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Hirsch Nr. 177

Im Fürstenwaldler Revier gibt es unter vielen anderen prächtigen Fleckchen auch ein äußerst romantisches, sich stellenweise schluchtartig verengendes Tal, die sogenannte »Wolfsau«. Links und rechts steigen die bewaldeten Berglehnen steil empor, und unten in der Talwiese schlängelt sich ein klarer, kühler Bach, in dessen Wasser sich muntere Forellen tummeln. Eigentlich sind es zwei Bäche, der Elm- und der Weißbach, welche hier, »am Zusammenfall«, ihre Wässer vereinigen.

Heilige Ruhe herrscht da jahrelang; ausnahmsweise erschallt aber auch hier die Axt des Holzhauers, denn der Forstmann muss trotz all seiner Liebe zum Walde und trotz aller Begeisterung für die Romantik desselben dafür sorgen, dass die Fichten und Buchen nicht in den Himmel wachsen. Die Baumeister und noch viele andere Leuten brauchen viel Holz, die schönsten Stämme werden endlich einmal überreif, und so kommt es eben, dass auch im Forste Poesie und Prosa manchmal hart aneinandergeraten.

So war es auch anno soundsoviel, als am rechtsseitigen Bergabhange der Wolfsau eine Partie abgeholzt, hergerichtet und verbucht wurde. Der Numerant Hupfer meldete mit laut tönender Stimme die Nummern, welche er mit seinem Schlägel anschlug, der Heger Wegbauer nannte ebenso laut die Maße der Stämme, und der Adjunkt Radler trug die Zahlen gewissenhaft in sein Büchlein ein.

»174! – 65, 40, 20!« erschallte es nacheinander, und »174, 65, 40, 20«, wiederholte Radler; dann kamen 175 und 176 an die Reihe, und eben holte Hupfer zu einem neuen Schlage aus, als ein Ereignis eintrat, welches der emsigen Tätigkeit der drei, vorläufig wenigstens, ein Ziel setzte. »Ein Hirsch!« rief nämlich Radler plötzlich und wies mit seinem Stifte nach dem gegenüberliegenden Waldrande hin. Im nächsten Augenblick verschwanden Buch und Stift in seiner Tasche, und mit einem Satz war er bei der großen »Kropffichte«, an welcher sein Kugelstutzen lehnte. Schon auf den Ruf hin ließ Hupfer den bereits erhobenen Arm sinken, Wegbauer schulterte seine Kluppe, und beider Augen folgten der angedeuteten Richtung. Und wirklich, von der gegenseitigen Berglehne herabsteigend, wechselte ein kapitaler Hirsch – es war ein Zwölfender – auf die Wiese hinaus, dem Wasser zu. Doch die Tritte des edlen Wildes waren unsicher, das Haupt desselben nicht stolz erhoben; schwankenden Trittes wie ein Träumender schritt er dahin, und als er das Wasser erreicht hatte, trat er wohl hinein, doch mitten darin blieb er stehen und äugte wie hilfesuchend umher. Der Grund dieses absonderlichen Gebarens lag, wie sich nachträglich herausstellte, darin, dass der Hirsch infolge einer vor wenigen Tagen durch einen Kugelschuss erlittenen innerlichen Verletzung krankte und endlich kraftlos bis hierher gewechselt war.

Radler war ein guter Schütze, und kaum hatte er seine Kugelflinte in Anschlag gebracht, krachte auch schon der Schuss, und der Augenschein bewies, dass es kein Fehlschuss war; denn der Hirsch brach im Feuer zusammen. Kaum sah dies Hupfer, sprang er auch schon etwas vorwitzig den Abhang hinab, dem Wasser zu und erhob sich nochmals. Da Hupfer und Wegbauer nun aber in der Schusslinie dahin sprangen, konnte Radler nicht mehr zum Schusse gelangen und musste so, zur Untätigkeit verurteilt, zusehen, wie die Sache verlaufen würde. Glücklicher Weise verlief sie im Großen und Ganzen noch immerhin glimpflich; denn der ohnehin schon fast ganz kraftlose Hirsch machte vergebliche Anstrengungen, das an dieser Stelle ziemlich hohe Bachufer zu erreichen. Immerhin hatte er aber noch Kraft genug, sich gegen das Ansinnen der inzwischen bei ihm angekommenen Männer, ihn beim Geweih zu fassen und niederzuringen, Widerstand zu leisten. Zwar gelang ihnen ersteres endlich doch, aber mit dem Niederringen hatte es seine guten Wege. Der Hirsch zerrte sie hin und zerrte sie her, so dass seine Feinde bald rechts, bald links hintaumelten und das Wasser an ihnen empor spritzte, und es war nicht abzusehen, wer bei diesem Ringen schließlich den Sieg davontragen werde. Der Hirsch war schwach, die Männer waren kräftig, aber ein Hirsch bleibt auch sterbend noch ein starkes Geschöpf, ein Mensch dagegen immer nur ein Mensch.

