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Der Arber-Werwolf

Wer Eisenstein, diese Perle des Böhmerwaldes besucht, versäumt es wohl selten, den Arber zu besteigen, denn man genießt vom Gipfel diese 1458 Meter hohen Berges eine herrliche Fernsicht. Der Blick des Wanderers schweift von da aus über ein unendliches Meer von Wald: vom Erzgebirge bis zu den Alpen.

Zur Zeit, als ich in Eisenstein als junger Lehrer wirkte, gab es am Arber noch keine gastliche Stätte, und wer oben nach mehrstündigem Marsche nicht halb verhungern wollte, musste sich schon im Markte mit Proviant versehen. Das zum Verständnis der nachfolgenden »Tragödie«. –

Es war an einem Hochsommertag, als ich mich einer größeren Gesellschaft anschloss, um wieder einmal dem östlichen »großen« Arber meinen Besuch abzustatten.

Wir waren unser einige Einheimische, mehrere Sommerfrischler und Touristen, unter Letzteren drei junge nud'lsaubere und zwei minder saubere, ältere Damen.

Die Männer und Jünglinge brachten ihren Proviant in den Überziehertaschen unter; (die Frühmorgenstunden und die Abendstunden sind im Gebirge auch im Sommer oft recht kühl, daher die Überzieher!), die Damen aber, welche etwas anspruchsvoller waren und sich nicht mit Butterbroten, Wurst und Käse begnügten, sich auch nicht mit ihren Mänteln selbst abschleppen wollten, nahmen sich einen Träger dazu mit, den Vinzenz Bredl.

Dieser Vinzenz Bredl war ein armer Kerl, seines Zeichens ein »Mädchen für alles«. Er arbeitete, wo man ihm Arbeit gab, verrichtete Botengänge, Fremdenführer- und Trägerdienste und so weiter.

Einheimische nahmen ihn zu Trägerdiensten nicht gern auf. Das Warum wird sich in der Folge der Begebenheit herausstellen.

Also, wir gingen miteinander. Miteinander heißt, die jungen Männer mit den jungen Damen, die älteren Herren mit den älteren Damen, hübsch zu Zweit alle. Schöne Gegend, schönes Wetter, schöne Gesellschaft, was will man noch mehr! Es war prachtvoll, und der dreistündige Weg schien uns – wenigstens uns Jungen – viel zu kurz zu sein, und die Zeit schwand dahin, wie sonst nie, jedenfalls viel schneller als in der Schule.

Fräulein Lola und ich gingen voraus. Sie war eine Pragerin, und da ich Prag seit meinem zwölften Lebensjahre kannte und erst vor Kurzem von dort gekommen war, gab's genug Anknüpfungspunkte für anregende Gespräche. In angemessenen Entfernungen folgten die anderen Paare, und ganz zuletzt ging der arme Vinzenz, ganz allein. Der blieb immer mehr zurück, und das war kein Wunder, denn der Vinzenz hatte nicht nur mehrere Mäntel, sondern auch zwei Flaschen Wein zu schleppen und eine Menge der verschiedensten Esswaren für die Damen und für sich. Auch für sich; denn die Damen wussten sehr wohl, dass auch der Träger nicht bloß von der guten Luft allein satt werden könnte und hatten ihm versprochen, ihm bei der Rast am Gipfel genug zu essen und auch (etwas) Wein zu trinken zu geben. Noblesse oblige. Übrigens, ohne dieses Versprechen wäre der Vinzenz überhaupt nicht mitgegangen.

Oben endlich angekommen, gab's zunächst Entzücken; denn das Panorama war wunderherrlich. Dann suchte man sich ein trautes Ruheplätzchen, und dann wartete man auf den Vinzenz.

Ja, der arme Vinzenz! Mehrere Mäntel, zwei Flaschen Wein und Pakete mit Brot, Kipfeln, Backhühnchen und anderen Nahrungsmitteln – da kann man nicht rennen, das ist klar.

(Wir Männer und Jünglinge hätten allerdings sofort essen und aus dem Quellbrunn trinken können; doch welch' eine Rücksichtslosigkeit wäre das gewesen, wenn wir vor den Augen der gewiss schon hungrigen Damen ausgepackt und gefuttert hätten. So was tut man nicht, und wenn auch der Magen noch so rebellisch wird.)

Endlich, endlich, kam der heißersehnte Mann in Sicht. Und man sah es ihm an, dass er müde und matt war; er torkelte schon förmlich vor Schwäche. Schließlich war er aber doch da; Viktoria!

Die Damen begrüßten ihn mit lachendem Gesichte. Vinzenz aber lachte nicht; er wusste jedoch auch warum.

