach den Schlachten von Leipzig und Hanau Frankfurt aus einer großen Gefahr befreite. Schon hatte es den an der Spitze des deutschen Heeres einrückenden Herzog Karl von Bayern jubelnd begrüßt, als plötzlich der Kaiser erschien, um mit dem Rest seiner Truppen den Rückzug über Frankfurt zu nehmen. Der Donner des Geschützes hallte verderblich von Sachsenhausen herüber, welches die Bayern besetzt hielten, die Brückenmühle loderte durch französisches Feuer auf, während Napoleon in Bethmanns Landhaus am Friedberger Tor den Abgeordneten der Stadt die Gründe auseinandersetzte, warum sein Handelsgesetzbuch den Bankrott mit solcher Strenge ahnde. Endlich benutzte der Herr des Hauses einen Ruhepunkt im Gespräch, um Schonung für die Stadt zu erbitten und vorzustellen, wie zwecklos für das französische Heer und wie verderblich für Frankfurt die Fortsetzung des Geschützfeuers sei. »Berthier, faites cesser le feu!« war die Antwort des Kaisers, der nun um die Stadt herum seinen Abzug nahm.

In dem Häuser- und Giebelmeer der Stadt selbst zieht nichts so sehr den befremdeten Blick an sich als eine doppelte Reihe schmaler, schwarzer Häuser, deren schmutziges Ansehen der näheren Betrachtung wenig Sinnengenuß verspricht. Es ist die Judengasse, die doch ja niemand, der Frankfurt besucht, zu sehen versäumen möge; eine Frau ausgenommen, denn das schöne Geschlecht vermeidet mit Recht alles Unschöne, wäre es auch noch so charakteristisch. Goethe sagt von ihr in seinem »Leben«: »Zu den ahndungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in früheren Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tor vorbeigehend hineinsah.«

Zur Vollständigkeit des Bildes fehlt der Zug, daß die hohen, schmalen, schmutzigen Häuser von oben bis unten mit hölzernem, nicht ganz unzierlichem Schnitzwerk bedeckt sind, das aber auch durch Schmutz, Rauch und Ruß an der allgemeinen Widerwärtigkeit der ganzen Gasse teilnimmt. Was übrigens jetzt von ihr noch übrig ist, mag der kleinste Teil sein, denn bei der Bombardierung von 1796 gingen 150 Häuser in Flammen auf, an deren Stelle nur 23 wiederaufgebaut wurden. Unter diesen ist auch das Rothschildsche Haus, das noch jetzt von der Familie bewohnt wird. Freunde von Merkwürdigkeiten dieser Art werden es zu größerer Befriedigung aufsuchen als das Goethesche Haus in der Hirschgasse, welches seit dem Bau, den Goethes Vater während der Kindheit des Dichters vornahm, einen völligen Umbau erlitten haben muß, durch welchen es wesentlich verändert wurde. Die drei Leiern auf dem Wappen über der Tür, die in Wilhelm Müllers Schreibtafel als von dem heimgegangenen Dichter gewählte Gegenstände poetischer Bearbeitung aufgezeichnet waren und seitdem von anderen wirklich so behandelt worden sind, verlieren also ihre prophetische Bedeutung. In dem von Goethes Vater erneuerten Haus sprang bekanntlich jedes obere Stockwerk über das untere vor, das in dem gegenwärtigen nicht der Fall ist.

Indem wir hiermit den Artikel Frankfurt abschließen, fühlen wir wohl, wie unendlich viel Wichtiges wir unerwähnt lassen mußten. Daran sind aber Frankfurts Reichtum und die große Beschränktheit des Raumes Schuld. Bei einem so vielbesprochenen Gegenstand wünschen wir uns Glück, wenn wir nur einiges Neue gebracht haben.

 


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