Hätten die beiden Männer nur noch eine kurze Spanne Zeit ausgehalten, wäre Radler ihnen durch einen aus nächster Nähe auf den Hirschen abgegebenen Fangschuss zu Hilfe gekommen; doch in ihrem Kampfe sahen sie nicht links und nicht rechts und dachten wohl überhaupt an nichts anderes mehr als daran, nicht zum Fall zu kommen, sondern vielmehr daran, dem Hirsche auf irgendeine Weise den Garaus zu machen. Dies war denn endlich auch Hupfers unrühmliches Verdienst. In seiner Todesangst versetzte er nämlich dem edlen Wilde in einem günstigen Augenblick, da es momentan Luft schöpfte und in seinem Bemühen, die Feinde abzuschütteln, innehielt, mit dem Schlegel einen so ausgiebigen Schlag auf das Haupt, dass es endgültig zusammenbrach und verendete.

Radler ärgerte sich zwar über diese ganz und gar unweidmännische Tat Hupfers; sie war aber bereits vollbracht, als er am Ziele war, und ließ sich nicht mehr ungeschehen machen.

So musste er sich denn mit einem Verweise und den Anordnungen, betreffend den Transport und die Einlieferung des Hirsches gegnügen.

Dem erhaltenen Befehle zufolge requirierten die beiden Männer im nächsten Dorfe ein Handwägelchen und schafften den auf zweifache Art »erlegten« Hirsch zunächst nach dem Forsthause und am nächsten Tag auf des Försters Anordnung in das zuständige Forstamt. Damit hatte diese merkwürdige Jagdepisode allem Anscheine nach ihren Abschluss gefunden.

Sie hatte aber noch ein ergötzliches Nachspiel, welches noch lange im Gedächtnisse »der Eingeweihten« blieb.

Zur selben Stunde, das der Hirsch im Forstamte eingeliefert wurde, befand sich zufälligerweise auch ein Dresdner Holzhändler, ein Herr Männle, beim Forstmeister, und beide eilten in den Hof hinab, um den gestreckten Hirsch zu besichtigen. Während der Forstmeister aufrechtstehend seinen Blick über den Zwölfender hinschweifen ließ, beaugapfelte Herr Männle, welcher bisher Hochwild nur von den Auslagenfenstern der Wildbrethändler her kannte, das Geweih des Hirsches mit großem Interesse und hockte schließlich sogar, um es besser sehen zu können, nieder. Hierbei schien er mit einem Male etwas ganz Besonderes entdeckt zu haben; denn plötzlich rief er, in wahre Ekstase geratend, dem Forstmeister zu: »Donnerwetter, alle Hochachtung! Nu, ne, ne, das ist Sie doch, weß Knebche, ja nich möchlich, mein kutester Herr Forstmeister? Da muss ich Sie, wes Jott, staunen! Solche Erfolge stehen da wohl enzig in die Jebirge Europas da? Oder kommt Sie so was och noch in andere Hochjebirgsreviere vor?«

Der Forstmeister, dem dieser aufgeregten Rede Sinn nicht ganz klar war, schmunzelte belustigt und versicherte endlich Herrn Männle, dass in den benachbarten Revieren noch viel mehr solcher Hirsche alljährlich erlegt würden.

Er ahnte nicht, dass er damit Herrn Männle unbedachterweise um fünfzig Mark brachte, denn kaum war dieser ein paar Tage wieder daheim in Dresden, erhielt er eine Depesche folgenden Inhalts:

»Bitte mir drahtwendend zu bestätigen, dass der Zwölfenderhirsch, den ich Montag in Ihrer Gegenwart besichtigte, der einhundertsiebenundsiebzigste in diesem Reviere und Jahre gewesen ist. habe deshalb um fünfzig Mark gewettet, und die Wette kommt nach Einlangung Ihrer Antwort zur Austragung. Berhard Männle«

Als der Forstmeister dieses Telegramm erhielt, sah er anfangs ganz verständnislos drein, dann begann er an deine Verstümmelung der Depesche zu glauben; doch auch das schien das Richtige nicht zu sein, da sie ja sonst ganz gut zusammenhängend und bis auf die ominöse Nummer 177 auch richtig sein dürfte. Als aber der Forstmeister der Sache auf den Grund ging, kam Klarheit in sie, und lachend depeschierte er schließlich:

»Bedaure das Missverständnis. Hirsche werden bei uns nicht nummeriert. Die Nummer 177 kam durch Zufall auf die Hirnschale des bewussten, schon tödlich verletzten Hirsches, und zwar durch einen Schlag mit dem Holznummerierschlägel. Näheres brieflich.«

In Hellwichs Restauration in Dresden gab es am selben Tage noch ein heiteres Gelage, bei welchem ein bekannter Forsttaxator eine großartige Rede über den Wildreichtum der »böhmischen Wälder«, Karl Moors Heimat, vom Stapel ließ und Herrn Männle eine lederne Medaille an die Brust heftete mit der Inschrift: »Heil Dir, Männle, Du Entdecker des Hirsches Nr. 177!«


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