»Mir is a groß' Malör passiert.« Mit diesen Worten leitete der Mann seinen Bericht ein, und dann fuhr er in diesem fort: »Zammg'gfalln bin i, derschlag'n hätt i mi bald; die eine Flaschn mit dem Wein is dabei hing'word'n, und der Wein is ausgeronnen.«

Den Damen schien das sehr unangenehm zu sein; ihr Mitleid mit dem »bald« Verunglückten war aber noch größer als ihr Leid über den guten Wein, und die eine der beiden alten Damen tröstete den Vinzenz mit den Worten: »Wenn Sie sich nur nicht mit den Scherben der Weinflasche verletzt haben; wir werden ja auch mit der einen Flasche unser Auskommen finden.« Als sie aber den Rucksack aufgeschnürt und seinen Inhalt ausgekramt hatte, wurde sie doch stutzig; denn es fehlten merkwürdiger Weise zwei Backhühner, einige Kipfeln, die halbe Wurst und sonst noch einige Fressalien, welche sie in denselben Rucksack vorsorglich hineingetan hatte.

»Ja, lieber Mann«, sagte sie deshalb zu diesem, »wo sind denn die zwei Hühner, die vier Kipfeln und die anderen Sachen hingekommen? Die toten Hühnchen können doch nicht auch »ausgelaufen« sein?«

»Tja«, antwortete der liebe Mann darauf, »wiss'ns gnä Frau, Sie hobn gesagt, i krieget auch mein Teil davon, und weil mir gar so viel gehungert hat, hab i mir derweil a a bissl was davon genomm'n. Der Hung'r is amol gor z'groß g'we'n, und wenn ma' schwar trogn muss, muss ma' was ess'n a.«

Die ganze Gesellschaft war starr, und Rufe wie »Unglaublich! Unverschämt!« wurden laut. Doch da war nichts mehr zu machen; man konnte dem Menschen nicht wie in der Fabel, den Bauch aufschneiden und die Hühnchen etc. aus dem Leibe nehmen. Ersatz fordern? Anzeigen? Lächerlich. Resigniert sagte die Dame, welche offenbar an allen anderen die Mutterstelle vertrat: »Nun, Sie hätten ja vielleicht doch noch ein wenig warten können und nicht gerade das Beste von allem für sich behalten brauchen.«

Der Vinzenz nickte bloß bejahend mit dem Kopfe, als ob er die Richtigkeit dieser Bemerkung jetzt auch einsähe und entfernte sich hübsch weit vom Schauplatze.

Dafür trat einer der älteren Herren, welcher schon Orts- und Sachkenntnisse besaß, zu der Dame hin und erklärte: »Gnädige Frau, hätte ich vor unserm Aufbruche eine Ahnung davon gehabt, dass Sie diesen Vinzenz Bredl zum Speisenträger erkoren hatten, ich hätte das nie zugegeben; denn er ist als ein Vielfraß bekannt, ein geradezu pathologisches Geschöpf und als solches sogar von Klinikern anerkannt. Er leidet stets an Hunger und kann unglaubliche Mengen von Nahrungsmitteln verschlingen. Hören Sie nur: Als die letzte große Unterhaltung im Wartesaale erster-zweiter Klasse am Grenzbahnhof stattfand, gab's da unter anderem auch ein »Museum vor der Kunst«, ein Raritätenkabinett usf. Und in einer Saalecke gab's einen Riesenverschlag, in dem der Vinzenz Bredl als »Urwaldmensch« am Boden kauerte und vom »Publikum« gefüttert wurde. Er verschlang dabei drei Kilogramm Schweinefleisch, zehn oder zwölf große Knödel, eine Schüssel voll Kraut, wie ein Wagenrad so groß, eine Schwinge voll Semmeln und noch vieles andere. Und als er damit fertig war, bat er noch um eine »Kleinigkeit« für Weib und Kind. – Die Tour hat ihm einen wahnsinnigen Hunger gemacht, er konnte sich nicht mehr halten, nahm sich seinen vermeintlichen Teil in Voraus und trank nach seinem Mahle, von Durst gequält, die eine Flasche Wein aus. Wasser fand er so schnell keins.« –

Nachdem die »Übebleibsel« für die fünf Damen nicht reichten, teilte ich meine Ration mit Frl. Lola, Freund M. mit Frl. Mitzi usf., und der Schluss der Geschichte war, dass am Ende der Sitzung für Vinzenz Bredl und Familie eine Kollekte stattfand, und die Freude des armen Vinzenz über das viele Geld war so groß, dass sich hierdurch die »Tragödie« schließlich für alle noch zu einem allseits befriedigenden, heiteren Schauspiele gestaltete.

So wenig aber dazumal der Vinzenz von dem »Vorschuss« satt geworden ist, so wenig wohl auch selten später einmal; denn im Wartesaale des Eisensteiner Grenzbahnhofes gab es keine Fütterung von »Urwaldmenschen« mehr. Vielleicht, weil's zu teuer kam. –


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